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Terézia Mora - Radikal bis zur schmerzhaften Wahrhaftigkeit

Térezia Mora erhielt für ihr Buch „Das Ungeheuer“ den deutschen Buchpreis 2013. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller erklärt, was Moras Texte einzigartig macht

Autoreninfo

Lange-Müller, Katja

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Der Text erschien in der Herbstausgabe 2013 von „Literaturen“. Die Zeitschrift für Leser liegt der aktuellen Ausgabe des Cicero bei.

 

 

 

 

Terézia Mora ist für mich diejenige unter meinen Autorenkolleginnen und -kollegen, die mich am meisten an- und aufregt – im besten Sinne. Was immer sie schreibt, es lässt mich nie, niemals kalt. Denn Mora ist in ihrer ganzen Haltung, insbesondere in ihrer literarischen Haltung, eine radikale Humanistin und eine fast ebenso radikale Stilistin, die, wie ich es sehe (und ihre Texte laut lesend auch vernehme), beim Schreiben allein auf ihre Protagonisten hört; denen, erst einmal nur denen, sucht sie so nahezukommen wie irgend möglich, also bis zur äußersten und innersten Wahrhaftigkeit, einer selbst für mich, ihre Leserin, oft schmerzhaften.

Es gibt bei ihr Sätze, die mich umhauen, etwa diesen: «Ich schäme mich, ein Mensch zu sein.» Leider kenne ich ihren neuesten Roman «Das Ungeheuer» noch nicht zur Gänze, aber ansonsten alles, was sie bislang veröffentlich hat. Und weil zum Vorgänger-Roman des «Ungeheuers» jener mit dem Titel «Der einzige Mann auf dem Kontinent» gehört wie der eine Flügel eines Falters, in dem Fall eines Nachtfalters, zum anderen, will ich hier von diesem Lektüreerlebnis erzählen.

Namen als Teil von Moras literarischem Konzept


Der einzige Mann auf dem Kontinent ist, laut seiner eigenen, großspurigen Auskunft, Darius Kopp, der im Osten Deutschlands aufgewachsene Sohn eines Polen mit Ingenieursdiplom und Unternehmergeist, den Darius Senior allerdings erst nach dem Mauerfall recht erfolgreich einem realen Geschäft einzuhauchen vermag. Auch Darius Juniors – vom Senior verlassene – Mutter Greta, eine lieblose, dafür fortwährend klagende, vor allem Sohnesliebe einklagende, nur an ihren echten und eingebildeten Krankheiten interessierte alte Schachtel sowie dessen dünne, nichts auf die Reihe bekommende, ewig klamme Schwester sind Teil des Soziotops, dem dieser 106-Kilo-Prachtkerl entwachsen, aber noch immer nicht ganz entronnen ist. Denn erstens hat sein Londoner Kollege, der Westeuropavertreter Anthony Mills, ein «Deutschenhasser», der fies genug ist, den nichts Böses ahnenden Darius ein wenig zu mobben, die lukrativen Märkte und jener die «miesen», und zweitens «wird der Deutsche und der Ossi niemals Chef», wie es im Roman heißt.

Trotzdem gehört Darius Kopp nicht zum Heer der scheinselbstständigen Selfmade-IT-Spezialisten, die all die zahllosen Web-Seiten ebenso zahlloser Wer-Weiß-Was-Anbieter gestalten oder betreuen und auf deren soziale Situation der nun auch schon im neuesten Duden nachschlagbare, einigermaßen drollige Begriff «Mausbeutung» zutreffen mag. Der Rufname Darius, und die Namen sind bei Mora ja stets Teil des literarischen Konzepts, stammt aus dem Altpersischen und bedeutet «das Gute besitzend». Jener Darius mit dem Familiennamen Kopp, den sie zum fragwürdigen Helden dieses Romans ernannte, macht sich aber so gar keinen Kopp über das Leben, sondern vertraut ihm, da er sich als Sonntagskind versteht, blind.

Er hat Informatik studiert, wie sein Vater ein Ingenieursdiplom, die New-Economy-Krise der Jahrtausendwende glimpflich überstanden, in Flora Meier seine große Liebe gefunden und ist nun «regional sales manager» einer weltweit operierenden, aus allerlei Pleiteunternehmensresten zusammengeflickten, dementsprechend undurchsichtigen US-amerikanischen Firma. Für diesen nicht nur wegen der Zeitunterschiede irreal schwer erreichbaren kalifornischen Laden, dessen Kernkompetenz eigentlich die Verbesserung der Kommunikation ist, verdealt Darius, ganz allein zuständig für den gesamten osteuropäischen Raum, mäßig erfolgreich, doch unbeirrbar zuversichtlich Computernetzwerk-Komponenten. 

Über Stadtindianer und Würde an der Bar

Seine Tage gehen dahin mit Anrufen, die ins Leere laufen, mit unerwiderten E-Mails und selbstvergessenem Surfen im Welt-Weit-Web, mit dem Trinken vieler Cappuccinos, O-Säfte, Biere, Rotweine, dem Verschlingen von Steaks, Sushi und Kuchen, mit Socken- und Hemdenkäufen, dem wunderbar komisch geschilderten Probeliegen auf einem Massagesessel, mit schweißtreibenden Reisen via öffentliche Nahverkehrsanstalt, mit Kneipentouren an der Seite seines Spezis Juri, den Besuchen bei seiner nöligen Mutter oder der schwer schuftenden Flora und – nicht zu vergessen – mit etwas Sex.

Darius Kopp präsentiert sich uns als sanftmütiger, großzügig-schlampiger, etwas infantiler, konsumfreudiger, mit einer Art angeborenem Optimismus gleichermaßen begabter wie geschlagener, im Hier-und-Heute aufgehender Stadtindianer, der sehr an seiner nach der altrömischen Frühlingsgöttin und – Flora/Mora – ein wenig wohl auch nach der Autorin benannten Ehefrau hängt, einer ihm so gar nicht seelenverwandten, extrem empfindsamen, alles und am meisten sich selbst infrage stellenden, dennoch praktischen, ihrem Namen entsprechend der Botanik zugetanen Ungarin, die es trotz Literaturstudiums und guter Sprachkenntnisse vorzieht, in einer Stadtstrandbar zu kellnern, weil sie meint, ihre Würde dort eher wahren zu können als im Frondienst bei einem dieser umtriebig-arroganten Medienschaffenden aus sämtlichen Weltgegenden, die Berlin bevölkern wie Kiefern die Mark Brandenburg, oder beim lausig bezahlten Übersetzen von ambitionierten Theaterstücken.

Wir Leser begleiten Darius, seine Kumpel, seine Familie, seine Frau, mit der er gerne ein Kind hätte, und nicht zuletzt einen Karton voll – erschreckenderweise echten – Geldes im Wert von 40.000 Euro, den armenische Kundschaft abgegeben hat am Tresen des Businesscenters, in dem auch Darius eine Karnickelbuchte unterhält, die er sein «Büro» nennt; wir begleiten ihn von einem September-Freitag bis zum folgenden, über acht Tage und Nächte, durch eben jene Woche, die der Roman währt und an deren Ende Darius eine Asthma-Attacke erleiden, sich davon aber schnell wieder erholen, seinen Führerschein zurückbekommen und die Baranzahlung der Armenier spurlos verschwunden sein wird.

Kommt die Katastrophe?

Seinen Job ist er ohnehin los, und zwar schon seit jenem Freitag, mit dem der Roman beginnt; das begreift Darius, der sich – wie weiland Voltaires Candide – in der besten aller möglichen Welten wähnt und dem es lange glückte, jedes noch so deutliche Indiz für das Gegenteil zu ignorieren, jedoch erst, als Stinkstiefel Anthony, der Londoner Kollege, ihm dies unmissverständlich sagt, am Handy, im Auto, während unser armer Held unterwegs ist – zu Mutter, Schwester und Pflaumenkuchen –, dann heim zu Flora.

Aber Flora, die Darius, der widrigen Umstände wegen und in der ihm eigenen chaotischen Egomanie, mal wieder stunden-, ja taglang ohne jede Nachricht gelassen hat, ist entwichen, ins Grüne, zu Freundin Gaby. Nach einem Anfall von Menstruations- oder gar Fehlgeburtsschmerzen und abgrundtiefer Verzweiflung floh Flora, eh schon durch eine vollbusige Ukrainerin ersetzt, das Strandcafé und anschließend das gemeinsame Zuhause, also die – bislang immerhin physisch mögliche  – Nähe ihres selbst anwesend meist abwesenden, um Beistand so fatal verlegenen, völlig konfliktunfähigen Ehemanns. Nur dies, ein Leben ohne sein bestes und Gegen-Stück Flora, wäre die ultimative Katastrophe für Darius, eine, die ihn komplett aus der Bahn würfe.

Kommt es so weit, ist es schon so weit? Kann Darius es noch verhindern? Sich ändern, womöglich? Der Roman schließt offen, mit dem kursiv gedruckten Satz «Die Nacht».

Figuren wurzeln in der Luft

So viel oder wenig zum Inhaltlichen; denn ich kann das personale Spektrum, die Unterschiedlichkeit der Ebenen, den Reichtum an Dissonanzen, ja, Antagonismen in und zwischen den Protagonisten hier nur gerafft und aus meiner Sicht darstellen. Doch wie ist dieses Buch geschrieben?

Obwohl sich dessen Held, Darius Kopp, sehr von Abel Nema, dem Helden ihres großen Erfolgs «Alle Tage», unterscheidet, ist auch «Der einzige Mann auf dem Kontinent» sozusagen Mora-spezifisch. Wieder steht ein Mann im Fokus der Aufmerksamkeit, wieder sind die Figuren Luftwurzler, die es von woandersher in die große Stadt Berlin geschwemmt hat, wieder geht die Autorin übers realistische Erzählen weit hinaus und strickt, diesmal allerdings buchstäblich, Netzwerke, in denen sich ihre Figuren verfangen, wieder suchen sie – schwankend auf doppeltem und dreifachem Boden – nach Wegen und Auswegen und finden: Umwege, Abwege, Irrwege.

[gallery:Homage to Berlin]

Aber Darius Kopp, wenigstens der, ist ein schlichteres Wesen als Abel Nema, und neben der personal erzählenden Stimme gibt es Darius’ Gedankenstimme sowie Dialoge zwischen den Protagonisten und dann noch eine, mindestens eine, auktoriale, nun wirklich gottähnlich allwissende Erzählstimme, die sich situativ einschaltet, um – über Szenen hinwegspringend, mal gnadenlos nüchtern, mal spöttisch, mal resigniert – zu kommentieren, was geschieht, was Darius meint, vermutet, plant und dann viel zu oft dennoch bleiben lässt. Hinzu kommt, dass die Perspektive immerfort wechselt, von innen nach außen, von einem Tempus in das andere, gelegentlich sogar im selben Satz. Erstaunlicher-, ja, bewundernswerterweise funktioniert das nicht nur, sondern erweist sich als unerlässlich, denn so steht der dicke Darius unter sozusagen multipler Beobachtung und gewinnt die fast schon virtuelle Geschwindigkeit, mit der er durch das Buch und seine, ihm selten bewussten, Missgeschicke surft.

Terézia Mora, diese sensible Schriftstellerin

Die Zeit, die flüchtige, ungenutzte, unwiederbringliche, mal langsamere, mal dahineilende, mal fehlende, nie und für nichts ausreichende Zeit ist eines der stilprägenden Leitmotive des Romans, eben weil Terézia Mora, diese sensible, intelligente, mutige Schriftstellerin, uns klar zu machen vermag, dass auch wir irgendwie Dariusse, Floras, Gretas oder Juris sind und dass die gnadenlos verrinnende Zeit, die nur im Traum und in Momenten großen Glücks oder großen Leids einmal stillzustehen scheint, ein elementarer Teil unserer «Ächzistenz» ist, eines Da-Seins mit unbekanntem biologischen Verfallsdatum, das aus allen Nähten platzt, uns quält mit Terminen und Aufgaben, die wir kaum bewältigen, mit Strömen von Informationen, die wir nicht mehr verarbeiten können.

Ja, wir alle sind Zeit-Genossen, die kämpfen, wie Darius oder Flora, mit den stetig schwindenden Resten der einen oder anderen Vorstellung von gelingendem Leben, die wir jeden Tag mehr aufgeben, denn jeder dieser von wem auch immer gezählten Tage hat nur 24 Stunden, wie wir uns sagen, oft und doch nicht völlig verzweifelt, noch nicht.

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