- Sie werden Ihr lila Wunder erleben!
Wie internationale Künstler und Lokalmatadore 2025 einen Kunstparcours um Chemnitz bespielen
Das Chemnitzer Umland war nicht nur früh, sondern wiederholt für Wunder gut: Im 12. Jahrhundert löste die Kunde von Silbererzfunden im erzgebirgischen Freiberg eine wahre Goldgräberstimmung aus. Fünfhundert Jahre später ließ die Entdeckung der weltweit größten Kobalt-erzvorkommen bei Schneeberg die Bergleute vom „blauen Wunder“ schwärmen. Schließlich konnte man mit diesem Mineral nicht nur hitzebeständigen Stahl herstellen, sondern auch Porzellan und Glas färben. Doch spätestens mit dem Aus des Uranabbaus kurz nach der Wende sind die Wunder im Erzgebirge vorerst rar geworden. Deindustrialisierung und Transformationszwang eigneten sich nicht wirklich für ein neues Berggeschrey.
DIE ERZGEBIRGS-REGION DURCH KUNST SICHTBAR MACHEN
Kein Wunder, dass da Gerüchte von einem sagenumwobenen lila Pfad in Sachsen mehr als hellhörig werden lassen. Schließlich soll bis 2025 nichts Geringeres als Europas größter Kunstparcours in den Umlandgemeinden der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt entstehen. Man munkelt, dass sogar der amerikanische Installationskünstler James Turrell Licht in das Erbe hiesiger Bergbaukultur bringen soll. Besonders diese kühne Vision aus dem zweiten Bewerbungsbuch für die Kulturhauptstadt Chemnitz hat es dem Bürgermeister Bernd Birkigt aus dem südsächsischen Oelsnitz angetan: „Wenn das nach Oelsnitz kommt, da weiß ich als Nicht-Kunst-Verständiger, wie ich den Menschen das begreiflich machen soll, schließlich hat der Bergmann, der nur am Sonntag das Licht gesehen hat, eine ganz besondere Liebe dazu.“ Birkigt wollte den Mann, der sich das ausgedacht hat, unbedingt kennenlernen. Schließlich hatte auch er sich mit einer Allianz von willigen Kollegen an der Bewerbung beteiligt, wollte man die Kulturhauptstadtbesucher durch ein ausgeklügeltes Nahverkehrsnetz ins Chemnitzer Hinterland locken. Die Region sichtbar, ja erfahrbar zu machen, das war sein Ziel. Aber was die europäischen Gäste dann erleben sollten, dafür fehlte schlichtweg das Konzept.
DER PURPLE PATH – EIN GEMEINSAMER WEG IN DIE ZUKUNFT
Mitten im ersten Lockdown war er dann da, der Pfad-Erfinder Alexander Ochs, der als Kurator des Purple Path den Osten am Fuße des Erzgebirges erkunden und bekunsten will. Der Annaberger Bergaltar, 1521 finanziert von schmalen Wochenpfennigen der Bergleute, sei sein persönliches Initiationsmoment gewesen. Der 68-jährige, zwischen Berlin und Chemnitz lebende Franke, will lernen von dieser reichen sächsischen Kultur. Und er will etwas zurückgeben. Erfahrungen, die er gesammelt hat, etwa in China, wo Ochs Galerien betrieb, und von wo er Künstler nach Europa holte.
Aber wie bringt man nun abstrakte, ja gewöhnungsbedürftige Kunst von internationalen Stars wie Tony Cragg oder Sean Scully, Alicja Kwade, Nevin Aladağ oder Rebecca Horn in eine Region, in der doch alles vom Berg her kommt? Birkigt zeigt Ochs sein Bergbaumuseum, das an die einstige Steinkohleförderung erinnert. Die Landmarkenskulptur, die schon heute von der 17 Meter tiefen Absenkung der Region erzählt. Welche lokale Geschichte hat das Potentzial für internationale Kunstgeschichten? Mit dieser Frage im Kopf begeben sich diese zwei Männer Anfang 2020 auf einen ersten Erkundungsweg. Mögliche Wegmarken des Kulturparcours sind zu diesem Zeitpunkt rein virtuell. Vielleicht sind es zum Schluss weniger konkrete Haltepunkte als die Haltung, welche den Purple Path als solches ausmacht. Auf jeden Fall sei er eine Chance, ein Weg, der uns alle gemeinsam auch verändern darf und soll, so Birkigt.
Der bürgermeisternde Regionalmanager wird zum Motor des Ganzen, gibt Ochs gehörigen Vertrauensvorschuss, gründet einen Förderverein, sucht nach potenten Partnern. Die sind im Osten aus historischen Gründen rar. Aber Oelsnitz hat Glück. Einige Grundstücke hinter dem ehemaligen Schachtgelände gehören der Tutzinger Unternehmer-Familie Marianne und Frank-Michael Engel. Nach der Übernahme des ehemaligen VEB Robotron haben sie viele Sanierungsprojekte ermöglicht sowie durch ihre Stiftung maßgeblich für das letzte mittelgroße Wunder im Erzgebirge mitgesorgt: die erfolgreiche Bewerbung um den UNESCO-Welterbetitel Montanregion im Jahr 2019. Und was wird 2025 sein? Die Oelsnitzer Fabrikhalle der Engels böte auf jeden Fall einen idealen, ja wundervollen Platz für Turrell!
FISCHELANTE EIGENINITIATIVE FÖRDERN – ERSTER MAKERS DAY IN AUE
Doch kulturelle Leuchtturmprojekte sind auch nicht die Wunderwaffe schlechthin. Das hat man besonders im Osten inzwischen begriffen. Deswegen pochen Birkigt und seine Allianz der Willigen von Anfang an darauf, dass man sich in der Region nicht ausschließlich mit dem kuratierten Kunst- und Kulturpfad beschäftigen wolle, sondern dass man etwas suche, wo sich die Menschen selbst einbringen und wiederfinden können. Und da die Erzgebirgler bekanntlich mit den Händen denken, sind hier natürlich (Kunst-)HandwerkerInnen und UnternehmerInnen gefragt. Doch wer sind die neuen lokalen Macher, die an der Zukunft tüfteln? Um das herauszufinden, wird im Sommer 2021 zu einem ersten Makers Day am Purple Path in der Wismut-Stadt Aue getrommelt. Hier tauschen sich Handwerker mit Faible für Holz, Textil oder Digitales mit Schriftstellern, Künstlern und Köchinnen aus. Der Verein Kreatives Sachsen stellt seine Idee für sogenannte Maker Hubs vor.
Auch wird über einen möglichen Beitrag von Andreas Mühe diskutiert: Ob der in Chemnitz geborene, heute international bekannte Künstler mit roten Leucht-sternen in der Wismut-Folge-Landschaft an den Uranabbau unter sowjetischer Ägide erinnern soll – da war man sich im Nachhinein nicht so sicher. Aber dennoch: Der viel beschworene Bottom-up-Prozess, die lang ersehnte Emanzipation der Region, sie beginnt spätestens hier in Aue. Kurator Ochs ist geflasht von der geballten Kreativität des Publikums, das sich sogar zu einem Flashmob des Bergsteigerlieds bewegen lässt. Mit sechs Leuten, die er in Aue kennenlernt, arbeitet er mittlerweile am Purple Path zusammen. Unter anderem dabei: Ines Herold, die mit ihrer Entrepreneurs-Familie in Lugau bei Oelsnitz nicht nur selbst Wasserstoff zum Heizen gewinnt, sondern die für einen ganzheitlichen Austausch zum Landleben 4.0 gerade ein eigenes Zukunftshaus gebaut hat. Menschen wie Herold sind laut Ochs der Humus der Region, ihre fischelante Art (sächsisch für „clever“) mache das Erzgebirge aus. Und deswegen sollen diese Maker Teil der Purple-Path-Topografie werden.
HIDDEN DDR – SOZIALISTISCHES ERBE IN OELSNITZ WIEDERBELEBT
Ein wahrer Flow sei entstanden, so jedenfalls erinnert es auch Kristina Ebert, Kultur-Referentin von Aue, die den ersten „Makers Day am Purple Path“ mitorgansiert hat. Dass die Gestaltung des Purple Path ansteckend sein kann, weiß sie nur zu gut. Hatte Ebert 2019 in Aue noch erste Plakate zur Unterstützung der Kulturhauptstadtbewerbung gedruckt, wechselt sie nun zu Bürgermeister Birkigt nach Oelsnitz und wird die dortige Kulturszene als neue Klubhaus-chefin mitgestalten. Ganz partzipativ, versteht sich. Schließlich ist es nicht die Stadtverwaltung, die eine Stadt ausmacht, sondern die Menschen. Ihr neues Domizil, so schwärmt Ebert, ist ein 50er-Jahre-Schmuckstück in Stalinbarock samt samtig bezogener Tanzbar, die selbst in der retrotrendbewussten Hauptstadt ihresgleichen sucht.
Das einstige Bergarbeiter-Kulturhaus Hans Marchwitza ist somit ein Unikat unter insgesamt 2500 sozialistischen Kulturbauten, die nach der Wende oft verpönt und verlassen wurden, sich jedoch aufgrund ihres identitätsstiftenden Potenzials besonders im ländlichen Raum zunehmend einer Wiederbelebung erfreuen. Für Birkigt ist diese Neubesetzung ein wichtiges Zeichen, schließlich seien viele kulturelle Dinge, die in der jungen DDR entstanden sind und zum Leben dieses Teils der Gesellschaft dazugehören, spurlos verschwunden, würden nicht erinnert, geschweige denn weiter-entwickelt. Alexander Ochs spricht angesichts dieser Liquidierung von DDR-Kulturbiografien sogar von einer Art kultureller Treuhand. Gemeinsam mit seinem Team der Kulturhauptstadt 2025 und dem neuen Geschäftsführer Stefan Schmidtke sei man dabei, die aus 1989 resultierende Ambivalenz zu reflektieren. Jenseits (n)ostalgischer Kleingeistigkeit versteht sich. Kristina Ebert, die von einem Austauschjahr in Südafrika Weltoffenheit und Toleranz vom Tafelberg mit nach Hause an den Aueschen Glees-Berg gebracht hat, scheint dafür jedenfalls ein Garant. Sie will ihre neue Wirkungsstätte Marchwitza zum regionalen Hotspot am Purple Path machen. Ob sich Andreas Mühe, wie Ebert ebenso ein Vertreter der sogenannten Wendegeneration, für ihr Haus einen neuen Entwurf einfallen lassen wird?
SEEING THE UNSEEN – WELTOFFENHEIT & TOLERANZ IN MITTWEIDA
Das Erzgebirge, so Andreas Mühe, ist eine sehr eigene Region. Man müsse sie mit eigenen Augen gesehen haben. Erst recht als Künstler. Deswegen ist er auch dabei, als im Spätsommer 2020 internationale Künstlerkollegen auf Einladung von Alexander Ochs und Bernd Birkigts Allianz der Willigen nach Sachsen kommen. Zum ersten Mal proben acht Bürgermeister ihre Rolle als Gastgeber, bringen etwa Fotografen und Bildhauer aus Österreich, der Türkei und Russland ihren Heimatkosmos nahe. Eine nicht unwichtige Geste in einem Landkreis, in dem die AfD zur Bundestagswahl 2021 mit 30 Prozent die stärkste Kraft werden sollte. Auch für Ralf Schreiber, Bürgermeister im mittelsächsischen Mittweida, war dieser Termin Neuland, doch er schätzt den Purple-Path-Mix aus lokaler Eigeninitiative und internationaler Professionalität. Sein anfänglicher Zweifel, ob man hier was übergestülpt bekommen würde, das man einfach schön finden müsse, hat sich gleich beim ersten Treffen zerschlagen.
Denn schon da kommen der Lokalhistoriker Jürgen Nitsche und der israelische Fotograf Benyamin Reich in ein folgenreiches Gespräch über die jüdische Geschichte Mittweidas. In der einstigen Textilindustriemetropole lebten nämlich von 1870 bis 1938 mehr Juden als im restlichen Chemnitzer Umland. Zudem sind sie aktiv in der Stadtgesellschaft verankert, ihre Vertreibung 1938 ist ein kultureller Verlust ohnegleichen. Seine Recherchen hat Nitsche in einem 600-seitigen Buch veröffentlicht, finanziert von der Stadt. Ein Glücksfall das allein. Aber dass diese Vorarbeit nun sogar Grundlage einer künstlerischen Arbeit mit internationaler Ausstrahlung, dass lokales Wissen ästhetisch aufgewertet wird, das erscheint die ideale Einlösung des Kulturhauptstadt-Claims „C the Unseen“. Ungesehenes oder Verdrängtes sichtbar zu machen.
Benyamin Reich, der seit Jahren jüdisches Leben in Deutschland fotografiert und etwa die Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge in Halle porträtierte, plant in Mittweida ein groß angelegtes Gruppenprojekt. Unter dem Titel „Die Dritte Generation. Der Koffer bleibt hier“ möchte er mit 30 weiteren KünstlerInnen die jüdische Vergangenheit erforschen. In seiner Vorstellung wird es am Ende abstrakte Kofferskulpturen im öffentlichen Raum und vielleicht auch eine Idee davon geben, wie eine gemeinsame Zukunft von Deutschen und Juden aussehen kann. Ein dreitägiges Symposium im September soll darauf vorbereiten. Am Technikum Mittweida. Schließlich hat sich die Hochschule besonders um Juden verdient gemacht. Im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Hochschulen und Universitäten wurden hier noch 1936 jüdische Studierende immatrikuliert.
SPIRITUELLE BASIS – EIN KOLLEKTIVER BESINNUNGSWEG
Inzwischen ist Mai 2022, die Kulturhauptstadt GmbH ist installiert. Und mit ihr der Geschäftsführer Stefan Schmidtke aus dem sächsischen Döbeln, der nun seine Erfahrung vom internationalen Kultur-Parkett mit zurück in die Heimat bringt. Erstmals gibt’s auch Budgetzahlen für Ochs und sein fünfköpfiges Team, müssen die mehr als zahlreichen Projektideen mit der Realität abgeglichen werden. Um bei allem nicht den Überblick zu verlieren, scheint es wie eine Fügung, dass nun Seelsorger Holger Bartsch das neubezogene Büro in der Chemnitzer Innenstadt mit Ochs teilt. Er hat den einstigen Jugendpfarrer explizit zum Purple Path dazugeladen, weil er der Meinung ist, dass Kirchen eine künstlerisch und kulturpolitisch weitgehend ungenutzte Ressource sind in diesem Land. Und gerade im Erzgebirge, wo 40 Prozent der Menschen gläubig sind, sei das ein Frevel.
Deswegen müssten sich die Kirchen ihrer kulturellen Kraft bewusst werden und damit verantwortungsvoll an eine breite, auch nicht oder anders gläubige Öffentlichkeit treten. Dafür eignet sich der Purple Path in Bartschs Augen besonders gut, ist er doch vom Kunst-in-Kirchen-Spezialisten Alexander Ochs von Anfang an als Pilgerweg gedacht worden, darf man hier durch Kunstbetrachtung im besten Fall zu sich selbst finden. Besinnung und Buße, Umkehr und Neubeginn, dafür steht schließlich auch die Farbe Lila im Kirchenjahr. Und so koordiniert Bartsch als frischgebackener Kulturhauptstadtpfarrer 2025 nun die kirchlichen Aktivitäten dieses Großevents, organisiert er mittlerweile die 4. Europäische Bergpredigt am Rande des Purple Path und öffnet seine Gemeinden für Pilgergäste und ungewöhnliche Interventionen. Neu zu lernen, die Leute aufzuwecken, das sei jetzt die Chance.
KEIN WEG IST ZU WEIT – DAS ERZGEBIRGE IM WELTALL
160 KünstlerInnen hat Kurator Alexander Ochs gemeinsam mit lokalen Kuratoren für den Parcours bereits begeistern und engagieren können, davon 70 aus dem Erzgebirge und Sachsen. 36 Kommunen haben sich der Idee inzwischen verschrieben. Sie alle stehen in den Startlöchern und mit ihnen eine ganze erwartungsvolle Region. Aber wo der Purple Path zum Schluss genau entlang- oder hinführen wird, das kann drei Jahre im Voraus keiner der Beteiligten so wirklich sagen. Wer allerdings das Wunder vollbracht hat, einen Füchtnerschen Nussknacker aus Seiffen auf die ISS-Raumstation zu schießen und vom All aus ein Signal aus der sächsischen Provinz an die ganze Welt zu senden, dem ist jedenfalls noch viel zuzutrauen.
Kontaktadresse für weitere Informationen: kultur@c2025.eu
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol. Die Inhalte sind auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts zur Verfügung gestellt.
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