- Wenn politische Korrektheit blind macht
Kisslers Konter: Polizei und Stadtverwaltung gingen in Rotherham nur zögerlich Hinweisen auf die ethnische Herkunft von mutmaßlichen Vergewaltigern nach – aus Angst, als Rassisten hingestellt zu werden. Befürworter und Gegner der Political Correctness sollten endlich ihre Scheuklappen ablegen, um unserer Demokratie Willen
Die Kritik an der politischen Korrektheit ist oft ebenso ritualisiert wie diese selbst. Man regt sich auf, weil man daran gewöhnt ist, und man treibt auch die Sprachspiele voran, weil man daran gewöhnt ist. Keine Seite will klein beigeben, doch letztlich sitzen die Sachwalter des Korrekten in Politik, Medien und Justiz am längeren Hebel. Sie haben das größere Geldpaket und manchmal auch den größeren Argumentationsschatz. Denn war es nicht wirklich einmal eine gute Idee, den Vorurteilen in den Köpfen den Kampf anzusagen?
Nun aber könnte ein Scheitelpunkt erreicht sein. Bisher gab es vielleicht nur die Ahnung, dass im Bemühen um Gerechtigkeit die jeweilige Minderheit bevorteilt statt gleichbehandelt werden solle. Nun gibt es Rotherham. Die englische Stadt steht seit vergangener Woche für Scham und Entsetzen. Zwischen 1997 und 2013 wurden dort mehr als 1400 Kinder, Mädchen vor allem, Opfer sexueller Gewalt. Bandenmäßig seien die Vergewaltigungen organisiert gewesen. Immer wieder gab es Hinweise, Anschuldigungen, Opferberichte. Polizei und Stadtverwaltung taten wenig bis gar nichts – aus Gründen politischer Korrektheit.
Die Hilfeschreie wurden mutwillig überhört
Der Deutschlandfunk berichtet von einigen misstrauisch gewordenen Staatsbediensteten, die „sich offenbar nicht trauten, ihre Beobachtungen weiter zu geben, aus Angst, hinterher als Rassisten hingestellt zu werden. Denn die Beschuldigten kommen nahezu allesamt aus der pakistanischen Gemeinde.“ Fast wortgleich heißt es an anderer Stelle: „Einige Missbrauchsopfer hatten ihre Peiniger als ‚Asiaten‘ beschrieben. Aus der Furcht heraus, als Rassisten zu gelten, seien die Ordnungskräfte diesen Hinweisen auf die ethnische Herkunft der Täter jedoch nicht oder nur zögerlich nachgegangen.“
Vermutlich hätten dieselben Beamten sehr genau hingeschaut, hätte sich dergleichen im Umfeld der anglikanischen Kirche, der britischen Marine oder eines Golfklubs für reiche Weiße ereignet. So aber wurde Jahr um Jahr – Untersuchungsberichte datieren immerhin auf 2002, 2003 und 2006 – das entsetzliche Leid der Kinder bagatellisiert, wurden die Hilfeschreie mutwillig überhört, wurden die Opfer allein gelassen, weil die vermutlichen Täter den berühmten Migrationshintergrund hatten. Dieses Kollektivversagen hat mit Gerechtigkeit nichts, mit Feigheit sehr viel zu tun.
Es ist töricht, um bestimmte Bevölkerungsgruppen einen Cordon zu ziehen
Dabei besagt die mühsam errungene Gleichheit vor dem Gesetz genau dies: dass niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf aufgrund seines Aussehens, seines Herkommens, seines Geschlechts oder seines Glaubens, seines Vermögens oder seiner Armut. Der Mensch darf im demokratischen Zeitalter nur für seine individuellen Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Darum ist es töricht, um bestimmte Bevölkerungsgruppen einen Cordon zu ziehen und etwa, wie es sich auch in deutschen Großstädten eingebürgert hat, bei Gewalttätern mit, wie es früher hieß, „fremdländischen Zügen“ auf Bebilderung zu verzichten, oder aus Personenbeschreibungen jene Hinweise zu eliminieren, die eine ethnische Zuordnung ermöglichen.
Hinter den demokratischen Konsens fallen beide Parteien zurück: wer das üble Zerrbild vom „kriminellen Ausländer“ propagiert und wer in den Zugereisten und Eingewanderten nur schutzbedürftige Lämmchen sieht. Es ist an der Zeit, beide Scheuklappen abzulegen. Damit aus unseren Republiken wieder Demokratien werden.
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