Kurz und Bündig - Ruth Schweikert: Ohio

Adrian, ein junger Vater im bes­ten Mannesalter, kehrt am frühen Abend zu seiner Fa­milie zurück.

Adrian, ein junger Vater im bes­ten Mannesalter, kehrt am frühen Abend zu seiner Fa­milie zurück. «Er betrat die Wohnung und blieb im Flur stehen, jäh überwältigt vom Glück, daß sie eine Familie waren.» Doch schon schwenkt der Roman, der von der möglichen Wirklichkeit des Glücks erzählt, in den Modus der Vorstellung, vielmehr: eines enttäuschten futurum exactum – vom Glanz gelingenden Daseins profan erleuchtet, stellt Adrian sich vor, was alsbald geschehen sein wird. Er «würde» seine Frau Merete um­armen und den Nacken seines kleinen Sohnes küssen, «der nach sonnengetrocknetem Holz roch und nach Gegenwart, so sehr nach Gegenwart, daß es beinahe weh tat.» Was dann geschieht, tut tatsächlich weh. «Ihr habt eine schöne Wohnung (…), du arbeitest an deiner Diss und schreibst deine Artikel (…), die Kinder sind gesund, hübsch und aufgeweckt. Mehr kann man vom Leben wirklich nicht verlangen.» Diese abgeklärten Worte sagt kein anderer als der Geliebte von Merete. Der zwanzig Jahre Ältere warnt die junge Mutter, die ihm in einem amour fou verfallen ist, vergeblich vor sich selbst. Die junge Ehe zerbricht. Doch bevor sie zerbricht, verdichtet sich das Leben Meretes und Adrians in einem Erinnerungsstrom. Seinen eigentümlichen Reiz bezieht er daraus, dass hier selbst die Geschichten des Schei­terns und der Beschädigung von der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Lebensrät­sel erzählen. «Padewantell» hörte die sechsjährige Merete wiederholt, wenn die Eltern sich stritten. Das Wort ist Fran­zösisch und meint: nicht vor ihren Ohren, «pas devant elle». Wörter aus der Fremde und ferne Ortsnamen bilden den Horizont auch im Leben des jungen Paars, das in Zürich lebt und zwei Kinder, Jonathan und Severin, hat. Familiengeheimnisse und Familienbande sind der Stoff, aus dem dieser souveräne, bei aller Rätselhaftigkeit doch lichte und klare Roman der 1964 geborenen Schweizerin Ruth Schweikert gewebt ist. Rätselhaft ist Meretes Herkunft. Das Findelkind indischer Abstammung wurde von Max und Silvie Huber, die über die Totgeburt ihres Kindes trauern, im südafrikanischen Durban auf­gelesen und adoptiert. An diesen Ursprungsort kehren Merete und Adrian zurück, als ihre Ehe scheitert – Anlass für einen Lebens-Rückblick in frühen bis mittleren Jahren, Motivation für die akribische Rekonstruktion von Familienverhältnissen und Grund für abgründige Vergegenwärtigungen. Offenbare Geheimnisse und die Wiederkehr des Verdrängten bilden das Grund­mus­ter dieses Romans. Da ist der Kältetod einer Freundin, die in eine Gletscherspalte fällt und nicht gerettet werden kann; da ist der schöne, bisexu­elle Vater von Andreas; da ist die berufliche Identität des Adoptivvaters, der als Waffenhändler nach Südafrika kommt; da sind die Vertreibungsgeschichte der Mutter und die mongoloide Schwes­ter; und da ist das mythische Schick­sal des italienischen Groß­­onkels, der in die USA auswan­derte und in Ohio heimisch wurde. Schließlich gibt es noch die Erinnerungs- und Gegenwarts-Orte, die ein richtiges Leben im falschen verspre­chen: Durban und Ohio, Zürich und die so irritierend makel­lose Landschaft des Oberengadin, Italien und Paris – jene Metropole, in der, woran Merete ihren Mann erinnert, Paul Celan genau an dem Tag, an dem Adrian geboren wird, versucht, seine geliebte Frau Gisèle mit einem Messer zu töten. Merete und Adrian erfahren sich als Elemente von Orts- und Familien-Geschichten, in die sie verstrickt sind und aus denen sie entkommen könnten. Das Dasein wird ihnen zum Rätsel, das sie nur miteinander lösen können – wenn sie es denn lösen wollten. Von der gewaltsam vereinfachenden Familienaufstellungs-Ideologie, auf die Ruth Schweikert anspielt, unterscheidet sich «Ohio» durch die hochentwickelte Kunst, dieselben Geschichten unterschiedlich zu erzählen – ohne die Illusion, es könne einen imperialen Erzähler geben, der weiß, was eigentlich Sache ist. Warum sich Merete in den deutlich älteren und mäßig erfolgreichen Schriftsteller Peter Schmied verliebt? Wohl auch deshalb, weil er Sätze wie diesen spricht: «Wir Menschen neigen dazu zu glauben, daß wir die Endlichkeit nicht ertragen, dabei ist es umgekehrt. Es ist die Unendlichkeit, die wir nicht ertragen, weil sie unmenschlich ist.» Die Wendung vom beschädigten Leben durchzieht diesen schmalen, dichten Roman. Zu seinen Vorzügen zählt, dass er mit kleinen Szenen Antworten auf die große Frage versucht, ob das Geheimnis der Liebe größer sei als das des Todes. Mehr kann man von Gegenwarts­literatur kaum verlangen.

 

Ruth Schweikert
Ohio
Ammann, Zürich 2005. 214 S., 18,90 €

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