- Auf der Suche nach dem verlorenen Paris
In Patrick Modianos neuem Roman "Im Café der verlorenen Jugend" beschwören vier Stimmen eine rätselhafte Frau mit Namen Jaqueline, genannt Louki
In Frankreich gilt Patrick Modiano längst als einer der größten zeitgenössischen Schriftsteller. Für deutsche Leser ist er derjenige, der unsere Paris-Sehnsucht am nachhaltigsten und auch am elegantesten bedient. Zugeben, das Paris, das Modiano in seinen Büchern durchstreift, existiert nicht mehr. Es ist das Paris der Besatzungs- oder der unmittelbaren Nachkriegszeit, das der sechziger, siebziger Jahre. Manchmal lässt sich die Epoche gar nicht so genau bestimmen, und es entstehen literarische Wechselbilder, bei denen sich die Zeiten überlagern wie Farbschichten auf einer Wand.
Modianos Paris wird noch von Ganoven bewohnt, von Detektiven und Prostituierten, steinreichen Baronen, heimatlosen Abenteurern und schönen, verlorenen Frauen. Sie begegnen einander in Hotels, in verrauchten Cafés, auf nächtlichen Streifzügen. Es ist die Zeit, in der die Telefonnummern noch Telefonistinnen diktiert wurden und wie Gedichte klangen: Auteuil quinze – vingt-huit. «Ich schreibe», sagt Modiano, «um dieses Paris wiederzufinden.»
Jacqueline, genannt Louki, die Hauptfigur seines Romans «Im Café der verlorenen Jugend», ist Stammgast im «Condé», dem geheimnisvollen Gravitationszentrum des Romans. Sie betritt das Buch durch eine kleine Tür des Cafés, die die Schattentür genannt wird. Sie verlässt es durch ein Fenster, im freien Fall.
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Wer ist diese Jaqueline Delanque, verheiratete Choureau, genannt Louki, Tochter einer Platzanweiserin des Moulin Rouge? Sie ist jung, schön, sehr gepflegt, zugleich auffallend still und zurückhaltend. Schon als Mädchen streunte sie durch Paris, und dieses Gefühl der Verlorenheit ist es, das sie auch als Erwachsene nicht abzustreifen vermag.
Ihr Porträt entsteht langsam, wie bei einem Puzzle. Vier unterschiedliche Ich-Erzähler, die im Café «Condé» verkehren, legen es zusammen: ein namenloser Student, für den es so aussieht, als würde sie Zuflucht suchen wollen in diesem Café, als wollte sie vor etwas fliehen, einer Gefahr entrinnen; der Privatdetektiv Pierre Caisley, der ihr im Auftrag des sitzengelassenen Ehemannes nachspioniert; Louki selbst erzählt den dritten Teil, und schließlich kommt ihr Liebhaber zu Wort, ein junger Schriftsteller namens Roland.
Aber so nah man ihr auch zu kommen glaubt, Louki gibt ihr Geheimnis nicht preis. Die wesentlichen Teile des Puzzles scheinen verlorengegangen zu sein. Louki bleibt ein Schattenwesen, ein Mensch, der sich in Zwischenwelten aufhält, in esoterischen Zirkeln. Am Ende wird nichts und niemand ihr dramatisches Schicksal hinreichend erklären.
Wie so oft bei Modiano ist es dieses Rätsel, das man von der ersten Seite an ahnt, das den Leser hineinzieht in seine Welt, in die obsessive Spurensuche, in das Beschwören von Zeiten, die verloren und nicht mehr ganz fassbar sind. Auch dieser Roman, der in Frankreich bereits 2007 veröffentlich wurde, wiederholt das bekannte Muster. Auch er ist durchtränkt mit dem fahlen Licht der Nostalgie.
Es soll Leser geben, die dieser manische Wiederholungszwang kalt lässt. Den allermeisten aber geht es genau umgekehrt: Modianos Wortwelt wirkt wie ein Magnet, dem man sich nicht entziehen kann. Seine Bücher darf man wie Drogen konsumieren, die eine Art melancholischen Rausch verschaffen, heilsame Momente, da der Schmerz der Existenz, gerade weil er so präsent ist, auf zauberhafte Weise nachlässt.
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