- Eine Bühne für die Bürger
Im mittelsächsischen Freiberg steht das älteste Stadttheater der Welt – ein Haus mit langer Tradition und ganz besonderem Charme
Wenn Freiberg nicht gerade sein Bergstadtfest, das größte Volksfest Mittelsachsens, ausrichtet, geht es beschaulich zu in dem Städtchen mit dem sorgfältig sanierten historischen Zentrum mitten in der sächsischen Provinz. Dabei besitzt Freiberg zwei Institutionen der Superlative: zum einen die Technische Universität, an der seit 1765 die Gewinnung und Wiederverarbeitung von Rohstoffen gelehrt wird.
Zum anderen das traditionsreiche Stadttheater mit seinem Ensemble, welches Künstler aus mindestens zehn Nationen umfasst und nicht nur als das älteste Stadttheater Deutschlands, sondern der ganzen Welt gilt. Zunächst in privatem Besitz von Johann Gotthelf Engler, der ein Wohnhaus am Buttermarkt zum Theater umbaute, eröffnete die Freiberger Bühne zu Ostern 1790 die erste Saison mit einem Auftritt der renommierten Secondaschen Schauspieltruppe.
Bereits 1791 wollte Engler sein Theater wieder loswerden und bot es deshalb der Kommune zum Kauf an. Zu diesem Zeitpunkt war Freiberg eine wohlhabende Stadt, deren Reichtum schon seit dem Mittelalter auf dem Silberbergbau beruhte. Dieser Umstand beeinflusste die Entscheidung zum Erwerb der Engler'schen Bühne, wie man den historischen Unterlagen des Stadtrates entnehmen kann: „… da eines Teiles Geld müßig in Kassen liegt …, anderen Teiles aber … für besser erachtet wird, wenn dieses Haus in den Händen der Obrigkeit sich befindet … und durch die Erfahrung sich bestätigt, dass überhaupt durch die Schauspiele der Nahrungsstand der Bürgerschaft gewinne“.
Künstler aus aller Welt arbeiten in Freiberg
Aus dem einfachen Haus ist im Laufe von über 200 Jahren ein verschachtelter Gebäudekomplex tief im Herzen der historischen Altstadt geworden. 175 Personen umfasst derzeit das Ensemble, zusammen führen sie pro Jahr rund 600 Darbietungen nicht nur in der Stadt, sondern im ganzen Landkreis auf – vom Trauerspiel bis zur Komödie, vom Kammerkonzert bis zum Musical, vom Puppentheater zur Lesung.
Große Karrieren wie die von Inge Keller, der späteren Schauspielgröße am Deutschen Theater Ost-Berlin, oder die von Hans-Joachim Ketelsen, Bariton auf den Bühnen von Bayreuth oder Mailand, nahmen am Stadttheater Freiberg ihren Anfang. Heute arbeiten dort nicht nur Künstler aus Deutschland, sondern auch aus Kroatien, Tschechien, Brasilien, Argentinien, Korea, Bulgarien, Österreich, Polen, Rumänien, Ungarn und den USA.
Die Jugend soll sich selbst auf der Bühne ausprobieren
Dass das alte Freiberger Stadttheater bis heute so erfolgreich arbeiten kann, hat viele Gründe. Einer hat mit dem hervorragenden Jugendtheater mit seinen fast 80 Mitgliedern im Alter zwischen 10 und 19 Jahren zu tun. Einmal in der Woche trifft man sich hier zum Proben. „Die meisten Mitspieler kommen aus Freiberg und Umgebung, wir haben aber auch immer noch Austauschschüler dabei, die gern mitwirken“, sagte Anselm Hühnel, der Leiter des Jugendensembles.
Hühnel ist 22 Jahre jung, aber bereits ein alter Theater-Hase. „Ich habe schon im Alter von sieben Jahren auf der Freiberger Bühne gestanden“, verrät er. Als Zweitklässler sang er sein erstes Solo als Knabensopran. Doch die Liebe zu den darstellenden Künsten hat ihn bereits in früher Kindheit erfasst – zu seinen Hobbys gehörte damals das Schreiben und Inszenieren kleiner Stücke im Kreise der Familie. Dieses Hobby hat er nun zur Profession gemacht. Hühnel gibt Jugendlichen die Möglichkeit, sich selbst auf der Bühne auszuprobieren. „Wir haben jetzt mit einer Kafka-Umsetzung ein eindringliches Stück im Programm, mit Goldonis 'Lügner' aber auch eine Komödie gespielt“, erläutert Hühnel.
In der Tat ist die Umsetzung des Stückes auf der Studiobühne des Freiberger Theaters packend und suggestiv. Die 15 Darsteller liefern teils prägnante, parolenhafte Monologe. Ihr dynamisches Agieren ist ausdrucksstark und perfekt synchronisiert. Kafkas Groteske wird durch die aktuellen Bezüge, welche die Jugendlichen herausgearbeitet haben, zu einer großen Frage: Wer bin ich? Einer – oder viele?
Erlebnisse schaffen, verarbeiten und teilen
Eine Spielstätte wie das Stadttheater Freiberg braucht also vor allem Menschen voller Leidenschaft. Zu ihnen zählt Dorothy Maddison, Professor of Voice aus den USA. In den 90er-Jahren war sie als Sängerin in Döbeln engagiert. Maddison spricht ein wunderbares Deutsch mit typischem amerikanischen Akzent. Sie brennt für eine Aufgabe, der sie nach eigenen Worten ihr Leben gewidmet hat: Im Rahmen einer „German Opera Experience“ organisiert Dorothy Maddison Aufenthalte von US-amerikanischen Musik- und Schauspielstudenten in Freiberg. Die jungen Leute erhalten im Laufe von sechs Wochen nicht nur Deutschunterricht und lernen nebenbei das Land kennen, sie erhalten insbesondere die Gelegenheit, an Aufführungen des Freiberger Stadttheaters mitzuwirken, um so wesentliche Erfahrungen für ihre berufliche Laufbahn zu sammeln.
Wir treffen Maddison nach der Vorpremiere der Kinderoper „Brundibár“, deren Inszenierung durch den gebürtigen Kroaten Sergio Raonic Lukovic sie für eine besonders gute Idee hält – nicht nur, weil „Brundibár“ als schönste Kinderoper des 20. Jahrhunderts gilt, sondern vor allem wegen des erschütternden Hintergrunds der Oper: „Brundibár“, komponiert vom jüdischstämmigen Tschechen Hans Krása, wurde im Durchgangslager Theresienstadt (Terezín) mehr als 50 Mal aufgeführt. Fast alle Darsteller wurden später nach Auschwitz deportiert und ermordet. Für Regisseur Lukovic, der in Freiberg normalerweise als Solosänger auf der Bühne steht, diesmal jedoch hinter den Kulissen agierte, war die Oper eine Entdeckung: „Für mich war das eine totale Neuigkeit. Ich hatte davon vorher noch nie etwas gehört.“
Es habe ihn verstört, dass Menschen, die unmittelbar mit der Nähe des Todes konfrontiert waren, ausgerechnet Oper und Musik machen wollten. Doch in „Brundibár“ stecke noch viel mehr. Es habe auch eine aktuelle Botschaft. Tatsächlich gehe es in dem Stück um den Sieg des Guten über das Böse und um gemeinsame Solidarität. In seiner kurzen Ansprache vor Beginn der Schülervorstellung stellt Lukovic seinem Publikum die Frage, was der Einzelne tun kann, um diese Gesellschaft zu einer besseren zu machen. Er ruft es auf, sich eine Meinung zu bilden und klar hinter dieser Meinung zu stehen. „Auf euch werden wir Erwachsene uns verlassen müssen!“, ruft er den Kindern zu, bevor er ihnen gute Unterhaltung mit „Brundibár“ wünscht.
Zu Hause sein in Freiberg, in Mittelsachsen, inmitten einer sich verändernden digitalisierten und globalisierten Welt, das ist für Intendant Ralf-Peter Schulze das Spannungsfeld, in dem ein lebendiges Theater existieren und sich entwickeln kann. Denn Theater sei noch immer ein Ort der gemeinsamen Erlebnisse. Und hier in Freiberg werden solche Erlebnisse nicht nur geschaffen; sie werden auch verarbeitet und miteinander geteilt. Schulzes Anspruch sei es letztlich, für die Stadt, den Landkreis, die ganze Region und deren Gäste einzigartiges, wahrhaftiges, besonderes und beachtenswertes Theater wie Musiktheater zu machen.
Dass dies in der besonderen, ebenso traditionsreichen wie vitalen Atmosphäre in und rund um das Freiberger Stadtheater gelingt, davon können sich Ansässige wie Touristen auch in der kommenden Saison wieder selbst überzeugen.
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