- Ohren auf im Alltagsstress
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Ob auf dem Land oder in der Stadt, wir rasen durch unser Leben. Aber die Natur hat so ihre Tricks, um dem Einhalt zu gebieten. Wir müssen sie nur lassen
Entschleunigt ist bei mir gar nichts, seitdem ich auf dem Land wohne. Noch immer eile ich zwischen Schreibtisch und Kindergarten hin und her, schmeiße im Vorbeifliegen ein paar Wäschestücke in die Trommel und fege mit einem Lappen schnell die Müslikrümel vom Tisch bevor der Computer hochgefahren ist.
Heute aber hat mich etwas aufgehalten. Der Wald rief. Gerade aus dem Auto gestiegen, traf mich das Gezwitscher aus der anliegenden Schonung mit einer solchen Wucht, dass ich innehalten musste. Ich meinte, abertausende Vogelstimmen zu hören, die mich in der morgendlichen Frühlingssonne in einen anderen Kosmos zogen. Heraus aus dem Alltag, rein ins pralle Leben. Und dann stand ich zwischen den Bäumen, die sich in Erwartung des ersten Knospenwachstums hoch in den Himmel strecken, und hörte zu.
Dem Buntspecht, der als rot-schwarzer Schatten zwischen zwei hohen Buchen hineinflog und sich mit seinem „Tock Tock“ daranmachte, kleine Käfer aus der Rinde zu trommeln. Den drei Meisen, die in ihrem grünlichen Gefieder fröhlich hintereinander durchs Geäst jagten. Ganz oben am Himmel schrie der Habicht sein langgezogenes „Iiih Iiih“ auf der Suche nach der nächsten Beute. Das Glückskribbeln, das dieser Moment auslöste, hält immer noch an. Eine Studie der Stockholmer Universität besagt, dass Naturgeräusche psychischen Stress lindern können und erholsam auf geschundene Seelen wirken.
Die Natur als Download
Der Evolutionsbiologe Kurt Fristrup hat in den vergangenen zehn Jahren die Lärmstufen in nordamerikanischen Nationalparks gemessen und warnt nun vor einer Welt, in der selbst die raren stillen Orte unserer Zivilisation immer lauter werden. Seine Prophezeiung: Die gemessenen Lärmpegel würden sich in den kommenden dreißig Jahren noch verdoppeln. So werde es immer schwerer, das allgegenwärtige Getöse auszublenden, nicht nur während der Arbeit in Großraumbüros sondern auch beim Wochenendpicknick im Park. Und dann, so Fristrup, komme noch das pausenlose Tragen von Kopfhörern hinzu. Eine ganze Generation werde taub für die Klänge der Natur.
Es gab eine Zeit, da weckten mich in den frühen Morgenstunden betrunkene Antifaschisten auf dem Weg zur Berliner S-Bahnstation Wahrschauer Straße. Die waren laut, hässlich, häufig obszön. Ich erinnere mich an den ersten Morgen in meiner neuen Wohnung, die nicht in diesem Partyviertel lag, als mich das Zwitschern der Vögel weckte. Es war ein beeindruckendes Gefühl.
Aber nicht immer ist der Klang der Natur schön und willkommen. Da wäre der Hahnenschrei um vier Uhr in der Früh, das Kreischen paarungswilliger Füchse oder das fiese Rätschen des Eichelhähers. Die Umweltpsychologin Eleanor Ratcliffe geht in ihren Forschungen der Frage nach, ob alle Menschen die Töne der Vögel als entspannend und glückselig machend empfinden. Ihr Birdsong Project, dem sie an der University of Surrey nachgeht, will die Auswirkungen von verschiedenen Vogelgesängen und anderen Naturtönen auf die menschliche Psyche untersuchen. Die Ergebnisse stehen noch aus. Bis dahin muss jeder für sich selbst den besten Glücksgeräusche aus der Welt herausfiltern.
Das Internet bietet hier zweifelhafte Hilfe für jene, denen der Gang in die Natur zu mühsam ist. Mit ein paar Klicks lässt sich hier „beruhigende und heilende Wirkung entfaltendes Katzenschnurren downloaden – zum Niedrigpreis!“ Für 4,99 Euro gibt es den Klang „plätschernder Wildbach“. Je nach Zeitplan für fünf, fünfundvierzig oder sechzig Minuten. Ich glaub, ich steh im Wald.
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