- Kafkas böhmischer Garten
Die wohl glücklichsten Monate seines Lebens verbrachte der Prager Beamte und Schriftsteller Dr. Franz Kafka im Dörfchen Zürau – als Zier-Bauer in Gesellschaft seiner Lieblingsschwester Ottla. Eine Recherche in der Hinterwelt von Sirem/Zürau
«Lojza, komm doch mal her, die beiden Genossen aus Prag suchen einen gewissen Kafka, kennst du den?» «Nein. Wo soll der denn wohnen?» «Der wohnt nicht hier, der war Schriftsteller vor dem Krieg. Und hier hat er seine Schwester besucht.» Davon hatte Lojza nie gehört, obwohl er der örtliche Parteichef war. Und in seinem Reich, dem nordwestböhmischen Dörfchen Sirem, kannte er jeden.
Nun zogen aber die beiden Genossen aus Prag ein deutsches Buch hervor, eine Biografie von Max Brod über seinen Freund Franz Kafka. Deutsch verstand Lojza zwar nicht, aber es gab auch Fotografien in diesem Buch, und eine davon zeigte das Dorf, wie es früher war. Der Parteichef war begeistert. «Herrje, das ist ja Sirem!», rief er und betrachtete nun auch die Portraitaufnahmen des gesuchten Kafka genauer. «Der sieht ja gut aus, Menschenskind, verdammt gut. Wo lebt er?» Die beiden jungen Genossen erklärten bedauernd, Kafka sei an Tuberkulose gestorben. Es komme aber häufig vor, dass Tuberkulose im letzten Stadium die Haut durchscheinend mache, und das Gesicht des Kranken erscheine dann wie durchgeistigt. «Deshalb sehe ich so hässlich aus!», platzte der Parteichef heraus. «Weil ich gesund bin, Mann!»
Die Anekdote, die wohl auf Ende der fünfziger Jahre zu datieren ist, lässt den Dorf-Apparatschik wahrlich nicht im besten Licht erscheinen. Doch den Schriftsteller Kafka konnte er nicht kennen, denn die wenigen tschechischen Übersetzungen waren längst vergriffen, und seit der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1948 war der Name Kafka mit einem Tabu belegt: ein Vertreter der bürgerlichen Dekadenz, der auf Deutsch geschrieben hatte und dessen Albträume man fatalerweise auch politisch deuten konnte. Das taten dann wenige Jahre später auch prompt die Organisatoren der legendären Kafka-Konferenz auf Schloss Liblice, wo ein Kommunist namens Fischer zur allgemeinen Verblüffung ein tschechisches «Dauervisum» für den Verfemten forderte.
Dass auch die Familie Kafka in Sirem völlig in Vergessenheit geraten war, konnte man dem dortigen Parteichef ebenso wenig ankreiden. Denn Sirem war von Tschechen bewohnt, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg hierher umgesiedelt worden waren. Oder genauer: rückgesiedelt, denn es waren Nachfahren von tschechischen Auswanderern, die seit Generationen in der Ukraine lebten und die nun ihre Felder zwangsweise gegen Güter in Sirem eintauschen mussten. Sie hatten ein nahezu leeres Dorf vorgefunden, denn die deutschen Bewohner waren geflohen oder vertrieben – zum einen, weil sie die Verlierer des Krieges waren, zum anderen, weil sie selbst im Winter 1938/39, nach dem Einmarsch Hitlers und der Eingliederung Sirems ins Deutsche Reich, die tschechische Minderheit aus dem Ort gejagt hatten.
Dass der Parteichef
schließlich auch nicht ahnen konnte, wer die beiden Genossen aus
Prag waren, die in seinem Dorf umherstrichen, daran traf ihn die
geringste Schuld. Es waren harmlose, ein wenig enthusiastisch
daherredende Studenten, der eine von der Filmakademie, der andere
von der Technischen Hochschule. Sie hießen Milos Forman und Václav
Havel.
Das Dorf Sirem, das ursprünglich Zürau hieß, liegt in einem traditionellen Hopfenanbaugebiet, dem so genannten Saazer Becken. Es ist ein qualitativ besonderer Hopfen, der hier an den charakteristischen, riesigen Drahtgestellen gezogen wird, eine Sorte, die nicht nur von den böhmischen Brauereien, sondern auch im europäischen Ausland geschätzt wird.
Fährt man von Prag in nordwestlicher Richtung, so erreicht man die Kreisstadt Zatec (Saaz) an der Eger bereits nach einer Stunde; von hier nach Zürau im Goldbachtal sind es knapp 15 Kilometer. Es ist eine Reise, bei der sich die Zeit verlangsamt und die lärmende, vielsprachige Tourismus-Maschine Prag plötzlich weit entrückt erscheint. Eine gemäßigt hügelige Gegend mit weiten Ausblicken über Getreidefelder, Hopfengärten und kleine Wäldchen, weiträumig gegliedert durch Weiler von meist nur wenigen Dutzend Häusern. Beschauliche Nebenstraßen mit dichten Baumreihen, kleine Weiher, unregulierte Bäche, deren Verlauf oft nur an der Vegetation abzulesen ist. Es ist eine Gegend, in der Asphalt nur dort liegt, wo er unvermeidlich ist, und schon einen Meter daneben wuchert das Schilf. Ein Idyll, zumindest für das Auge des Großstädters. Und der Gedanke drängt sich auf, dass es vor hundert Jahren hier wohl nicht viel anders ausgesehen hat.
Die beiden Prager Genossen hatten eine Spur aufgenommen, die zurückreichte bis ins Jahr 1917. Auch dies war ein Kriegsjahr, und ein schlimmeres, als es die Bewohner der österreichisch-ungarischen Landeshauptstadt Prag je erlebt hatten. Längst vorbei die Zeiten, da der Krieg ein fernes Abenteuer war, dessen Verlauf man in der Presse und auf Landkarten verfolgte. Der Weltkrieg, der auch damals schon so hieß, hatte Einzug in die Stadt gehalten: Zuerst kamen die Flüchtlingsströme aus dem Osten, überwiegend galizische und polnische Juden, die den russischen Truppen nur knapp entkommen waren; dann kamen die Kriegskrüppel, deren bloßer Anblick einen makabren Kontrast zu den täglichen Durchhalteparolen lieferte; schließlich kamen der Hunger, die Kälte, das Schlangestehen, begleitet vom nationalistischen Gezänk zwischen Deutschen und Tschechen, die sich die Schuld am voraussehbaren Debakel gegenseitig zuschoben. Düster war die Stadt, schmutzig waren die Straßen, auf denen nur noch wenige Elektrische verkehrten, und in den Kaffeehäusern, die jetzt lange vor Mitternacht schließen mussten, saßen die frierenden Gäste allenfalls, um eigene Kohle zu sparen. Denn auch die Plörre, die hier als Kaffee ausgeschenkt wurde, war kaum geeignet, die Stimmung aufzubessern. Erst der lange und heiße Sommer entspannte die Lage ein wenig, doch schon jetzt zitterte die kommunale Verwaltung beim Gedanken an einen weiteren, vierten Kriegswinter, der unweigerlich Hungerrevolten und Streiks bringen würde.
Der Familie Kafka, die am Altstädter Ring ein gut etabliertes Geschäft für Galanteriewaren führte, brachte das Jahr 1917 überdies private Heimsuchungen, auf die niemand gefasst war und die endlosen Zwist hervorriefen. Zunächst die überraschende Revolte der jüngsten Tochter Ottla: die arbeitete zwar fleißig im Geschäft der Eltern mit, weigerte sich jedoch, dem Beispiel ihrer beiden Schwestern zu folgen und mithilfe eines jüdischen Heiratsvermittlers eine städtisch-bürgerliche Ehe einzugehen. Nein, Ottla versteifte sich darauf, eine Ausbildung in Landwirtschaft oder Gartenbau zu absolvieren – eine Idee, die sie aus ihrer zionistischen Frauengruppe mitgebracht hatte und in der sie von ihrem Bruder Franz nach Kräften bestärkt wurde. Der Vater tobte. Unfassbar war es für ihn, den Dorfjungen aus kargen Verhältnissen, dass jemand freiwillig aus der Großstadt in irgendein Kaff übersiedeln wollte, um dort mit bloßen Händen in der Erde zu wühlen.
Doch das zügellose Schimpfen, für das Hermann Kafka berüchtigt war, bewirkte gar nichts, denn Ottla blieb unnachgiebig. So verfiel man am Ende auf den Gedanken, ihr einen kleinen verwahrlosten Bauernhof in Zürau anzuvertrauen, der ihrem Schwager Karl gehörte, und sie auf diese Weise zumindest unter familiärer Kontrolle zu halten. Eine absurde Idee, genau besehen. Denn die unerfahrene Ottla war hier zu einen Learning by Doing gezwungen und musste überdies vom ersten Tag an finanzielle Rechenschaft ablegen. Hoffte man, ihr damit das bäuerliche Leben so sauer wie möglich zu machen? Dann hatte man sich verrechnet. Ottla biss sich durch: Mit nur zwei Mägden, einem Vorarbeiter und härtestem körperlichen Einsatz gelang es ihr, den Hof allmählich in Schwung zu bringen und selbst dem Vater einen momentanen Respekt abzunötigen: «Ein Mädel aus Eisen», hieß es jetzt.
Das zweite Unglück, das die Kafkas traf, war schlimmer, denn mit den bewährten Strategien des familiären Krisenmanagements war hier rein gar nichts auszurichten. Und allein der Name dieses Unglücks ließ jeden erstarren: Tuberkulose.
Ein Blutsturz als rettender SchicksalsschlagEs war an einem frühen Morgen im August 1917, da dem 34-jährigen Schriftsteller und Versicherungsbeamten Franz Kafka plötzlich Blut aus der Kehle quoll, minutenlang. «Lungenspitzenkatarrh» lautete in solchen Fällen die erste Diagnose, doch durch Sprachregelungen war Kafka natürlich nicht zu täuschen. Mit dem Blut war eine tödliche Bedrohung in sein Leben getreten, und so sehr auch die Prager Freunde, vor allem Max Brod, bemüht waren, mit medizinischen Ratschlägen vom dunklen Kern dieser Katastrophe abzulenken: Kafka war davon überzeugt, dass es ein sehr folgerichtiger Schlag war, der ihn getroffen hatte, Folge des jahrelangen zermürbenden Kampfes zwischen Eheplänen und Literatur, zwischen der Sehnsucht nach der Geliebten, der Berliner Angestellten Felice Bauer, und der Sehnsucht nach einer schrankenlosen sprachlichen Entfesselung. «Manchmal scheint es mir», schrieb er an Brod, «Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. ‹So geht es nicht weiter›, hat das Gehirn gesagt, und nach 5 Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt zu helfen.»
Da der Blutsturz Kafka in seiner eigenen Wohnung überrascht hatte – seiner ersten Wohnung, zwei hohe, kalte Zimmer im Palais Schönborn auf der Kleinseite –, bot sich die Chance, die Eltern zunächst aus dem Spiel zu lassen. So berichtete er dreist zu Hause, seine Vorgesetzten in der Arbeiter-Unfall-Versicherung hätten ihm wegen «Nervosität» einen mehrmonatigen Aufenthalt auf dem Land genehmigt. Und diesen Urlaub wolle er in Zürau verbringen, in frischer Luft und gut versorgt von Ottla.
Ein Erholungsort ohne jeden Komfort
Brod, der besser informiert war, versuchte geradezu verzweifelt, den Freund von diesem Plan abzubringen. Doch so oft er ihm von den Vorzügen eines südlichen, milden Klimas auch vorschwärmte – Kafka, der keine Klage hören ließ und eine geradezu unheimliche Ruhe ausstrahlte, verweigerte sich scheinbar jeder medizinischen Vernunft und war nicht davon abzubringen, dass seine Krankheit außerhalb fachärztlicher Kompetenz liege. Was solle ihm denn jetzt der anonyme Kurbetrieb von Meran? Erholen könne er sich am besten dort, wo er sich wohl fühle, in der Nähe des vertrautesten Menschen also, und das sei Ottla.
Der Preis war hoch. Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine befestigten Straßen. Kein Kaffeehaus, kein Kino, keine Buchhandlung, kein Zeitungskiosk. Kein Postamt, kein Telefon im Dorf, die Bahnstation Michelob (Mûcholupy) nur mit dem Pferdekarren zu erreichen. Als Gesprächspartner die bäuerlichen Nachbarn, gelegentliche Hausierer und am Abend die todmüde Ottla. Und als Behausung ein dunkles, nach Norden gelegenes Zimmer in einem separaten Gebäude, bei katastrophalem Mangel an Kohle und Petroleum. Nicht zu reden vom Lärm der Tiere und Menschen, der mit dem ersten Licht schon einsetzte, denn sowohl das Gehöft als auch Kafkas Unterkunft lagen in der Mitte des Dorfs, am Teich, gleich neben der Kirche. Undenkbar, dass irgendjemand aus seinem intellektuellen Umfeld dieses karge Leben länger als ein paar Tage hätte teilen wollen – ganz zu schweigen von all jenen zeitgenössischen, urbanen Figuren, die heute mit Kafka in einem Atemzug genannt werden, wie Thomas Mann, Robert Musil, Arthur Schnitzler oder Karl Kraus: Keiner von diesen hätte sich freiwillig in eine solche Einöde begeben.
Kafka jedoch genoss die Freiheit vom verhassten Büro und die Nähe Ottlas, die ihn mütterlich umsorgte. Er nahm im Liegestuhl einige Kilo zu – was damals als zwingende Voraussetzung der Heilung betrachtet wurde –, und trotz leichter Kurzatmigkeit und häufigen Hüstelns beteiligte er sich an der Arbeit: Er pflückte Hagebutten, legte einen Gemüsegarten an, holte auf allen vieren Kartoffeln aus der Erde, fütterte das Vieh, lenkte das Pferdefuhrwerk, ja, er hackte sogar Holz und versuchte sich – nicht besonders geschickt – am Pflug. Das alles entspannte, sorgte für besseren Schlaf und beruhigte schließlich auch das schlechte Gewissen gegenüber den Eltern, die erst zum Jahresende die schreckliche Wahrheit erfuhren. Kaum vom ersten Arztbesuch in Prag zurück, vertraute er der Schwester an, dass er nach dem Krieg hierher zurückkehren wolle: Ein eigenes Häuschen im Dorf, ein Garten, ein Acker sei alles, was er brauche. Kafka träumte davon, Bauer zu werden.
Acht Monate lang
währte dieser Traum. Dann, so befand er, durfte er den
unbegreiflichen Langmut seiner Vorgesetzten und Kollegen nicht
länger ausnutzen. Ende April 1918 übersiedelte er zurück nach Prag.
Den Eltern und den Freunden konnte er keine wesentliche Besserung
vermelden. Immerhin, zu weiteren dramatischen Blutungen war es
nicht gekommen, und er sah gesünder aus als zuvor, auch wenn es
vielleicht nur die leichte Bräunung war, die diesen Eindruck
hervorrief.
Forman und Havel machten in Zürau eine erregende Entdeckung. Aus Kafkas dörflichem Leben und aus den Erfahrungen mit den Bauern, so hatte Brod in seiner Biografie behauptet, sei später der Roman «Das Schloss» hervorgegangen. War also jenes abweisende Dorf, in dem der angebliche Landvermesser K. sich niederzulassen sucht, in Wahrheit Zürau? Wo aber ist dann jenes hoch über dem Dorf thronende und drohende Schloss?
Nähert man sich Zürau auf der Landstraße, dann erblickt man außer der Kirche einen zweiten auffallenden Fixpunkt: ein am Rand des Dorfes, etwas höher gelegenes, isoliertes Gebäude, einen mächtigen dreistöckigen Kasten mit regelmäßigen Reihen kleiner Fenster, die an Schießscharten erinnern. Auch auf den historischen Aufnahmen Züraus fällt das Gebäude ins Auge, und es ist durchaus begreiflich, dass die beiden Studenten sich in die Idee verbissen, dies müsse Kafkas Ur-Schloss sein. Natürlich erfuhren sie, dass es kein herrschaftlicher Wohnsitz, vielmehr ein Kornspeicher war, in dem außerdem Hopfen zum Trocknen ausgebreitet wurde. Und als Václav Havel 1997 nach Zürau zurückkehrte, nicht mehr als Prager Genosse, sondern als Staatspräsident, da wusste er, dass die Kafka-Experten mittlerweile andere, plausiblere Vorbilder anzugeben wissen. Doch noch heute lässt sich die leicht unheimliche Anmutung des Gebäudes durchaus nachempfinden.
Kafka selbst bot allerdings ein ganz anderes Bild als sein künftiger Romanheld, und auch seine Erfahrungen mit den Bauern waren andere als die des Landvermessers. Es dauerte zwar eine gewisse Zeit, ehe sie begriffen, dass man beim Herrn Doktor keine Zigaretten schnorren konnte und dass er auch nicht Hermann hieß wie sein Schwager, der Besitzer des Hofs. Stundenlang aber konnte Kafka zuhören, wenn ein Landwirt die «Weltgeschichte» seiner Wirtschaft erzählte oder großzügig landwirtschaftliche Ratschläge erteilte, und gelegentlich revanchierte er sich, indem er Hilfestellung gab im Umgang mit Prager Behörden. «Der Doktor ist ein guter Mon, Gott wird sich seiner erborm», dichtete einer im Dorf.
Ob er als Gast auch den sozialen Druck des bäuerlichen Lebens spürte, ist kaum auszumachen; dass «Wucher und Lumperei dominieren», wie der fast gleichzeitig in diese Gegend gekommene Pfarrer des Nachbardorfs Oberklee in seiner Chronik notierte, hätte Kafka wohl nicht unterschrieben. Freilich, in den drei Dorfkneipen, den örtlichen Nachrichtenbörsen, verkehrte er ohnehin nicht. Dort wäre des Gelächters kein Ende gewesen, wenn der schmale Herr aus Prag von seinem panischen Abwehrkampf gegen die Mäuse erzählt hätte, die sein Zimmer heimsuchten und die nur mit einer (ebenfalls problematischen) Katze in Schach zu halten waren – man hatte hier weiß Gott andere Sorgen.
Das Geheimnis der blauen Oktavheftchen
Auch die Freunde in Prag konnten die seitenlangen Mäuseprotokolle nicht recht ernst nehmen. Viel mehr interessierte sie, was Kafka, von den Bürostunden dispensiert, mit der gewonnenen Freizeit denn nun beginnen würde. Offenbar las er viel, denn stapelweise ließ er sich Zeitschriften und sogar Tageszeitungen schicken, und wer ihn besuchte, musste Bücher mitbringen. Doch irgendein leitendes Interesse war darin nicht zu erkennen, geradezu wahllos schien Kafka zu verschlingen, was das schmale Zürauer Bücherbrett zu bieten hatte oder was Inserate und Rezensionen ihm einflüsterten: Dickens, Herzen, die Tagebücher Tolstojs, wahrscheinlich Schopenhauer, Briefe von J. M. R. Lenz sowie zeitdiagnostische Beiträge von Max Scheler, Hans Blüher und Theodor Tagger (der eigentlich Ferdinand Bruckner hieß). Nur zu den Schriften und Tagebüchern Kierkegaards kehrte er häufiger zurück, er las «Der Augenblick», «Furcht und Zittern» und «Die Wiederholung», und seine Briefe nach Prag lassen deutlich erkennen, was er hier mit angehaltenem Atem verfolgte: nicht die theologischen Winkelzüge des Dänen, vielmehr den Fall Kierkegaard, jene Tragödie, die seiner eigenen so verblüffend ähnlich sah, jene konsequente und teuer bezahlte Weigerung, das Leben zu nehmen, wie es ist.
Ein Schriftsteller, der nicht schreibt – so ließ er Brod einige Jahre später wissen –, sei «ein den Irrsinn herausforderndes Unding». Das brauchte man den Vielschreibern, für die Prag schon berüchtigt war, nicht zweimal zu sagen. Kafka indessen war empfindlich und überaus abhängig von Stimmungen und Äußerlichkeiten. Im vergangenen Winter hatte er in völliger Abgeschiedenheit, in einem winzigen Häuschen auf der Prager Burg, eine Reihe kurzer traumdurchwirkter Erzählungen verfasst – «Ein Landarzt» nannte er das Manuskriptbündel –, und die asketische Klause, die keinerlei Ablenkung bot, hatte sich als ideale Werkstätte erwiesen. Wo also, wenn nicht in der Einsamkeit Züraus, hätte er diesen Faden weiterspinnen können?
Doch nach Geschichten stand Kafka jetzt nicht der Sinn. Die Tuberkulose und das Scheitern der Ehepläne, ein drohendes und ein wirkliches Ende, hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, dass es an der Zeit war, einige Fragen nicht in literarischer Verhüllung, sondern explizit zu beantworten, Fragen über «die letzten Dinge». Höchst erstaunt wären die Prager Freunde gewesen, hätten sie verfolgen können, was sich in jenen blauen Oktavheftchen abspielte, die Kafka auf Vorrat nach Zürau mitgenommen hatte.
Es sind überwiegend kompakt formulierte Notizen, die auf religiöse und philosophische Probleme abzielen, auf Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Entfremdung und Erlösung. Schließlich – nicht überraschend für einen Autor, der noch unter dem Schock eines blutigen Erwachens stand – sind es Notate, die immer wieder an den Rand eines Abgrunds geraten, dorthin, wo das Denken seiner eigenen Auslöschung gegenübersteht. Vieles bleibt fragmentarisch: immer wieder vereinzelte, ins Leere laufende Sätze, dazwischen aphoristisch aufblitzende, bildhaft-eindringliche Formulierungen, unterbrochen wiederum von diffusen und unvermittelt abbrechenden Suchbewegungen und Kritzeleien.
Später hat Kafka
diese Goldkörner gewaschen, geordnet, nummeriert und auf separate
Zettel verteilt. Gezeigt hat er sie niemandem; ediert wurden sie
aus dem Nachlass als Kafkas «Aphorismen». Ein Verlegenheitsbegriff,
bis heute. Denn diese Texte bleiben so rätselhaft, so unauslotbar,
wie sie es gewiss schon im Augenblick ihrer Entstehung waren,
damals im Dorf, in einer kalten Kammer, bei Kerzenlicht und
Mäusescharren.
Der Schriftsteller und Vegetarier Franz Kafka, so war im Sommer 1918 im «Prager Tagblatt» zu lesen, habe sich «sensitiv zurückgezogen» und «irgendwo in Deutschböhmen einen Garten gekauft». Zu diesem Zeitpunkt saß Kafka längst wieder auf seinem Prager Bürostuhl und blickte zurück auf die wohl glücklichsten Monate seines Lebens. Ende Oktober war der Krieg in Böhmen zu Ende, und Prag wurde Hauptstadt der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik. Ottla verließ das Dorf, um die lang ersehnte gründliche Ausbildung endlich nachzuholen, und so gab es auch für ihren Bruder keinen Anlass mehr, nach Zürau zurückzukehren. Immerhin, die Erfahrung des einsamen Landlebens bestärkte ihn darin, sich noch jahrelang von Sanatorien fernzuhalten und stattdessen in gewöhnlichen Pensionen Erholung zu suchen – bis die Tuberkulose ihn dann doch noch ereilte. Nostalgische Gefühle für Orte scheinen Kafka jedoch fremd gewesen zu sein, und die bloße Absicht, etwas wiederzusehen, hat ihn niemals zu einer Reise veranlasst.
Freilich, selbst Kafka, dem man später die Fähigkeit politischer Prophetie zusprach, hätte auch bei noch so häufigen Besuchen in Zürau nicht voraussehen können, was diesem Dorf bevorstand – einfach deshalb, weil es jede menschliche Einbildungskraft überstieg. Das Schicksal der etwa ein Dutzend Juden, die hier lebten, ist ungewiss, doch sicher ist, dass sie das absurde Finale des Zweiten Weltkriegs nicht mehr mit eigenen Augen verfolgen konnten: eine Bunkerlinie, nur wenige hundert Meter von Zürau entfernt, auf der anderen Seite die zurückgedrängte deutsche Wehrmacht, auf der eigenen Seite jedoch ebenfalls Deutsche, die zum letzten Mal ihre Felder bestellten.
1968, nach dem Ende des Prager Frühlings, wurde in der Nähe von Zürau ein russisches Panzer-Depot errichtet. In den achtziger Jahren eine weitere Überraschung: deutsche Besucher tauchten auf, deren Familien hier gelebt hatten. Einige wagten es sogar, nach Schmuck zu graben, den sie am Tag ihrer Vertreibung unter irgendwelchen Dielen eilends versteckt hatten. Legendär ein deutsches Paar, das im weißen Mercedes anrückte und Wertsachen aus der Kirchenruine barg. Man duldete es; keiner der tschechischen Einwohner war ja dabei gewesen, damals, als die nationale Koexistenz in Zürau brutal und definitiv beendet worden war.
Inzwischen ist das Dorf von etwa 350 auf weniger als hundert Menschen geschrumpft, die Zahl der Gräber (unter ihnen etliche deutsche) übersteigt die der Einwohner. Zahlreiche, auch stattliche Gebäude sind dem Verfall preisgegeben, an öffentlich geförderte Restaurierung (wie auf dem historischen Ringplatz von Saaz) ist hier nicht zu denken. Es ist anrührend, dass selbst unter so kargen Bedingungen die Erinnerung an Kafka wachgehalten wird – an einen historisch und kulturell so weit entfernten Menschen, von dem hier kaum eine Spur geblieben ist, nicht einmal die der mündlichen Überlieferung. 2004 und 2005 gab es kleine tschechische Kafka-Veranstaltungen, deren Dokumente im Gemeinderaum von Zürau zu besichtigen sind. Ein Wohnhaus am Dorfplatz trägt ein Reliefbildnis Kafkas: mit Ottlas Katze unter dem Arm. Der ehemalige Hof der Schwester existiert noch, gelegentlich schaut die Kafka-Forschung vorbei. Das Haus neben der Kirche jedoch, in dem Kafka lebte und in dem die berühmten Zürauer Notate entstanden, wurde wegen Einsturzgefahr bereits 1956 abgebrochen.
Damals war ein gewisser Lojza Parteichef von Sirem. Wir dürfen annehmen, dass er die Verfügung zum Abriss mit unterzeichnet hat.
Reiner Stach, Jahrgang 1951, arbeitete als Wissenschaftslektor großer Verlage, ehe er sich ganz auf seinen Forschungs-Schwerpunkt Franz Kafka konzentrierte. Er lebt in Hamburg und auf den Kanaren. Gegenwärtig arbeitet er an seiner auf drei Bände angelegten Kafka-Biografie, deren erster Band, «Die Jahre der Entscheidungen», 2002 erschien.
Franz Kafka
Die Zürauer Aphorismen
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 133 S., 11,80 €
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