- Im Westen geht die Sonne auf
Auf der Suche nach einer mentalen Geografie: Heinrich August Winkler vermisst den Westen, Dieter Richter den Süden und Edward W. Said den Osten. Dabei schauen alle in die gleiche Richtung
Wo bitte liegt der Süden? In der englischen Grafschaft Cornwall zum Beispiel, wo der Golfstrom dafür sorgt, dass es auch im Winter nicht friert. Oder im schweizerischen Tessin, wo, mitten in Mitteleuropa, das ganze Jahr über Palmen und Zitronenbäume gedeihen. Sicher nicht in Wladiwostok, obwohl die Endstation der Transsibirischen Eisenbahn auf dem Globus einige Breitengrade weiter unten zu finden ist als der milde Zipfel Englands oder der Lago Maggiore, nämlich auf einer Höhe mit Florenz. Jenseits der Alpen, Mittelmeer, Hitze und Dürre am Äquator, ewiges Eis der Antarktis: das ist Süden. Was aber verbindet diese Orte?
Und wo geht’s nach Westen? Richtung Amerika, klar. Doch wo beginnt, wo endet dieses Amerika? «Go West, young Man», lautete im 19. Jahrhundert der Schlachtruf, mit dem Trapper, Farmer und Cowboys, Eisenbahnen, Dollarmillionen und Schießpulver die amerikanische Grenze erst in den Mittleren Westen (der ja größtenteils in der Osthälfte des Kontinents liegt), dann nach und nach bis zum Pazifik verschoben – dem manifest destiny entgegen, der offenkundigen Vorsehung einer noch jungen Nation. Heute, da die Vereinigten Staaten längst nur noch von zwei Ozeanen begrenzt werden, hat der Ruf «Go West» seine Präzision eingebüßt, nicht aber seine Attraktivität. Der gleichnamige Song der Disco-Band «Village People» diente als Feier der Schwulenbefreiung in San Francisco, und später machten die «Pet Shop Boys» daraus den Soundtrack zum Fall des Eisernen Vorhangs, zu dessen gutem Schluss im Video die Freiheitsstatue winkt; inzwischen wird die Melodie Woche für Woche in deutschen Fußballstadien gesungen. Im Westen geht jedenfalls immer noch die Sonne auf.
Der innere Kompass richtet sich also nicht ausschließlich nach physikalischen Gesetzen. Orientierung ist relativ. Man muss weder eine Niete in Erdkunde noch ein vernagelter Kalter Krieger sein, um noch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall darüber zu stolpern, dass Prag westlicher liegt als Wien und München östlicher als Erfurt. Das heißt nicht, dass diese Kompassnadel beliebig irrlichtern würde. Sie bewegt sich in einem eigenartigen Magnetfeld aus Klima-Erfahrung, politischer Prägung und historischen Überbleibseln, aus Landkarten, Landschaftsbildern und Sehnsüchten. Himmelsrichtungen sind immer auch, so formuliert es der Kulturhistoriker Dieter Richter, «geistige Raumkonstruktionen, Weiser auf der Windrose der Zivilisation, Koordinaten einer mentalen Geographie».
Wachträume einer Gesellschaft
Wer die Koordinaten unserer mentalen Geografie genauer bestimmen will, findet in Richters jüngstem Buch «Der Süden» vorzügliches Material, ebenso in Edward W. Saids Studie «Orientalismus» und vor allem in Heinrich August Winklers «Geschichte des Westens». Drei Himmelsrichtungen, die der Zufall der Verlagsprogramme zeitgleich zum Thema macht; drei herausragende Bücher des Jahrgangs 2009, die auf unterschiedlichen Wegen die Gegenwart durch Geschichte verstehen wollen. Wer tage- und wochenlang mit Winklers Geschichte «Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert» durch die Weite der westlichen Hemisphäre reist, wer sich in Saids Analysen literarischer und wissenschaftlicher Bilder vom Orient vertieft, wer Dieter Richters eleganten Essays über Pilger, Entdeckungsreisende, Lust-Landschaften oder den Mythos Tahiti bis hin zum Südpol folgt, lernt nicht nur eine Menge. Vor allem verschaffen drei Sachbuch-Neuerscheinungen wie diese einen Überblick über einen öffentlichen Diskussionsstand. Slavoj Zizek, der slowenische Kulturkritiker mit dem psychoanalytischen Zauberkasten, betrachtet in seinen Arbeiten das Kino als das Unbewusste einer Gesellschaft, Filme als kollektive Träume, denen er Symptome abliest. Analog dazu lässt sich von Sachbüchern sagen: Sie sind die Wachträume einer Gesellschaft. Sie stellen dar, behaupten, argumentieren, diskutieren, und zugleich lässt sich an ihnen ablesen, was die Öffentlichkeit problematisiert – und wie. Auch in hervorragender nichtfiktionaler Literatur sind nicht alle Inhalte «richtig» oder alle Thesen «zustimmungsfähig»; aber ihre Fragen brennen auf den Nägeln.
Warum nun drei Himmelsrichtungen? Offenbar geht auch in den gebildeten Ständen ein Bedürfnis nach Orientierung um, buchstäblich und umfassend. 1989/91 löste sich die scharfe Trennung zwischen Ost und West auf, die bis dahin die Weltpolitik strukturiert hatte; eine Zeitlang schien der Westen sich vollends zu entgrenzen, bis er am 11. September 2001 schmerzhaft erfuhr, dass es doch noch ein Gegenüber gab, einen anderen als den Moskauer Osten. Inzwischen schlägt die Stunde der Selbstvergewisserung: In unterschiedliche Richtungen blickend, bieten die drei Autoren letztlich jeweils große Erzählungen von derselben, nämlich der westlichen Welt. Winkler schildert dessen politische Geschichte und geistige Prägungen. Edward Said beschreibt nicht den Orient, wie er eigentlich ist, sondern nimmt die Vorstellungen auseinander, die das Abendland seit Jahrhunderten vom Morgenland entwirft. Und Dieter Richter, auch wenn er gen Süden wandert, handelt von Projektionen, wie sie in westlichen – oder nördlichen – Landstrichen gepflegt werden: «Wir leben im Westen, und wir träumen vom Süden.»
Winklers Geschichte wird nach hinten immer breiter
Übrigens, der Norden: Davon ist heute «außerhalb lokaler Emotionen und Konstellationen nicht weiter die Rede», meint Dieter Richter lapidar. Recht hat er. Das 19. Jahrhundert erfand – nach Herders Feier der Nordhalbkugel als «Gebärmutter des Lebens» – eine ganze politische Mythologie der Nordmänner. Doch in den Ruinen des Berliner Führerbunkers sind 1945 auch die Phantasien von der nordischen Rasse untergegangen. Es stimmt wohl, dass echte Kompassnadeln aus Metall noch heute, wie seit dem Mittelalter, sich einnorden. In der mentalen Peilung unserer Tage spielt das aber keine Rolle. Hier fallen Norden und Westen in eins: Sie liegen dort, wo Reichtum und Freiheit vermutet werden.
Heinrich August Winkler weiß genau, wo Westen liegt. «Historisch», schreibt er, gehören in Europa auch «das östliche Mitteleuropa, das Baltikum und der Westen der Ukraine zum ‹Okzident› oder ‹Abendland›.» Türken werden hier nicht bedacht, obwohl kurz zuvor die NATO samt ihrem Mitglied Türkei als «Wertegemeinschaft» auftaucht; der Berliner Historiker Winkler streitet seit Jahren gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Neben dem Großteil des alten Kontinents rechnet er die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Israel zum Abendland. Und er weiß, was die westliche Welt im Innersten zusammenhält: Christentum und Säkularisierung, Trennung politischer Gewalten, Menschenrechte, Demokratie, Herrschaft des Rechts, Fähigkeit zur Selbstkritik. Überraschend sind diese Merkmale nicht, ebenso wenig wie die geografische Grenzen.
Was dieses Buch besonders macht, was einen ganz eigenen Sog erzeugt, ist die Anlage der Geschichte: die unterschiedlichen Erzähltempi, die Einbettung von mehr oder weniger bekannten Ereignissen in den Erzählfluss. «Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott», so beginnt Winkler seine monumentale frohe Botschaft. Die Erfindung des Monotheismus bedeutete gegenüber der Vielgötterei nämlich eine «Kulturrevolution» hin zu Rationalisierung und Zivilisierung, wie Winkler (mit Sigmund Freud und gegen den Ägyptologen Jan Assmann) behauptet. Moses brachte den Israeliten die Form des Ein-Gott-Glaubens aus Ägypten. Das Christentum ergänzte diese frühe Prägung des Westens um den Gedanken der Trennung von göttlicher und irdischer Herrschaft: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Von dort sind es in Winklers Siebenmeilenstiefeln nur wenige Schritte (ganze zwanzig seiner zwölfhundert Seiten) bis zum Investiturstreit ein Jahrtausend später, als Heinrich IV. und Papst Gregor VII. um die Vorherrschaft von geistlicher und weltlicher Macht rangen. Das Gegeneinander der beiden Sphären im 11. Jahrhundert wertet Winkler wiederum als «Urform» der Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt, wie sie Mitte des 18. Jahrhunderts in den Konzepten des Staatstheoretikers Montesquieu formuliert wurde, bevor sie Jahrzehnte später Niederschlag in den ersten westlichen Verfassungen fand.
In einem Atemzug von Jesus zu Montesquieu und darüber hinaus: Ist das noch Geschichtsschreibung oder schon Geschichtsphilosophie? Jedenfalls wird Winklers Geschichte breiter, je näher sie der Gegenwart kommt: Die fünf Jahrhunderte vom Investiturstreit bis zur Reformation passen auf knapp 60 Seiten, von der zweiten Hälfte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sind es 460 Seiten, die gut sechs Jahrzehnte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs brauchen 500 Seiten, und der Zeit nach 1914 wird ein zweiter Band gewidmet sein.
Die Anlage, die Winkler seiner historischen Erzählung gibt, ist für seine Sicht auf den Westen entscheidend, weil sie – und nicht nur die geschilderten Fakten selbst – Bedeutung trägt; in dieser Hinsicht unterscheidet sich Geschichtsschreibung nicht von Literatur. Die erstaunlichste erzählerische Maßnahme ist die: Diese Saga kommt ohne Personal und Schauplätze des alten Griechenland aus; Rom spielt allenfalls als Durchgangsstation zum mittelalterlichen Reich eine Rolle. Der Verzicht auf die heidnische Antike macht das Abendland noch christlicher, als es ohnehin ist. Doch ohne die Bürger der griechischen Stadtstaaten, ohne die römische Republik liegt die historische Beweislast für die Entstehung der Demokratie ganz bei den Theorien und Revolutionen der Moderne. So verwundert es nicht, dass Winkler nur die «repräsentative», die durch starke Institutionen vermittelte Demokratie zum «normativen Projekt» des Westens zählt. Direktere Spielarten der Demokratie, wie in den Urszenen auf dem Marktplatz von Athen? Randerscheinungen.
Amerika gehört sich selbst
Mit der Fahrt der «Mayflower» 1620, mit der Besiedelung der britischen Kolonien in Nordamerika durch Gläubige, die ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen von Gottgefälligkeit führen wollten, taucht ein neuer Schauplatz auf. Von diesem Punkt an leuchtet Winklers West-Blick unmittelbar ein, denn jetzt wird er stereoskopisch, wechselt vergleichend zwischen dem alten und dem neuen Kontinent. Zielstrebig steuert er das Ringen der Siedler um die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich an. Seit Mitte der 1760er Jahre wehrten sich die Kolonisten verstärkt gegen die Steuerforderungen aus London. Im Januar 1776 schleuderte der Journalist Thomas Paine den Satz «England gehört nach Europa, Amerika gehört sich selbst» in die Öffentlichkeit, mit enormem Widerhall. Am 4. Juli erklärte der Kongress die Unabhängigkeit, eingeleitet durch das Bekenntnis: «dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören …»
Die «Declaration of Independence» und die elf Jahre später verabschiedete Verfassung der Vereinigten Staaten bündeln im Grunde alles, was Winkler für des Westens Kern hält. 1776 ging im Abendland die Sonne auf: «Für die Geschichte der westlichen Demokratie war das, was im ersten halben Jahrhundert seit der Unabhängigkeitserklärung auf amerikanischem Boden geschah, von größerer Bedeutung als alles, was sich im gleichen Zeitraum in Europa ereignete.» Ein starkes Urteil – das die Französische Revolution von 1789, die mit dem Ancien Régime immerhin ein tausendjähriges Reich beseitigte, zur hässlichen kleinen Schwester der Amerikanischen degradiert.
Den französischen Revolutionären hält Winkler nicht nur den Terror vor, mit dem der Wohlfahrtsausschuss das Land seit 1793 im Namen von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» überzog. Daneben bemängelt er, dass schon die erste Verfassung von 1791 daran scheiterte, die konkurrierenden politischen Gewalten auszubalancieren. Zu wenig habe sich der «Geist Montesquieus» durchgesetzt. Darin sieht Winkler auch den Grund dafür, dass Frankreich während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht dauerhaft zur Ruhe kam. Auf zehn Jahre Revolution folgten Kaiser Napoleon, Könige und weitere Revolutionen, ein zweites Kaiserreich mit drittem Napoleon, 1870 die Niederlage gegen Preußen. Die US-Verfassung von 1787, bis heute in Kraft, sorgte für mehr Stabilität.
Nein, die Welt ist nicht auf einen Schlag besser geworden mit den beiden Revolutionen. Die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner wird in dieser Geschichte beim Namen genannt, und wie ein dünner, aber sichtbarer roter Faden zieht sich die Klage über den «Skandal» der Sklaverei durch das Buch. Doch seit 1776/89 ist mit Menschenrechten und Volkssouveränität etwas in der Welt, worauf sich auch Indianer, Kolonisierte oder Sklaven berufen konnten. Der Westen des Transatlantikers Winkler ist nicht vollkommen – enthält allerdings das Programm zur Vervollkommnung des Erdballs. Wer nach Gründen für den «Hass auf den Westen» (Jean Ziegler; siehe S. 10) sucht; wer auch nur an der potentiellen Perfektion des Abendlands zweifelt – und Zweifeln ist ja eine westlich-rationale Übung –, muss es aus der Perspektive von Edward W. Saids Osten oder Dieter Richters Süden betrachten.
Die Grande Armée wollte nichts anderes als der Koran
Napoleon – zum Beispiel – ist bei Winkler zwar nicht der Weltgeist zu Pferde, aber doch eine jener «historischen Gestalten, von denen man mit Fug und Recht sagen kann, dass die Weltgeschichte ohne sie einen anderen Verlauf genommen hätte». Bei Edward Said ist Napoleon Bonaparte der Feldherr, der Ägypten überfiel. Im Mai 1798 stach der 29-jährige General an Bord eines Flaggschiffs namens «L’Orient» in See und zog, nach der siegreichen Schlacht bei den Pyramiden, im Juli in Kairo ein. Neben rund 38.000 Soldaten hatte er einige Dutzend Wissenschaftler und Künstler im Schlepptau. Sie waren es, die die Expedition – militärisch wurde sie ein Fehlschlag – zum nachhaltigen Erfolg führten. Am bekanntesten wurden die archäologischen Funde, der «Stein von Rosette» etwa, die die Entzifferung der Hieroglyphen ermöglichten.
Edward Said zeigt, wie eng die Produktion von Wissen und der Kolonialismus miteinander verzahnt waren. Zunächst bereitete sich Napoleon auf den Feldzug vor, indem er alles über Ägypten sammelte und las, was die Pariser Bibliotheken hergaben. Und dann, während der Jahre im Land, führten die Gelehrten Grabungen, Messungen, Experimente durch und nahmen Kontakt zu den muslimischen Führern auf. Denn als Napoleon erkannte, dass seine Streitmacht nicht ausreichte, Ägypten zu unterwerfen, versuchte er den Imamen weiszumachen, die Grande Armée wolle nicht viel anderes als der Koran.
Die Basis für das Wirken der Wissenschaftler war das unverzüglich nach der Besatzung gegründete «Institut d’Égypte», mit Napoleon als Vize-Präsident. «Das Institut mit seinen Chemikern, Historikern, Biologen, Archäologen, Medizinern und Altertumsforschern galt als die wissenschaftliche Division der Armee, diente jedoch einem kaum weniger aggressiven Zweck als diesem: Ägypten in modernes Französisch zu übersetzen», schreibt Said – und zeigt, wie die Expedition schließlich in ein ganzes «Diskursuniversum» mündete. Ab 1809 erschien die «Description de l’Égypte»: 23 monumentale Folianten, die das nordafrikanische Land in Texten und Bildern erschlossen und deren Wirkung auf das westliche Bild vom Orient kaum zu überschätzen ist.
Saids «Orientalismus» ist ein Klassiker, jetzt gut lesbar neu übersetzt. Erstmals 1978 erschienen, haben Generationen von Studierenden damit gelernt, wie die Brille funktioniert, durch die der Westen den Osten jahrhundertelang sah. Wenn die napoleonische «Beschreibung Ägyptens» zum Gründungsdokument der Orientalistik wurde, so ist Saids «Orientalismus» heute ein Gründungstext der postcolonial studies: der Frage nach den Spuren, die das westliche Projekt des Kolonialismus in Geschichte, Literatur, Philosophie, in Identitäten hinterließ. Wie jeder Klassiker ist auch das Buch des 2003 verstorbenen palästinensischen Intellektuellen mit ätzender Kritik überzogen worden: Das politische Anliegen des Autors, den Orient vom Wahrnehmungsmonopol des Okzidents zu befreien, überdecke seine wissenschaftliche Neutralität. Doch dass das Buch nach dem 11. September 2001 an Aktualität verloren hätte, lässt sich nicht behaupten, im Gegenteil. Saids Resümee von Bonapartes Ägypten-Expedition klingt so: «Eine Region aus der jetzigen Barbarei wieder an ihre frühere Größe heranzuführen; den Orient (zu seinem eigenen Vorteil) in den Organisationsformen des modernen Westens zu unterweisen; … den Orient zu formen, ihn im vollen Bewusstsein seines Platzes in der Erinnerung, seiner Bedeutung für die imperialistische Strategie und seiner Rolle als ein ‹natürlicher› Besitz Europas neu zu gestalten …: Das sind die … Merkmale seiner orientalistischen Projektion.» Man muss kaum Namen in dieser Passage austauschen, um dabei an die noch immer unabgeschlossene Orient-Expedition des texanischen Westmanns George W. Bush zu denken.
Das Bild vom Süden beginnt zu flirrenZu den tragenden Gestalten in Winklers «Geschichte des Westens» gehört – zum Beispiel – auch der erwähnte Baron de Montesquieu: als moderner Vollender der christlichen Losung von der Unterscheidung zwischen den Sphären von Gott und Kaiser. Auf Dieter Richters Weg nach Süden tritt Montesquieu dagegen als Erfinder der Klimatheorie auf. Denn aller Staatsphilosophie dieses feinsinnigen Schriftstellers aus dem französischen Südwesten geht die Überzeugung voraus: «Die Herrschaft des Klimas ist die erste unter allen Herrschaften.» Mitten in seinem Hauptwerk «Vom Geist der Gesetze» (1748) geht Montesquieu der Frage nach, wie die unterschiedlichen Temperaturen im Norden und im Süden auf die geistigen und charakterlichen Eigenschaften der Menschen wirken. «Die kalte Luft», heißt es da, «zieht die Enden der äußeren Fasern unseres Körpers zusammen; dies vergrößert die Spannkraft und begünstigt die Rückkehr des Blutes von den äußeren Teilen nach dem Herzen. … Man hat daher in den kalten Himmelsstrichen mehr Kraft. Diese größere Stärke muss viele Wirkungen hervorbringen: z. B. mehr Selbstvertrauen, das heißt mehr Mut; größeres Bewusstsein seiner Überlegenheit, das heißt weniger Rachbegier; größeren Glauben an seine Sicherheit, das heißt mehr Freimütigkeit, weniger Argwohn, List und Verschlagenheit.»
Ob das alles so stimmt? Jedenfalls hat Montesquieu, der England, die Niederlande, die deutschen wie die italienischen Länder von seinen Reisen kannte, eine nicht enden wollende Reihe von Nachfolgern angesteckt. Montesquieus Südmensch war geistig träge und faul – man kennt das bis heute. Doch ebenfalls Mitte des 18. Jahrhunderts kehrte sich diese Wertung auch um. Für Winckelmann etwa, den großen Archäologen, waren Südländer vorbildlich schön, wenn auch in Abstufungen: «Die Neapolitaner sind feiner und schlauer noch als die Römer, und die Sizilianer mehr als jene.» Die deutschsprachigen Bibliotheken des 19. Jahrhunderts strotzen vor Italienliebe ebenso wie vor Italienhass. Der Süden war tief religiös und ausschweifend libertär. Er war der Ort, an dem elitäre «freie Geister» des Fin de Siècle Zuflucht fanden; und seit dem 20. Jahrhundert zeigt auch für Touristenmassen die «Kompassnadel des Glücks» nach Süden.
Jedes Detail dieses kulturgeschichtlichen Mosaiks ist säuberlich belegt: Insofern stimmt das alles. Je länger man das Mosaik aber betrachtet, desto stärker beginnt das Bild vom Süden zu flirren. Phantastisch, wie die westliche Aufklärung sich mit wissenschaftlichen Mitteln dieselben Menschen zugleich als faul und vorbildlich ausgemalt hat! Richter lässt in leichten, kurzen Kapiteln das Nacheinander und die Gleichzeitigkeiten der ungezählten Südens dieser Welt vorbeiziehen, und so wird der Leser wie von selbst zum ironischen Geografen: die einzige Haltung, mit der sich der kulturelle Kompass heute noch ablesen lässt.
Und zum Schluss scheint ein utopischer Ausweg auf. Nach einer kurzen Abschweifung über die Folgen des gegenwärtigen Klimawandels stellt Dieter Richter, nicht ohne Hoffnung, die Frage: «Könnte es nicht sein, dass Norden, Süden, Osten und Westen einmal ganz andere Qualitäten bekommen werden als jene, die wir seit dem Ende der letzten Eiszeit mit ihnen verbinden?»
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