- Im Wald da sind die Räuber
Im Unterholz der grünen Bergkämme gedeihen nicht nur Moose und Farne, auch Märchen, Mythen und düstere Sagen fallen im Erzgebirge auf fruchtbaren Boden. Ein Text von Josefine Gottwald & Ralf Günther
Als der ostfränkische König Heinrich im 11. Jahrhundert auf einem Feldzug das Erzgebirge durchquerte, nannte er die Gegend „Miriquidi“ – Finsterwald. Denn dem undurchdringlichen Urgehölz haftete etwas Düsteres an. Und so ist es eigentlich kein Wunder, dass dort, wo Sachsen noch immer am dünnsten besiedelt ist, Sagengestalten und märchenhafte Naturwesen seit Urzeiten ihr Unwesen treiben.
Vielleicht sogar stand hier so etwas wie ein Märchen ganz am Anfang der Entwicklung. Denn die Städte am Berg – Annaberg, Altenberg, Freiberg – sind einst durch geradewegs märchenhafte Erzfunde entstanden. Silber und Zinn hat man hier abgebaut, später Blei, Lithium, Uran. Der lockende Reichtum zog Bergleute an; um ihre Hütten herum wuchsen Höfe, Mühlen, Schmieden. Doch das Glück der Menschen war stets auch der Willkür höherer Mächte unterworfen: Im Wald waren eben nicht nur die Räuber, es gab auch Unwetter und wilde Tiere. Und im Inneren des Berges …, da begibt man sich ohnehin in Gottes Hand.
Geheimnisvolle Mächte
Die späte Christianisierung überformte die oft aus Angst geborenen alten Sagen mit christlicher Moral. Da versiegten plötzlich Erzadern, weil die Menschen die Gaben nicht gewürdigt hatten; und einen grausamen Tod im Berg fand, wer den Herrgott nicht recht gefürchtet hatte. So soll etwa einst ein Berggeist, erzürnt vom gottlosen Leben der Menschen im Ort Bärenstein, mit seinem Karren ausgezogen sein, um seine Schätze „lieber in Altenberg auszubreiten“. Und auch im Dreikönigsschacht im Westerzgebirge versiegte mit einem Mal die Erzader als Strafe für die Verschwendung der Menschen. Im Dunkel der Berge ist eben nichts ausschließlich rational; überall treiben geheimnisvolle Mächte ihr Spiel.
Da wäre etwa der schwarze Pudel von Hirschsprung: Mit seinen glühenden Augen soll er des Nachts die Zecher erschreckt haben. Und diesen Spuk beherrschte er derart glaubhaft, dass er später Eingang in die höchste Literatur finden sollte. In Goethes „Faust“ taucht der erzgebirgische Kläffer nämlich als teuflischer Mephisto wieder auf und prägte dort das Wort von „des Pudels Kern“. Kein Wunder, kannte doch der Geheimrat Goethe das Erzgebirge wie seine Westentasche. Auf dem Weg in die böhmischen Bäder hatte er oft den Kamm der dunklen Hügel gekreuzt. Und als Inspektor der Bergwerke – eines seiner vielen Weimarer Hofämter – fuhr er regelmäßig selbst in die tiefen Abgründe der Bergwelt des Thüringer Waldes ein.
Ein Ort, an dem Wunder möglich sind
Doch es gab im Erzgebirge eben nicht nur Mephisto, schließlich waren die Leute hier eigentlich brave Kirchgänger. Das hielt sie aber nicht davon ab, an Zwerge oder ähnliche kleine Gestalten zu glauben. In den Bergen gilt: Sicher ist sicher! Bis heute gewährt daher manch Erzgebirger den mystischen Figuren einen Unterschlupf im Hinterkopf; vielleicht mit ein Grund dafür, warum man die Menschen in dieser Region zuweilen für verschroben hält.
Aber es ist eben zu verlockend, den Gottesglauben neben den Aberglauben zu platzieren. Man muss ja nur einmal durch die einsamen Wälder in diesem Landstrich streifen, um bereit zu sein, an eine „Grüne Frau“ oder an das runzelige „Moosmännchen“ zu glauben. Letzteres kann der listige Wanderer übrigens nur erblicken, wenn er es aus dem Augenwinkel betrachtet. Dann wäre da noch das „Mätzel“, ein Teufel in Tiergestalt. Dieses, heißt es, könne Wohlstand verschaffen, wenn man es heimlich füttert. Das „Jüdel“ wiederum, ein spaßiges Kindergespenst, soll Neugeborenen ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Wer könnte behaupten, es nicht zu kennen? Abgeschiedenheit wirft den Menschen eben auf sein verlorenes Selbst zurück und lässt Einbildungen für wahr erscheinen. Da ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass die Montanregion Erzgebirge bis in die Neuzeit hinein als ein Ort erscheint, an dem Wunder prinzipiell möglich sind.
Abergläubisch aus Tradition
Von einem solchen Wunder erzählte auch der Schriftsteller Stefan Heym in seinem 1984 erschienenen Roman „Schwarzenberg“. Es ist die Geschichte eines Machtvakuums, das am Ende des Zweiten Weltkriegs an einer Schnittstelle des US-amerikanischen und des sowjetischen Einmarschgebietes entstanden sein soll. Weder die Amerikaner noch die Russen, so heißt es, wollten von dem abgelegenen und offenbar von einem mysteriösen Völkchen bewohnten Landstrich am südlichen Gebirgsrand Besitz ergreifen. Die Geschichte ist eigentlich historisch verbürgt, und doch wird sie bis heute auf immer neue Weise erzählt. Angeblich sollen die Schwarzenberger ihre Chance genutzt und die Regierung durch sogenannte Aktionsausschüsse selbst ausgeübt haben. Die „Freie Republik Schwarzenberg“ existierte ganze 42 Tage lang – und fügt sich wunderbar in diese sagenumwobene Welt aus Fabel, Fakt und Fantasie.
Mit der wiederentdeckten Identität als Grenzregion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erwachten Märchen und Hokuspokus zum vorerst vielleicht letzten Mal. Denn abergläubisch sind die Menschen im Erzgebirge aus Tradition. So ist seit geraumer Zeit wieder ein sogenanntes Liebstöckelkraut in Mode. Einstmals, sagt man, soll das Gesöff Flüche gebrochen haben, heute genießt man es eher als Kräuterschnaps. „Miriquidi“ wiederum, jener Finsterwald aus dem 11. Jahrhundert, ist längst zum Namen einer Rehaklinik geworden, und ein Weihnachtsschmaus namens „Neinerlaa“ verspricht noch immer kleine Wunder – und das mitten in einer Landschaft, in der man die mystische Allgewalt der Natur ganz gegenwärtig spüren kann.
Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Erzfreunde“ von Cicero und Monopol.
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