- «Ich bin meinem Heimatrecht auf der Spur»
Wir müssen historisch um mehr als hundert Jahre zurückgehen, um die Spur einer Dichterin wieder aufzunehmen, die aus unserer Gegenwart schon fast verschwunden schien. Dabei teilt sie durchaus nicht das Schicksal anderer Autoren, deren Namen allmählich in die Vergessenheit abgesunken sind: Nelly Sachs, geboren am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs in Berlin und gestorben am 12. Mai 1970 in Stockholm, war immerhin die erste Literaturnobelpreisträgerin deutscher Sprache.
Auf diese endlich glückliche Wendung ihres Autorinnen-Weges hatte lange kaum etwas hingedeutet, ja, es erschien alles andere als wahrscheinlich, dass diese Schriftstellerin an ihrem 75. Geburtstag im Jahr 1966 die höchste Ehrung erhalten sollte, die die literarische Welt zu vergeben hat. Als Nelly Sachs Ende des 19. Jahrhunderts in der Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs geboren wurde, musste man vielmehr davon ausgehen, dass diesem einzigen Kind eines jüdischen Gummiwarenfabrikanten eine Zukunft als höhere Tochter, dann einer wohlsituierten Ehefrau vorgezeichnet war. Kunst spielte in ihrem Elternhaus keine herausragende Rolle: Der Vater setzte sich abends an Klavier, die Mutter wusste in der Literatur Bescheid, aber im Vergleich etwa zum Aufwachsen der 1883 geborenen Katia Pringsheim im Kreise bedeutender Künstler und Musiker ihrer Zeit war dieses Herkommen doch bescheiden – ein normales bürgerliches Leben schien das Wahrscheinlichste.
Eine Geschichte des Staunens Doch stand die Entwicklung der Nelly Sachs nicht nur im Zeichen ihrer überempfindlichen seelischen Konstitution. Es war insbesondere die rassistische Brutalisierung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dieser Lebensgeschichte alle Sicherheit nahm – den Abreisebefehl in ein Arbeitslager schon in der Tasche, floh die 49-Jährige mit ihrer Mutter in letzter Minute ins Stockholmer Exil. Und erst hier bildete sich ihre unverwechselbare lyrische Stimme, fand sie ihr eigentliches Thema.
Dass wir diesen langen, gewundenen Weg auf die Höhe einer künstlerischen Entwicklung jetzt nachvollziehen und darin sogar allerhand Neues entdecken können, ist der von Aris Fioretos betreuten vierbändigen Werkausgabe zu danken, deren erste Bände soeben erschienen sind – begleitet von einer Bildbiografie, die zugleich das Katalogbuch zu der Nelly Sachs gewidmeten Wanderausstellung «Flucht und Verwandlung» bildet. Dies sind nicht nur zwei gute Taten für die Literatur und eine ihrer herausragenden Autorinnen. Es ist auch eine Erinnerungs-Tat, die uns heutige Leser angeht. Denn wer der Entwicklung dieses Werks folgt, wird ein ums andere Mal nur staunen können: über Gedichte, deren Modernität in Bildern wie Zeilenfall so gar nichts von der Abgestandenheit der mit Genitiv-Attributen durchsetzten Nachkriegs-Lyrik an sich hat – und über eine poetische Radikalität, die uns nicht selten in ein kulturelles Gelände zurückführt, dem die meisten von uns längst entfremdet sind: in die Bilderwelten des Alten Testaments und die Vorstellungen der jüdischen Mystik.
Nicht zuletzt aber gibt es hier eine Autorinnengeschichte zu bewundern, die mit der herkömmlichen literarischen Entwicklung einer Schriftstellerin kaum etwas gemein hat: eine Geschichte der Zaghaftigkeit und Bestürzung, des erzwungenen äußersten Rückzugs – und eine solche ungebrochener innerer Stärke, des so selbstbewussten wie
selbstkritischen Festhaltens am eigenen Lebens- und Schreib-Projekt, dem am Ende dann (wie unwahrscheinlich auch dies!) die größtmögliche Anerkennung zuteil wird. «Ich bin ja niemals eine Dichterin gewesen», stellte Nelly Sachs zu einer Zeit, da sich ihr Ruhm allmählich zu verbreiten begann, einer Freundin gegenüber fest. «Habe nie einen Schreibtisch bis zum Augenblick besessen – meine Manuskripte liegen hier im Küchenschrank.» Ihrer Lektorin, der Lyrikerin Elisabeth Borchers, schrieb sie: «Ich selbst bin kein literarischer Mensch. (…) Ja eigentlich bin ich eine richtige Hausfrau. Niemals eine Dichterin. So fremd dieser Ausdruck. Aber können wir Frauen es auch eigentlich sein. Wir werfen doch unser Leben in Flammen und stammeln dahin in äußerster Not.» In diesen Selbstbeschreibungen kommt vieles zusammen: Realismus und Selbstironie, vor allem aber die vorläufige Bilanz eines gepeinigten Lebens, das zu diesem Zeitpunkt über sechs Jahrzehnte gewährt hatte – «in äußerster Not» hatte Nelly Sachs ihre Jahrhundert-Erfahrungen gesammelt.Geburt einer neuen Sprache Aber auch mit einem «Hausfrauen»-Leben, das sich in der Pflege erst für den krebskranken Vater, dann für die hochbetagte Mutter verbrauchte, in dem Berufstätigkeit und daher auch materielle Absicherung nicht vorkamen; das Schreiben fand nachts, bei abgedunkelter Lampe, in einer winzigen Stockholmer Einzimmerwohnung statt, die Nelly Sachs und ihre Mutter teilten. Noch im Jahr 1950 wurde ihr die schwedische Staatsbürgerschaft verweigert, «aufgrund ungesicherter sozialer Verhältnisse». Und doch entstand hier und so das eigentliche literarische Werk der Dichterin. Geschrieben hatte sie schon früh in Berlin, von dessen auch literarisch bewegter Zwanzigerjahre-Szene sie sich jedoch fernhielt. Was sie an Prosa und Lyrik verfasste, gelangte kaum je zum Druck, eine wesentliche Ermutigung kam von der bewunderten schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, die Nelly Sachs auf einer Postkarte generös mitteilte: «Hätte es selbst nicht besser tun können.» Die junge Autorin aber wusste es womöglich besser, jedenfalls drängte sie nicht in die Öffentlichkeit. Und wollte später nichts von dem, was vor dem Exil entstanden war, in ihr veröffentlichtes Werk aufgenommen wissen. Die eigene Sprache und ihr zentrales Thema – das «Leben unter Bedrohung», der Holocaust – hatte sie erst in Stockholm gefunden, alles Vorige erschien demgegenüber konventionell, epigonal, nicht der Rede wert.Zum AutorDie Lyrikerin und Autorin szenischer Dichtungen Nelly Sachs, geboren 1891 in Berlin, musste 1940 aus Deutschland fliehen. Sie lebte fortan in Stockholm, wo sie – zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Josef Agnon – 1966 den Literaturnobelpreis erhieltDieser Maßgabe der Autorin folgt nun auch die Werkausgabe. Doch macht sie neben den früher schon erschienenen Gedichtsammlungen auch einen großen Bestand an bisher Unveröffentlichtem zugänglich – und so sieht man hier nicht nur ein Werk, man sieht auch eine Autorin wachsen, in Bildern poetischer «Durchschmerzung» der Geschichte des jüdischen Volkes. Doch findet darüber auch der ganz persönliche Schmerz der Dichterin Nelly Sachs zur Sprache. Als Siebzehnjährige schon hatte sie (nach einer unglücklichen, bis heute unaufgeklärten Liebesgeschichte, die als thematischer Unterstrom auch das Spätwerk durchzieht) wegen eines psychosomatischen Leidens eine Klinik aufsuchen müssen; in späteren Jahren wurde sie von paranoiden Schüben heimgesucht, die immer wieder Klinikaufenthalte nötig machten. In diesem Kontext stehen etwa die Gedichte aus dem Zyklus «Glühende Rätsel», der Zeugnis gibt vom «Brennesselwald des Wahnsinns» und für das Leiden der in der Psychiatrie verwahrten «Fürstinnen der Trauer» sinnliche Bilder findet. Hier auch notiert Nelly Sachs Ende der sechziger Jahre das Gedicht «Ich bin meinem Heimatrecht auf der Spur / dieser Geographie nächtlicher Länder / Wo die zur Liebe geöffneten Arme / gekreuzigt an den Breitengraden hängen / boden los in Erwartung» – beides fließt darin wenige Jahre vor ihrem Tod zusammen: ihr eigenes Dasein wie das ihres Volkes.
Alle Gedichte der neuen Ausgabe sind sorgfältig kommentiert, es gibt überdies eine detaillierte Zeittafel, so dass es – zumal mit der lebendig-instruktiven Bildbiografie in der Hand – nicht schwerfällt, Leben und Werk aufeinander zu beziehen und den Reichtum beider unter den Bedingungen äußerer wie innerer Drangsal zu erkennen. Dass Nelly Sachs’ «Bruder» Paul Celan, der ihr Nächste unter den jüngeren Dichtern, dass ihr Entdecker und erster deutscher Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, aber auch Ingeborg Bachmann, die ihr eines ihrer späten Gedichte widmete, in dieser Lyrikerin die unmittelbare Vorläuferin einer neuen, zugleich befreiten und geschichtsschweren Sprache erkannten, nimmt danach nicht wunder: Wir wohnen, Nelly Sachs’ Poesie lesend, der Geburt einer neuen Literatursprache inmitten des Grauens bei.
Aris Fioretos (Hg.) Nelly Sachs Werke. Kommentierte Ausgabe. Band 1 Gedichte 1940–1950, Band 2 Gedichte 1951–1970 Suhrkamp, Berlin 2010. 350 bzw. 450 S., jeweils 44€
Aris Fioretos Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Eine Bildbiographie Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Suhrkamp, Berlin 2010. 300 S., 29,90€ Die Ausstellung «Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/ Stockholm» wurde am 24. März im Jüdischen Museum Berlin eröffnet und wandert bis zum kommenden Jahr über Stockholm und Zürich nach Dortmund
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