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Großstädterin wird Bäuerin - Die Aussaat lässt sich nicht googeln

Kolumne Stadt, Land, Flucht: Land ist #Neuland – zumindest für Großstädter. Unsere Kolumnistin Marie Amrhein lebt jetzt in dieser bäuerlichen Welt, die sie nicht im Internet suchen kann. Das findet sie ungewohnt. Unbefriedigend. Und ziemlich aufregend

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Die Schweizer machen sich Sorgen um ihre Kinder. Die nämlich leiden – so kann man es gerade in den Zeitungen des Alpenlandes nachlesen – unter einem Natur-Defizit-Syndrom oder zumindest der Indoor-Krankheit. Der Bewegungsradius von Kindern und Jugendlichen nimmt demnach seit 60 Jahren stetig ab. Schuld seien die vielen Straßen, der Verkehr, der ein selbstständiges Bewegen in der Umwelt kaum mehr ermöglicht.

Was doch klar ist, liebe Schweizer: Auch der Bewegungsradius von uns Erwachsenen nimmt drastisch ab – und das, obwohl wir relativ sicher selbst im Überqueren einer vierspurigen Verkehrsachse sind. Das lässt sich unter anderem an zunehmenden Rückenproblemen wegen des vielen Sesselsitzens ablesen. Unsere Sorge sollte daher vielleicht viel mehr uns Erwachsenen gelten. Denn die Kinder leben, was wir ihnen vormachen. Und wenn irgendwo ein Defizit besteht, dann doch bei uns.

Defizitäres Naturverständnis
 

Bewiesen haben das gerade Forscher von der Clark University um Colin Polsky. Die US-amerikanischen Wissenschaftler hatten zu beweisen versucht, dass sich in den vielen Ballungsräumen vor den Toren der Großstädte die Gärten gleichen wie ein Ei dem anderen. Sie befragten dann Tausende Hausbesitzer in Städten wie Boston, Miami, Minneapolis und Los Angeles nach ihrer Rasenpflege und erfuhren, dass ihre steile These mit der Realität nichts zu tun hat.

Düngung und Wässerung  unterliegen großen regionalen Unterschieden. Rasen ist nicht gleich Rasen, Boden nicht Boden, Wasser und Sonneneinstrahlung genau so wenig. Und die Jungs von der Clark University haben damit deutlich ihr defizitäres Naturverständnis unter Beweis gestellt.

Mir geht es im Moment ähnlich. Ich lebe auf unserem Bauernhof in einer neuen Welt, die tausend Fragen aufwirft und das Schlimmste dabei ist: Ich kann die Antworten nicht googeln. Das ist ungewohnt. Unbefriedigend. Und ziemlich aufregend.

Hier auf dem Land sind die Bauern gerade im Stress. Klar, es ist März und sogar Indoor-geschädigte Kinder kennen die Formel des Frühlings:

„Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt. / Er setzt seine Felder und Wiesen instand. / Er pflüget den Boden, er egget und sät / und rührt seine Hände frühmorgens bis spät.“

Jetzt geht es also los. Weiden müssen gestriegelt, Bodenproben entnommen, Wiesen gedüngt, Samen gepflanzt und Gräser nachgesät werden. Währenddessen lassen die Pferde ihr Winterfell in dicken staubigen Wolken auf dem Putzplatz zurück, Schneeglöckchen und Krokusse machen Platz für sonnengelbe Osterglocken.

Das verdammte Jakobskreuzkraut


Letztere sind die Blumen, die ich als entwurzelter Stadtmensch erkenne, auf den Weiden kann ich das alles umflorende Moos gerade noch identifizieren. Aber dann? Wenn ich dachte, wir als Weidelandbetreiber hätten nur mit Gras zu tun, habe ich mich getäuscht. Wir haben viel zu viel Zeug, das wächst und nicht hierhergehört. Da ist zuallererst das verdammte Jakobskreuzkraut – ungesund für Pferde, giftig aber vor allem für die wiederkäuenden Kühe und Schafe. Von unbedachten (natur-defizitgeplagten) Verkehrsplanern an die Grünstreifen der Autobahnen gepflanzt, breitet es sich seit Jahren auf den hiesigen Weiden aus und bringt die Bauern ins Schwitzen. Die wiederum organisieren Suchaktionen, die denen nach verschollenen Kindern im Krimi ähneln: Meter für Meter muss das Weideland abgegangen werden, um die gelb blühende Pflanze auszureißen. Dann gibt es noch die Quecke, den Hahnenfuß, den Schachtelhalm und zu viel Löwenzahn ist auch nicht gut.

Da brummt der Neubäuerin schon mal der Kopf, sie legt sich in die Mittagssonne auf die moosige Frühlingswiese, am knallblauen Himmel ziehen zwei – sind es Mäusebussarde? – Kreis um Kreis, meisterlich synchron, dann und wann ein kehliger Schrei. Oben in der Fichte sitzt ein kleiner gelblicher Vogel inmitten des tausendfachen Zwitscherns seiner Kollegen, mal keckernd, mal flötend.

All diese Töne und Pflanzen, so viel Unwissenheit, die das Wiedererwachen der Natur uns aufs Land gezogene Stadtmenschen gewahr werden lässt. Und kein Großvater weit und breit, der mit der Pfeife an der warmen Backsteinmauer sitzt und sein Wissen weitergibt, der die Rufe den richtigen Tieren zuordnet oder die Kräuter auf der Erde erklärt. Da sitzen wir nun: hier im Heilungszentrum für naturdefizitäre Indoorgebrechen.

Dass wir Städter wirklich keine Ahnung vom Landleben haben, zeigt ein Fehler, der in einer früheren Version dieses Artikels steckte. Statt „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“ hieß es dort fälschlicherweise „anspannt“. Wir danken unseren Facebook-Lesern für den Hinweis.

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