- Mann gegen Mann
Mag Fußball auch offiziell ein Mannschaftssport sein: Die entscheidenden Momente, seien es Fehler oder Geniestreiche, spielen sich zumeist in 1-gegen-1-Situationen ab. Hier zählt dann individuelle Klasse. Das wird bei der heutigen Partie zwischen Portugal und Deutschland nicht anders sein. Eine Analyse.
Sind Sie professioneller Tipper? Knien Sie sich in Metriken, Form- und Heimspieltabellen, Direktbegegnungsbilanzen rein, um eine empirisch sattelfeste Ergebnisvorhersage zu erstellen? Haben Sie Spaß, Fifa-Weltranglistenplatzierungen, Verletzungen, Anzahl von Spielen in den letzten zwei Wochen, Torwahrscheinlichkeiten, häufigste Ergebnisse, vielleicht sogar Marktwerte so lange zu schleifen, bis man diese völlig unterschiedlichen Größen zusammenzählen kann? Während Sie Ihr Drehbuch verfassen, schreibt der Fußball seine eigenen Geschichten.
Das spricht nicht gegen Ihre Prognose, sondern für den Sport – und für das Geschäftsmodell von Wettbüros. Jedenfalls zu den spannenderen Spieltagsprognoseinstrumenten zählt der Eins-zu-Eins-Spielervergleich: Der als stärker eingestufte Spieler bringt seinem Team einen Punkt; dasjenige Team, das schließlich mehr Punkte hat – maximal elf – darf sich über einen Vorabsieg freuen. Ob somit Deutschland gegen Portugal gewinnen wird? Die einleitende Frage aufnehmend: Nein, ich bin kein professioneller Tipper. Und wenn ich die Wahl hätte zwischen einem guten Tipp und einem guten Fußballspiel, würde ich letzteres nehmen.
Rui Patrício vs. Manuel Neuer, 0:1
Neuer ist zwei Jahre älter und gefühlte acht Jahre erfahrener. Und trotzdem hat Patricio mit seinen Portugiesen einen Titel mehr gewonnen: Während sich Neuer den WM-Titel 2014 in seinen Lebenslauf schreiben darf, hat jener die Nations League und auch die vorige Fußball-Europameisterschaft gewonnen. Neuer bringt drei Zentimeter mehr aufs Meterband und hat beide direkte Begegnungen (man kennt sich nur auf Nationalmannschaftsebene) gegen Patrício gewonnen. Nicht zuletzt, weil er fünffacher Welttorhüter und dominierender Schlussmann der Zehnerjahre ist, viele Gegenspieler ihn fürchten und er abgezockter als Max Kruse am Pokertisch ist, dürfen wir den Punkt an Deutschland geben.
Nélson Semedo vs. Matthias Ginter, 0:2
Ginter befindet sich in nahezu bestechender Form und hielt gegen Frankreich dagegen wie kein zweiter seines Teams. Semedo war Teil der UEFA-Nations-League-Gewinnermannschaft; Ginter holte – ohne Einsatz – den WM-Pokal in Brasilien sowie den Confederations Cup 2017 in Russland. Die beiden 27-Jährigen unterscheiden sich satte 14 Zentimeter in Körperlänge, wobei Ginter hier derjenige ist, der überragt; Gerüchten zufolge spielte die Größe bei Innenverteidigern eine wichtige Rolle – ein Fabio Cannavaro kommt nur sehr vereinzelt vor. Ginter, aufmerksam, intelligent, sicher, kann inzwischen auch richtig eklig sein, vermeidet dabei aber elegant Gelbe Karten: In der Fußball-Bundesliga hat er noch nie eine Gelbsperre absitzen müssen. Erst zwei Minuten lang haben die beiden bisher gegeneinander gespielt, und nicht nur aus dieser Partie, sondern auch aus diesem Vergleich geht der Mönchengladbacher als Sieger hervor.
Pepe vs. Mats Hummels, 0:3
Spielt denn der kleine Pepe noch? Das mögen sich hier einige fragen. Erstens ist Pepe nur vier Zentimeter kleiner als der bekanntlich stattliche Hummels; zweitens dürfte es nur wenige derart knackige, im Saft stehende sowie kompetitive 38-jährige Profifußballer wie den dreifachen UEFA-Champions-League-Sieger geben; drittens hat Pepe niemandem etwas zu beweisen, außer sich selbst. Da allerdings Pepe nie gegen Deutschland gewonnen hat (drei Niederlagen in drei Spielen, Torverhältnis 2:8), Hummels gegen den Weltmeister zwar auf dem Papier ein Eigentor versenkt, dieses aber nur zur Hälfte zu verantworten hat, bei Standards gefährlich ist und durchaus lichte Momente hatte gegen Mbappé & Co, gebe ich auch diesen Punkt dem DFB-Auswahlspieler. Ich traue Hummels zu, gegen Ronaldo eine ordentliche Partie hinzulegen, während Pepe von Müller in 90 Minuten das eine oder andere Mal überrascht werden könnte.
Rúben Dias vs. Antonio Rüdiger, 1:3
Knappes Ergebnis, aber ich sehe den Mann von Manchester City vorn. Seine Offensivfähigkeiten sind etwas ausgeprägter, er hat mehr Möglichkeiten im 1 gegen 1 und ist um klare Ansagen gegenüber seinen Mitstreitern nicht verlegen. Außerdem hat er die bessere Ballführung, gerade bei kleinen Abständen zum Gegner, kann ein Spiel im Alleingang umschalten von Verteidigung auf Konter, und nur wenige in der Premier League spielen intelligentere Grätschen. Überdurchschnittlich viele Pässe Dias', gerade auch lange Bälle, kommen beim Mitspieler an. Physisch nehmen die beiden Rechtsfüßer sich nicht viel, auch Dias ist ein Kraftpaket, vielleicht wird Rüdiger bei Kopfbällen eine zehntel Sekunde früher am Ball sein. Alle drei bisherigen Aufeinandertreffen hat übrigens Rüdiger für sich entscheiden können. Während Rüdiger mit einer Niederlage in den Wettbewerb gestartet ist, hat Portugal gegen Ungarn einen ungefährdeten Sieg feiern dürfen.
Raphaël Guerreiro vs. Robin Gosens, 2:3
Die größere spielerische Anlage hat der Portugiese; auch bei den Torbeteiligungen sehe ich kleine Vorteile beim Borussen. Hingegen Gosens zieht gern mal von außerhalb des Strafraums ab. Stärker im Passspiel ist Guerreiro; schwächer dagegen bei Kopfballduellen. Gosens geht lieber ins Tackling und gewinnt Bälle, foult dafür auch häufiger. Auch hat Guerreiro das vorige EM-Turnier gewonnen. Bei Gosens könnte sich die größere, robuste Statur auszahlen, vor allem bei Standards. Gegen Portugal erwarte ich eine zähe Partie, bei der ein Freistoß zum entscheidenden Tor führen könnte. Gosens hatte gegen Frankreich dies und das probiert, ohne wirklich zu zünden und erinnert damit an Jörg Böhme. Vielleicht spekuliert Joachim Löw darauf, dass auch die Portugiesen Gosens Freiräume geben bis etwa 20 Meter vor dem Tor, um ihn dann so einzusetzen, dass er von dort einen sogenannten Gewaltschuss versenkt. Die zwei Spieler treffen zum ersten Mal aufeinander. Punkt für Portugal.
William Carvalho vs. Joshua Kimmich, 2:4
Ja, gegen Frankreich zeigte Kimmich eine dürftige Leistung, bekam keinen richtigen Zugriff aufs Spiel, gab die Vorlage zum Eigentor und rieb sich mehr auf als anzutreiben. Ob es gegen den Europa- besser laufen wird als gegen den Weltmeister? Sicher ist nur: Viel schlechter geht es nicht. Die Angriffsreihen der Südeuropäer werden Kimmich mehr Freiheiten gestatten. Wenn er dieses Mal mit den Vorderleuten auf seiner Seite harmoniert, Diogo Jota keinen Übertag erwischt, und die deutsche Dreierkette ähnlich sicher steht, kann Kimmich zum Unterschiedsspieler dieser Partie werden. Seine Torbeteiligungen, seine Angstfreiheit, seine Gattuso-artige Bulligkeit, seine Ballverarbeitung, seine Unermüdlichkeit, seine Durchschlagskraft, sein permanentes Spielercoaching sprechen für ihn. Seine Eckbälle und Standards jedoch nicht; hierfür sollte Löw-Nachfolger Flick mehr Variationen entwickeln, weg vom Stammsechser des FC Bayern München. Obwohl er auf seiner wenig geliebten Zweitposition spielt, ist Kimmich Carvalho in einem normalen Spiel überlegen. Ihr bisher einziges Duell, bei der U-21 EM 2015, gewann Carvalho.
Danilo Pereira vs. Toni Kroos, 2:5
Diesen Vergleich gewinnt der Greifswalder. Abgebrühter, ballsicherer, ein vorausschauender Taktgeber, der – auch wenn er darauf seit nun 18 Monaten warten muss – für eine Torbeteiligung gut ist: et voilà, Toni Kroos. Seine beiden bisherigen Spiele gegen Portugal – jeweils ohne Danilo Pereira – hatte er gewonnen, wobei er beim ersten Mal nur drei Minuten spielte. Pereira ist schneller, Kroos kann auch mal einen Distanzschuss aus dem Koffer holen. Im defensiven Mittelfeld daheim, mögen Pereiras Tackling- und Ballabfang-Fähigkeiten ausgeprägter sein, so auch seine Statur. Zwar stellt sich der Portugiese beim Kopfballspiel geschickter an; dafür hat Kroos insgesamt den besseren Abschluss und macht weniger Fehler beim Passspiel. Kroos' Spielintelligenz gleich seine Nachteile im Sprint aus, und gefühlt ist er immer anspielbar. Da es gegen Portugal eine aufgeregte Partie werden könnte, haben beide Spieler Chancen auf eine frühe Gelbe Karte, was Pereira eher wehtun würde als Kroos.
Bruno Fernandes vs. Ilkay Gündoğan, 3:5
Beide Rechtsfüßer haben eine geradezu fantastische Saison hingelegt – nur endete sie beim Portugiesen gänzlich ohne Titel, und beim Gelsenkirchener mit einem verlorenen Finale im bedeutendsten Wettbewerb für Vereinsmannschaften. Fernandes spielte gegen Ungarn 89 Minuten, und Gündoğan gegen Frankreich 90 Minuten. Beim Aufeinandertreffen heute werden in München gut 30 Grad Celsius erwartet, was Fernandes eine Spur besser verkraften dürfte. Die Farben ihrer Vereine Manchester United und Manchester City tragend, sind sich beide Spieler bisher drei Mal gegenüber gestanden: zwei Mal siegreich Fernandes; ein Mal Gündoğan. Fernandes dürfte gegen Deutschland etwas mehr Freiräume haben als Gündoğan und hat mit Diogo Jota sowie Cristiano Ronaldo einen exzellenten und einen außerirdischen Ballabnehmer; bei Gündoğan heißen die Pendants Müller und Gnabry – entscheiden Sie selbst, welches Trio mehr verspricht. Unter der Voraussetzung, dass es dem deutschen Mittelfeld nicht gelingen wird, Fernandes mit kleinen Sticheleien die Lust am Kicken zu nehmen, gebe ich meinen Punkt Fernandes.
Bernardo Silva vs. Kai Havertz, 4:5
Punkt für Silva. Stimmt zwar, dass Havertz in der Nationalmannschaft eine relativ höhere Torgefahr aufweist, und ferner Silva in diesem Jahr erst eine Torvorlage für Portugal verbucht. Nur hat Havertz die wenngleich aufregendste, auch schwierigste Saison seiner bisherigen Karriere hinter sich. Und er war auch gegen Frankreich – Portugal mag physisch nicht ganz so gut aufgestellt sein wie die Équipe – nicht auf der Höhe seines Könnens. Was nützt Talent, wenn es nicht gehoben wird? Der 22-Jährige hat unbestreitbare Qualitäten im Dribbling, beim Passen und Ballannahme/-verarbeitung. Von den Spielmacherqualitäten, vielleicht auch dem Spielwitz und der Spielintelligenz, ja, der damit verbundenen Selbstverständlichkeit seines portugiesischen Spiegelspielers – man sah sich zuletzt am 29. Mai in Porto – aber ist er derzeit entfernt. Für Havertz kommt dieses Turnier ein Jahr zu spät. Zwar begeht Havertz nur wenige Fouls, antizipiert Torchancen, und auch seine taktischen Finessen abseits des Balls lassen sich sehen. Nur traue ich Silva eher zu, in dieser voraussichtlich zähen Partie ins Tackling zu gehen, den Ball zu halten und einen entscheidenden Pass zu spielen.
Diogo Jota vs. Serge Gnabry, 4:6
Vorteil DFB-Elf. Gnabry ist gerissener, schießt mehr Tore und ist defensiv eine Note besser als Jota, gerade auch bei Balleroberungen. Die beiden sind einander noch nie auf dem Spielfeld begegnet. Und während Gnabry noch kein Länderspiel gegen Portugal erlebt hat, gilt gleiches bei Jota für Deutschland. Lässt sich Gnabry von Pepe nicht auffressen, und bekommt Thomas Müller personalintensive Sonderbewachung, dann könnte Chefkoch Gnabry vor heimischen Publikum, in seiner Stammarena, mit einem nicht zu berechnenden Schuss im 16er zum Mann des Abends werden. Joachim Löw trichtere ihm einfach ein, dass es gegen ein Team aus London geht, denn gegen diese netzt Gnabry am liebsten ein. Gnabry zieht über die Außen, dribbelnd, gern nach innen und fackelt vor dem Tor nicht lange. Beim Frankreichspiel in der 74. Minute ausgewechselt, braucht es gegen Portugal nun, was man „seriösen Fußball“ nennt: kurze Pässe, überlegter Spielaufbau, Abschlüsse aus aussichtsreichen Positionen. Und vor allem: keine Kunst. Bleibt zu hoffen, dass er – als vermeintlicher „Kniff“ – nicht im offensiven Mittelfeld aufgestellt wird.
Cristiano Ronaldo vs. Thomas Müller, 5:6
Das Angenehme an Einzelvergleichen: Jahrzehntspieler wie diese beiden entziehen sich einem Besser-Schlechter-Schema. Dass ich den letzten Punkt trotzdem Ronaldo gebe, liegt zum einen daran, dass ich hier keine Unentschieden verteile; zum anderen hat dieser portugiesische Einviertelgott zwei Tore beim ersten Spiel seiner Mann bei dieser Europameisterschaft erzielt: ja, ein Elfmeter, und dann ein Schüsschen ins leere Tor. Thomas Müller hingegen hatte wie viele klare Torchancen gegen den Weltmeister? Nicht uninteressant: CR7 und esmuellert sind sich bereits zehn Mal begegnet auf dem Fußballrasen. Wissen Sie, wer häufiger gewonnen hat? Ronaldo, fünf Mal. Dafür sei erinnert an den 16.06.2014: Damals gelangen Müller drei Tore gegen die Südeuropäer, allerdings bei der WM. Trifft Ronaldo, baut er wieder diverse Rekorde aus. Trifft Müller, wäre es eine EM-Premiere für ihn.
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auf die Mannschaften und je für sich scheint unsere Mannschaft vielleicht sogar überlegen, wenn Ronaldo nicht wäre.
Nun sollen ja beim Spiel England vs Schottland bei den Engländern auch hochkarätige Spieler auf dem Feld gewesen sein, aber von der Mannschaft habe ich nichts gesehen.
Schottland kam mir vor wie ein kleiner Bruder von Frankreich, robust, spielerisch überzeugend, einfallsreicher, kurz, sie hätten den Sieg gestern Abend verdient.
Da fällt mir auch ein evtl. ziemlicher Unterschied zwischen Müller und Ronaldo ein.
Ronaldo ist robust, Müller evtl. spielerisch besser.
Gemessen an den Engländern, Gestern, spielte jedoch die Budesrepublik fast eine Liga besser gegen Frankreich.
Okay, sage ich eben nicht mehr Mut, sage ich, sie müssen sich also nicht verstecken, sollten aber sowohl ein Spiel zustande bringen, als auch einzeln punkten.
Es wäre schade, wenn die deutsche Mannschaft nicht weiter käme.
Wahrscheinlich wird der Bessere gewinnen:)
DER FUSSBALL HAT AUF ALLE FÄLLE GEWONNEN
Die These des Artikels ist m. E. nicht so ganz korrekt.
Jede Mannschaft, jedes Team profitiert immer auch und gerade von der Spitzenleistung - einzelner - Mitglieder.
Ich würde sogar sagen...k e i n Team wäre ohne diese einzelnen Leistungsträger je erfolgreich.
Entscheidend ist nur wie sehr jeder auch bereit ist für einen anderen Teamplayer zurückzutreten (weil der z. B. die bessere Torchance hat).
Klappt das gut, dann ist das Team auch erfolgreich.
Erwartungsgemäß wenig Aufkommen in diesem Kommentarbereich. Die Ciceronen schreiben lieber, wenn Deutschland verliert und man auf Löw schimpfen kann.:-)
Wahrscheinlich drückt man am Mittwoch den Ungarn die Daumen, empört sich über Neuers Armbinde und dass auch das Stadion in Regenbogenfarben erstrahlen soll. Um Himmels Willen! Hoffentlich knien die Deutschen nicht aus Protest gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt. Dann wäre wohl endgültig der Rubikon überschritten.