- Existenzangst auf Leinwand gebannt
Sotheby's versteigerte in New York Edvard Munchs „Der Schrei“ für einen Rekordpreis von knapp 120 Millionen US-Dollar. Doch was macht dieses Bild so besonders? Es ist das Elend der Menschenseele, das uns von der Leinwand aus anspringt
Der Himmel schlägt bedrohlich feurige Wellen, darunter eine blau-grüne, scheinbar unberührte Landschaft. Eine Brücke führt unausweichlich in die Tiefe heraus aus der sicheren Landschaft zum Horizont, dort wo der glühende Himmel auftrifft. Die Fußgänger auf der Brücke scheinen davon nichts zu ahnen, bis auf die geschlechtslose Figur im Vordergrund: Ihr Körper windet sich, sie schlägt die überlängten Hände auf die Ohren, die Augen des totenkopfähnlichen Gesichts sind vom Schrecken gezeichnet, sie reißt den Mund weit auf – es entweicht ein gellender Schrei.
Moment – ein Schrei? Aus einem Gemälde? Ein Schrei, hervorgerufen durch Farben? Das Paradox, ein akustisches Ereignis visuell festzuhalten, gelingt dem norwegischen Maler Edvard Munch um die Jahrhundertwende. Mit „Der Schrei“ schafft er ein Schlüsselbild der Kunstgeschichte, einen Meilenstein für den Expressionismus, für dessen Entwicklung das Bild so bedeutend ist. Am 2. Mai 2012 wurde das letzte von vier Gemälden, die dieses Motiv aus Munchs Hand zeigen, aus Privatbesitz bei Sotheby’s in New York versteigert. Mit 119.922,500 US-Dollar wurde dabei der bisher höchste Preis, der jemals in einer Auktion geboten wurde, erziehlt. Der zurückhaltende Schätzpreis lag vor der Auktion bei 80 Millionen Dollar. Experten hatten jedoch bereits vermutet, dass der neue Besitzer weit mehr für das Pastellbild würde hinblättern müssen.
Gut 100 Jahre nach der Entstehung hat „Der Schrei“ Munchs Kultstatus. Ähnlich wie die Mona Lisa Leonardo da Vincis oder die Werke Andy Warhols gibt es ihn als T-Shirt, Poster und Postkarte, als Magnet, Lesezeichen und als Adaption in anderen Werken, wie beispielsweise dem US-amerikanischen Horrorfilm „Scream“. Doch all die Begeisterung, all die Bezüge auf diese Arbeit eines norwegischen Malers verkennen zu häufig, welch tief angsterfülltes Thema mit den scheinbar so fröhlichen Farben in diesem Motiv zum Ausdruck kommt.
[gallery:Edvard Munchs Kultbild "Der Schrei"]
Sein eigenes Leben beschreibt Edvard Munch von Anfang an düster. Am 12. Dezember 1863 wurde er als zweites Kind in die streng religiöse Familie Munch geboren. Man „beeilte sich, mich notzutaufen, weil man glaubte, ich würde sterben. (...) Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wache an meiner Wiege. Sie haben mich mein ganzes Leben lang begleitet.“ Entgegen der Erwartungen überlebte der kleine Edvard. In den kommenden fünf Jahren gebiert seine Mutter weitere drei Geschwister, dann stirbt sie, völlig geschwächt an Tuberkulose. Der Abschied von der Mutter bleibt Munch traumatisch in Erinnerung. In einem strengen Ritual liest der Vater – ein Stabsarzt – den Kindern in den Jahren darauf den mütterlichen Abschiedsbrief immer wieder vor. Darin die drohende Ermahnung, ein christliches Leben zu führen, auf dass man sich eines Tages im Himmel wieder sehe.
Knapp zehn Jahre nach der Mutter stirbt auch seine Lieblingsschwester Sophie an Tuberkulose, Edvard meint zu erkennen, dass die „Wurzel“ seiner Familie von „Schwindsuchtbazillen“ schon immer geschwächt sei. Allein seine Tante, die nach dem Tod der Schwester die Erziehung von deren Kindern übernommen hatte, schafft es, den Kindern Hoffnung wiederzugeben und ihre Kreativität zu fördern. Mit siebzehn Jahren schreibt Munch in sein Tagebuch: „Meine Entscheidung ist nun, Maler zu werden.“ Es folgen eine Ausbildung an der Kunstakademie und viele – durch Stipendien ermöglichte – Reisen in die Metropolen Europas.
In seinem Tagebuch beginnt er seine „seelischen Erlebnisse“ festzuhalten, die er zu einem späteren Zeitpunkt in Bilder verwandelt. Seine wiederkehrenden melancholischen Stimmungen verstärken die farbliche Intensität seiner Eindrücke, wie er beschreibt. Thematisch konzentriert er sich auf die großen Fragen des Lebens: die Liebe und den Tod. Die teilweise skandalösen Erfolge seiner Ausstellungen, vor allem in Berlin, freuen ihn. Doch das Reisen und der starke Alkoholkonsum zehren an seinen Nerven. Privat zieht er sich in einem Streit mit seiner Geliebten eine Schussverletzung an der Hand zu. Er hat Halluzinationen, fühlt sich verfolgt. Auch Kuraufenthalte können ihm dabei nicht helfen, Munch steht kurz vor der Psychose.
In diese nervlich belastete Zeit fällt das mit Pastell gemalte Exemplar „Der Schrei“ von 1895, das ebenfalls auf einem sinnlich intensiven Erlebnis beruht, wie Munch festhält: „Ich ging die Straße hinunter mit zwei Freunden – als die Sonne unterging – der Himmel sich plötzlich blutrot färbte – ich blieb stehen, lehnte mich todmüde an das Geländer – über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und Feuerzungen – meine Freunde gingen weiter, und ich, stand da zitternd vor Angst – und ich fühlte, daß ein unendlicher Schrei durch die Natur ging.“
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Es ist dieses Gefühl der menschlichen Existenzangst, das Munch immer wieder beschäftigte und ihn verschiedene Versionen von „Der Schrei“ in unterschiedlichen Techniken anfertigen ließ. Sich selbst zeigt er auf allen diesen Bildern als amorphe, fast fötusartig gekrümmte Gestalt, die dennoch als Gesicht – vor allem in der späteren Fassung von 1910 – einen Totenkopf hat. Das vergängliche Schicksal des menschlichen Daseins, die Verbindung von der Geburt zum Tod ist in dieser Figur vereint. Auch der Betrachter ist von diesem unvermeidlichen Schicksal betroffen, öffnet sich doch die Brücke am unteren Bildrand auf die gesamte Breite und zieht den Betrachter durch den Sog der Perspektive gemeinsam mit der schreienden Gestalt, gemeinsam mit den nichtsahnenden Fußgängern in die Tiefe des Bildes. Dort, am Ende der Brücke, wartet ein wie zum Weltuntergang gefärbter Himmel auf sie.
Ein geradezu kosmisches Naturereignis ist im Begriff, die schreiende, menschliche Figur und alle anderen mit ihr zu verschlingen. Oder, wie Munchs Malerfreund August Strindberg meint, es ist der „Schrei des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt, durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen.“ Verwundert es angesichts eines solchen Sinneseindrucks noch, dass Munchs Gesicht vom Schrecken gezeichnet ist und den Mund zum Urschrei aufreißt? Die Farben, die Komposition, der Duktus machen die Synästhesie möglich: Vertieft in die erbarmungslosen Ereignisse des Bildes wird der Schrei für den Betrachter hörbar.
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Munchs malerische Umsetzung seiner Gefühlswelt veränderte die Geschichte der Kunst. Er spiegelte in der Umwelt seine Seele. Das Motiv der äußeren Landschaft war für ihn nur das Mittel, seine eigene Seelenlandschaft auszudrücken. Damit half er dem Expressionismus, der Ausdruckskunst, auf die Beine. Die expressive Intensität des Schrei-Motivs sollte er jedoch in keinem seiner Bilder wieder erreichen.
Kurz nach der Jahrhundertwende verbrachte Munch einige Monate in einer Nervenklinik. Er kam vom Alkohol los und ließ sich nach seiner Entlassung in Norwegen nieder. Nur noch selten reiste er, doch das Malen behielt er bei: Von 1910 stammt die formal auf das Minimum reduzierte Version von „Der Schrei“. (Dieses Exemplar hängt heute im Osloer Munch-Museum und hatte vor einigen Jahren durch einen Raub und eine spektakuläre Heimkehr für Aufmerksamkeit gesorgt.) Bis ins hohe Alter folgen Ausstellungen und Auszeichnungen. Doch Munch lässt sich nicht gerne lange von Kohle und Pinsel trennen. Als die Deutschen Norwegen besetzen, sorgt sich Munch vor allem um seine Bilder, die er zeitlebens als seine „Kinder“ betrachtet. Gleichzeitig bescheren ihm die historischen Ereignisse erstaunliche Seelenruhe. Er selbst erklärte sie sich so: „Jetzt haben sich all die alten Gespenster vor diesem einen großen Gespenst in Mauselöcher verkrochen.“ Wie das „große Gespenst“ untergeht, erlebte Munch nicht mehr, er starb im Januar 1944 an einer Lungenentzündung.
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