- Eugeni Xammar: Das Schlangenei
Die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts werden oft zu «Goldenen Zwanzigern» verklärt, voller Lebenslust und Emanzipationsschübe. Doch dieser Blick blendet aus, dass jene Zeit für die Mehrheit der Deutschen eine Katastrophe in Permanenz bedeutete. Auf den Ersten Weltkrieg folgten jahrelanges Massenelend und politische Unruhen mit Umsturzversuchen. Für einen ausländischen Journalisten war die Weimarer Republik also ein ergiebiger Arbeitsplatz.
Die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts werden oft zu «Goldenen Zwanzigern» verklärt, voller Lebenslust und Emanzipationsschübe. Doch dieser Blick blendet aus, dass jene Zeit für die Mehrheit der Deutschen eine Katastrophe in Permanenz bedeutete. Auf den Ersten Weltkrieg folgten jahrelanges Massenelend und politische Unruhen mit Umsturzversuchen. Für einen ausländischen Journalisten war die Weimarer Republik also ein ergiebiger Arbeitsplatz. Der Katalane Eugeni Xammar (1888–1973) war in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren einer der angesehensten Korrespondenten in Deutschland. Seine nun übersetzten Reportagen bieten einen ungeschönten Blick auf die Jahre 1922 bis 1924. Xammar bleibt nicht in der Hauptstadt, er berichtet auch aus dem besetzten Rheinland, wo die deutschen Arbeiter den passiven Widerstand gegen die französischen Soldaten üben. Und er scheut nicht die Reise nach Bayern, ein sich in wahnhaften Extremen ergehendes Separat-Gebilde: «Jeder, der sich gegen die deutsche Republik verschworen hat, lebt in Bayern wie ein Fisch im Wasser.» Viele Artikel Xammars beschäftigen sich mit Wirtschaftspolitik. Die «Finanzen dieses Landes sind zu einer ungeheuren Fiktion verkommen», schreibt er. Das Beharren der Siegermächte auf maßlosen Reparationsforderungen und die trotzige Verweigerungshaltung der deutschen Regierung führten zur Hyper-Inflation. Weite Teile der Bevölkerung wurden innerhalb kürzester Zeit faktisch enteignet und vegetierten am Existenzminimum. So wurde der deutsche Sparer reif für die rechte Revolution. Hinter aller Misere spürt Xammar allerdings die Kraft des Landes. Er bewundert die disziplinierte Arbeiterschaft und den potenten Ingenieursgeist im Ruhrgebiet wie im Hamburger Hafen. Deutschland: ein gedemütigter, gefesselter Riese, der vor allem den Franzosen unvermindert Angst und Sorge bereitet. Vor seiner Zeit in Deutschland hatte Eugeni Xammar in Großbritannien gearbeitet. Er bewunderte die liberale Skepsis der Engländer, und sehr britisch lesen sich auch viele seiner Deutschland-Berichte. Allerdings ist es wohl auch Xammars Liberalität, die ihn dazu führt, Hitler als groteske Figur zu unterschätzen. Gustav Ritter von Kahr, der Bayern damals mit diktatorischen Vollmachten regierte, sei viel gefährlicher als Hitler, befindet der Katalane 1923. Nach einem Interview mit dem späteren «Führer», das sich mit dessen jovialen Ankündigungen der Judenvernichtung wie eine durchgeknallte Realsatire liest – allein dies lohnt die Lektüre des Buches –, schreibt er: Hitler sei «ein Dummkopf voller Tatendrang, Vitalität und Energie, ein maßloser, nicht zu bremsender Dummkopf». Das klingt schon weniger harmlos. – Auch in Spanien war 1923 mit Primo de Rivera ein Diktator an die Macht gekommen, und die Hitler-Reportage brachte den Journalisten in Schwierigkeiten. In der Folge wurden seine Arbeiten immer wieder zensiert. So kündet schließlich auch die versehrte Form der Texte Eugeni Xammars davon, dass sich das Zeitalter des Liberalismus damals mit Macht dem Ende zuneigte.
Eugeni Xammar
Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922–1924
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Berenberg, Berlin 2007. 192 S., 21,50 €
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