- Das Leben der anderen
Erst ein Tsunami, dann der Krebs, dann das Sterben: In "Alles ist wahr" reiht Emmanuel Carrère Drama an Drama und lässt ahnen, wie nah das Leben der anderen im größten Unglück an das eigene heranrücken kann.
Emmanuel Carrères „Alles ist wahr“ übt diesen Sog aus. Nach der Lektüre spült es einen wieder an Land, wo man leicht benebelt zu sich kommt und sich fragt: Was war das eigentlich? Dieses Buch ist weder Roman noch Autobiografie, ein schlichter Tatsachenbericht, aber keine Reportage, ein Buch übers Leben und Überleben, über Leiden und Sterben, derart angefüllt mit Dramen, dass man dem Autor, wäre all dies Fiktion, die Anhäufung von so viel Unglück schwerlich abnehmen würde.
Aber alles ist wahr: Innerhalb weniger Monate wird der französische Schriftsteller Zeuge zweier großer Dramen, dem größtmöglichen Unglück, das er sich vorstellen kann: „der Tod eines Kindes für seine Eltern und der Tod einer jungen Frau für ihre Kinder und ihren Mann“. Jahre später verkettet er beide Ereignisse und macht daraus eine einzige Erzählung, aufregend, spannend, oft erschütternd und sehr schwer einzuordnen.
Die Geschichte beginnt ganz leise, aber man spürt sofort, dass dies nur die melancholische Ruhe vor dem großen Sturm ist: Der Ich-Erzähler macht Urlaub auf Sri Lanka. Seine Freundin ist dabei, zwei Söhne aus vorherigen Beziehungen, der eine von ihr, der andere von ihm. Im Pool dreht jeden Morgen eine betagte, athletische Deutsche ihre Runden, die an Leni Riefenstahl erinnert. Ein paar Deutschschweizer Ayurveden üben sich in Yoga, während Emmanuel, der Ich-Erzähler und Schriftsteller, und Hélène, die Fernsehjournalistin aus Paris, das unspektakuläre Ende ihrer Beziehung beschließen.
„Psychoanalyse unter freiem Himmel“
Es wird ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein. Sie machen Schluss ohne Feindseligkeit und schauen sich nur traurig dabei zu, wie sie für alle Zeiten auseinanderdriften.
Dann, am nächsten Morgen, geschieht das Ungeheuerliche: Eine Welle verschlingt das ganze Dorf unterhalb ihres Hotels. Menschen werden ins Meer gerissen, ihre Leichen später wieder angespült. Andere überleben, weil sie sich an eine Palme geklammert haben oder irgendwo zwischen Brettern und Bruchstücken eingeklemmt wurden. „Von da an spricht man von einem Tsunami, als hätte jeder dieses Wort immer schon gekannt.“
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Carrère auf das Feld des Faktischen begibt. Aber er tut dies nicht, um die Wirklichkeit literarisch zu verdichten, sondern, im Gegenteil, um sie von allem Überflüssigen zu befreien und sich zu ihr in Beziehung zu setzen. Begonnen hat alles im Jahr 2000 mit „Amok“, einem Buch, in dem er den Fall von Jean-Claude Romand rekonstruierte, der 18 Jahre lang behauptete, Arzt zu sein, und dann, als seine Lüge aufflog, seine Frau, seine Kinder und auch seine Eltern tötete. Jahre hat Carrère mit diesem Projekt verbracht und ist daran fast verzweifelt.
Als er am Ende beschloss, seine Erfahrung tagebuchartig für sich selbst zu notieren, löste sich plötzlich der Knoten. Er erzählte in Ich-Form, subjektiv, ohne Wahrheitsanspruch. Das Buch wurde ein solcher Erfolg, dass es mit Truman Capotes Meisterwerk „Kaltblütig“ verglichen wurde. Und Carrère hatte seinen Stil gefunden, wenn nicht sogar ein neues Genre begründet. In „Ein russischer Roman“ hat er sich dann an die Tabus der eigenen Familie gemacht, die Geschichte des exekutierten Großvaters erzählt und damit „Psychoanalyse unter freiem Himmel betrieben“, wie er es formuliert, mit allem, was das an Schamlosigkeit und Kollateralschäden mit sich brachte.
Auch „Limonow“ gehört dazu, eine Romanbiografie über einen irrlichternden russischen Helden. Sie erschien nach Carrères Bestseller „Alles ist wahr“, der bereits 2009 im Original herauskam und nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist fraglos das erschütternste Buch in dieser Reihe.
„Alles ist wahr“ beginnt mit dem Protokoll größter Verwirrung. Carrère erzählt vom Gestank der Leichen, von Ruth, der Engländerin, die vor dem Krankenhaus ausharrt, in einer Art Schockstarre, wartend auf ihren Verlobten. Er beschreibt, wie sich sein luxuriöses Hotel, das er wenige Tage zuvor noch liebend gern gegen ein studentisches Guesthouse am Strand getauscht hätte, in das Floß der Medusa verwandelt und Touristen aufnimmt, die alles verloren haben. Unter ihnen Delphine und Jerôme, ein Paar, mit dem sie sich wenige Tage zuvor angefreundet hatten und deren vierjährige Tochter Juliette ertrunken ist.
Die Welt, die so paradiesisch wirkte, erscheint plötzlich als Horrorfilm. Die einen sind ein Teil von ihm, die anderen bleiben Zuschauer: „Da sind wir, sauber, adrett und verschont, und um uns herum diese Schar von Aussätzigen, Strahlenopfern, von verwilderten Schiffbrüchigen. Am Abend zuvor waren sie noch wie wir und wir wie sie, aber ihnen geschah etwas, das uns nicht geschah, und jetzt gehören wir zu zwei verschiedenen Sorten Mensch.“
Nüchtern, ganz ohne Pathos beschreibt Carrère, was er sieht, wem er begegnet, behält sich dabei aber selbst mit überraschender Unbestechlichkeit im Blick und notiert, wie er sich anfangs noch an der dramatischen Wende eines sich zuvor dahinschleppenden Urlaubs erfreute. Schamhaft beginnt der nach seinen eigenen Worten liebesunfähige Ich-Erzähler, sich und seine Neurose im Leid der anderen zu spiegeln. Der Tsunami wird für ihn zu einer Art wake-up call: Das Unglück der anderen wird ihn und auch seine Beziehung retten.
Es muss alles aufgeschrieben werden
„D’autres vies que la mienne“, andere Leben als das meine, lautet der Titel im französischen Original, und er lässt ahnen, wie nah das Leben der anderen an das eigene heranrücken kann, ohne dass beide je ganz ineinanderfallen könnten.
Kaum zurück in Frankreich, in Sicherheit, nimmt ein neues Drama seinen Lauf: Juliette, die Schwester seiner Lebensgefährtin, Richterin in der Nähe von Lyon, hat Krebs. Sie ist Anfang 33, sie hat einen sie liebenden Mann, drei sehr kleine Kinder, das jüngste ist gerade mal anderthalb.
Carrère lernt sie kennen, als sie schon im Sterben liegt. Eine Begegnung mit einem ihrer engen Freunde und Kollegen lässt ihn begreifen: Es muss alles aufgeschrieben werden. Der Tsunami, der Krebs, das Sterben, die Geschichte der Freundschaft zweier hinkender Richter, die beide in ihrer Jugend einen ersten Krebs bekämpft hatten, und die sich verbinden im Engagement für die kleinen Leute, die sich verbünden im juristischen Kampf gegen die Verschuldung, gegen eine ungerechte soziale Ordnung und sich an der „Speerspitze eines kühnen, aufregenden Kampfes“ um Gerechtigkeit wiederfinden, bis einer von ihnen stirbt.
„Alles ist wahr“ ist ein Buch voller Leid, ohne Larmoyanz, ein Zeugnis von Menschlichkeit. Seit dessen enormem Erfolg erhält Carrère Post von Menschen, die ihn bitten, ihr Leben aufzuschreiben. Er ist in ihren Augen ein écrivain public geworden, eine Art „Mutter Teresa der Literatur“, wie er selbst sagt. Er aber kann ihnen nur antworten, dass er es doch eigentlich schon erzählt habe. Als sei nun alles gesagt.
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