Das Magazin - "Die Gegenwart ist so eng"

Harald Bergmann hat die Tonbänder des Kölner Autors Rolf Dieter Brinkmann verfilmt

Was wäre, wenn James Joyce mit einem der ersten Phonographen durch Dublin gelaufen wäre? Wenn all die besprochenen Walzen plötzlich aufgetaucht wären und jetzt jede noch so skizzen­hafte Formulierung hörbar machten – und die Klänge der Straßen gleich mit? Vielleicht hätte man bald genug von all der unverhofften Nähe und überließe sich lieber wieder ganz der Imagination. In jedem Fall aber wären wir wohl zu neugierig, um nicht erst einmal hineinzuhören.

Im Nachlass des Kölner Dichters Rolf Dieter Brinkmann gibt es einen solchen Schatz. Zahllose Tonbänder, entstanden bei der ausufernden Arbeit an einem Radio-Feature der Jahre 1973 bis 1975, lassen den Wortfindungsprozess unmittelbar erfahrbar werden. Zugleich sind sie Dokumente einer produktiven Verweigerung. Der Autor, der nichts mehr veröffentlicht, formuliert unablässig weiter, gerade weil er am Vermögen der Sprache zweifelt, die Welt zu erfassen. «Was ist denn da tatsächlich?», fragt Brinkmann ins Mikrofon. «Das kann Sprache nicht sagen.» Diesen Hörfilm, der in Auszü­gen bereits auf CD erschienen ist, noch einmal zu verfilmen – das mag wie ein tautologisches Projekt anmuten.
Der Berliner Filmemacher Harald Bergmann, bekannt geworden durch Filme über Hölderlin, hat es trotzdem getan. Sein Vorgehen ist geradezu verwegen: Er macht die Bänder, in denen auch Brinkmanns Frau und das behinderte Kind zu hören sind, zum Soundtrack und lässt Schauspieler lippensynchron dazu agieren. So naturalistisch das Ergebnis auf den ersten Blick wirkt, so wenig gleicht es jedem bekannten Künstlerportrait.

Der Film gibt Brinkmanns Sprache jene Welt zurück, die zu erfassen sie sich verwehrt. Man erlebt den Autor inmitten all der verhassten Hässlichkeit Kölner Nachkriegsbebauung, sieht ihn durch gesichtslose Parkanlagen und Spielplätze flanieren und mit Mikrofon und Tonband hantieren. «Brinkmanns Zorn», so der Filmtitel, hat allen Grund: Wenn Worte nicht einmal mehr solcher Unorte Herr werden, wer wollte nicht an ihnen verzweifeln?

«Hier ist die Maastrichter Straße», gibt Brinkmann zu Protokoll. «Jetzt pinkle ich an der Maastrichter Straße.» Nicht jede dieser rastlosen Reportagen lässt sich so einfach verfilmen wie diese. Erst die Kunst der Kamerafrau Elfi Mikesch findet ein visuelles Äquivalent zur spontanen Welterkundung. Da verflucht der Autor polternd den dreckigen Kölner Himmel, und Mikesch hat ihn bereits gefunden; wie ein giftig-gelbes abstraktes Gemälde braut er sich in ihrer Digitalkamera zusammen. «Und ich denke», sagt Brinkmann, «während ich hier vorbeigehe: Sie bemessen die Gegenwart so eng, dass man sich dauernd immerzu verletzt.»

Es sind Sentenzen von schlichter Genialität, die Brinkmann in die anrührende Banalität des Alltags zurückführt. Dazu hat der Regisseur auf jede Nuance im Hintergrund der Aufnahmen gehört: Er lässt das Kind mit dem Mikrofonkabel hantieren oder folgt dem Hundegebell auf der Straße. So gelingt ihm, was gewöhnliche Lite­raturverfilmungen in ihrem Eifer der Illustration meist vermasseln: Indem er den scheinbar unwichtigen Spuren folgt, bringt er Licht ins imaginative Dunkel zwischen den Zeilen.

Nebenbei wird das historische Köln der frühen siebziger Jahre auf beklemmende Weise lebendig. Nicht, weil man es aufwändig rekonstruiert hätte. Es ist vielmehr die bescheidene Anmutung von Super-8-Filmen – wie es sie ebenfalls in Brinkmanns Nachlass gibt –, die den Zeitsprung auf eine sehr private Art gelingen lässt. Ohne jede Nostalgie gelingt diese Zeitreise in eine Vergangenheit, die dem Dichter eine so schwer erträgliche Gegenwart war. Und die er mit seiner Sprache adelt, so sehr er auch dabei verzweifelt: «Das Sprechen gegen den Unsinn der Gegenwart. Gegen den Unsinn der Vergangenheit. Die ungeheure Anstrengung eines Schriftstellers, hier in der Gegenwart anwesend zu sein …» Der Film «Brinkmanns Zorn» bringt diese Ge­gen­wart zurück – und macht auch den wunderbaren Autor wieder zu einem Zeitgenossen.

 

Brinkmanns Zorn
Deutschland 2006, 105 Min.
Regie und Buch: Harald Bergmann
Kamera: Elfi Mikesch
Mit Eckhard Rhode, Alexandra Finder, Martin Kurz u. a.

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