- Meine Jahre mit Erika
Karl Clauss Dietel hat Design-Geschichte geschrieben. Ein Hausbesuch bei dem Mann, der Lautsprecherboxen, Schreibmaschinen und sogar Kleinwagen eine je ganz besondere Form gegeben hat
Wie sich das wohl anfühlt, wenn der eigene Name mit Alltagsikonen wie der Simson, dem Wartburg oder der legendären Schreibmaschine Erika verknüpft ist? Diese Frage geht mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich mich auf den Weg nach Chemnitz mache, um den Gestalter Karl Clauss Dietel in seinem Atelier zu besuchen. Sein Gesamtwerk, für das er als erster DDR-Gestalter mit dem Bundesdesignpreis ausgezeichnet wurde, wirkte weit über die Grenzen der einstigen DDR hinaus ikonisch. Ich selbst etwa wurde als Kind auf die Sitzfläche zwischen Vater und Mutter geklemmt, ohne Helm natürlich – es waren andere Zeiten –, und auf der Simson S50 zum Kindergarten gebracht. Ohne Dietel wäre ich vielleicht sicherer, aber bestimmt nicht abenteuerlicher befördert worden.
An einem kleinen Weg an der Stadtgrenze liegen Haus und Atelier des Formgestalters. Formgestalter – eigentlich ist der Begriff ein Pleonasmus, beinhaltet Gestalt doch stets auch Form. Und vice versa. Dietel begrüßt seinen Besuch höflich und beginnt sogleich mit der Zubereitung eines Tees. Genug Zeit, um sich im Atelier umzuschauen, wo man auf Ikonen der Formgestaltung blicken kann: hier ein Thonet-Stuhl, dort Marianne Brandts legendäre Bauhaus-Teekanne. Mit Brandt übrigens verband Dietel eine enge Freundschaft. Er entwarf später sogar die Gedenkstele für das Grab einer der wichtigsten Töchter von Chemnitz. Dietel bittet mich, an einem langen Tisch Platz zu nehmen. Er serviert köstlichen Tee und stellt mir ein großes Keksglas direkt vor die Nase – Süßkram in verschiedensten Formen und Farben. Während unseres Gesprächs wird er mich mehrmals zum Zugreifen „nötigen“. Aber man kann sich natürlich schlimmeren Verlockungen fügen.
Man merkt Dietel an, dass er sich nicht zum ersten Mal in der Position des Befragten befindet. Der Tisch in seinem Atelier ist für das Gespräch bestens vorbereitet. Stapel mit Dokumenten liegen links und rechts verteilt. Auf ihnen ruhen Steine in Faustkeilgröße, wie natürliche Werkzeuge, von den Gezeiten auf Menschenhandmaß gebracht. Später, während Dietel sich kurze Notizen macht, werden die abgerundeten Steine auf der Tischplatte in Schwingung geraten und seinen Worten einen Hintergrundsound beimischen. Unter der niedrig hängenden Edelstahllampe hindurch schaue ich zu ihm. Ein wenig erinnert die Situation an ein Verhör, nur komme ich mir wie die Verdächtige vor; etwas Skepsis merkt man ihm an. Vielleicht liegt es daran, dass mir bereits in unserem ersten Telefonat ein Fauxpas unterlief, als ich Dietel als „Designer“ bezeichnete. Dabei lehnt er wohl keinen Begriff stärker ab. Er versteht sich als Gestalter, in einer langen, sehr deutsch geprägten Tradition, die vom Werkbund bis zum Bauhaus reicht. Das Design-Konzept ist ihm zu beschränkt, obendrein impliziert es „Styling“, einen Fokus auf die Erscheinung. Viel Glanz, wenig dahinter. Er mag das nicht.
Die Angestelltentätigkeit ist ihm nichts
Zur Erklärung deutet er auf die kleine Dose, aus der er eben noch Zucker in seinen Tee gelöffelt hat. Die Grundform des Kruges oder der Vase existiert seit Jahrtausenden. Aber diese hier besitzt einen kleinen Rand, eine Kehle, die nichts mit der Funktionalität des Gegenstandes zu tun hat, wohl aber mit seiner Gestalt. Seine Finger, die leicht zittern, folgen der sanften Einbuchtung. Wenn er von der „Poesie des Funktionalen“ spricht, dann meint er genau diese Einbuchtung. Dietel spricht mit großem Ernst. Nicht nur inhaltlich, auch was die Sprache anbelangt. Er formt Sätze, die er noch während des Sprechens korrigiert. Beinahe lyrisch mutet das an. Seine Blicke fahren über das Bücherregal zu seiner Rechten, in dem an prominenter Stelle Peter Handke von einem Bild sinnierend in den Raum hineinschaut. Kein Zufall, sagt Dietel. Kaum ein deutschsprachiger Autor gehe schließlich so präzise mit der Sprache um. Vielleicht also gibt es da Parallelen. Das Eis ist gebrochen. Er erzählt und erzählt.
Dietel wird in Reinholdshain geboren; er ist, wie er betont, ein „in der Wolle gefärbter Sachse“. Weil sein Vater vor dem Zweiten Weltkrieg einen Wagenverleih betrieb, wird er als Unternehmer eingestuft. Der Sohn darf in der Folge das Gymnasium nicht besuchen. Der Traum vom Architekturstudium platzt. Dietel beginnt in der noch jungen DDR mit einer Ausbildung zum Maschinenschlosser und studiert im Anschluss an der Ingenieurschule für Kraftfahrzeugbau Zwickau. Kurz darauf tritt er sein Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee an. Von vornherein ist er Teil beider Welten: Ingenieur und Gestalter. Danach führt ihn seine erste Anstellung nach Chemnitz, ins Herz der sächsischen Industriekultur. Die Stadt wird ihm zum Schicksal. Rasch zieht es ihn in die Selbstständigkeit, die Angestelltentätigkeit ist ihm nichts.
Die fünf großen L
Bereits in seiner Diplomarbeit setzt er sich mit der Fahrzeugfertigung der DDR auseinander – und stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus. Von Gestaltung könne keine Rede sein, meint er. Viel Chuzpe für einen jungen Mann. Er will es anders machen, besser. Dietel ist ein Denker-Ingenieur. Seine gestaltete Form ist produktgewordene Philosophie. Für Dietels Werk als Gestalter ist seither eine Sache besonders wichtig: das offene Prinzip, wie man es später wohl idealtypisch an seinem Entwurf der Simson S50, dem legendären Mokick, verwirklicht sieht. Das Prinzip ist so simpel wie genial und würde heute wohl unter dem Label „nachhaltig gedacht“ vermarktet. Die Form soll so gestaltet sein, dass die vom Verschleiß betroffenen oder dem technischen Fortschritt unterworfenen Teile vom Nutzer selbst ausgetauscht werden können. „Eine echte Emanzipation des Nutzers“, nennt Dietel das. Denn dieser Nutzer ist eben nicht nur Konsument, sondern gestaltet den Gegenstand quasi mit, passt ihn seinen Bedürfnissen im Wandel der Zeit an. Prompt muss ich an die Gegenstände meines Arbeitsalltages denken – das Smartphone in meiner Hand zum Beispiel, dessen technisches Skelett unter einer weich designten Hülle verschwindet. Dessen technische „Natur“ ist somit gar nicht greifbar, im Gegensatz zur Simson, deren Skelett Herz und Lunge – Motor und Vergaser – offenlegt.
Zum offenen Prinzip gesellen sich noch die fünf großen L: Langlebig, Leicht, Lütt, Lebensfreundlich, Leise. Die drei ersten L garantieren minimalen Ressourceneinsatz. Lebensfreundlichkeit indes fällt nicht nur unter den Begriff der Nachhaltigkeit, sondern stellt auch den Nutzer als Menschen in den Vordergrund, ebenso wie das Attribut „leise“. Gewappnet mit dieser Philosophie schickt Dietel sich in den folgenden Jahren an, sich dem Herzstück der deutschen Nachkriegslebenswirklichkeit zu widmen: dem Automobil. Zwei Fahrzeuge markieren bald Höhe- und Tiefpunkt seiner Karriere. Der Trabi, für den Dietel zusammen mit Lutz Rudolph an insgesamt sieben Nachfolgemodellen arbeiten wird. Und der Wartburg, dessen Grundentwurf auf einer Studie Dietels aus dem Jahr 1962 basiert. „Es gibt auch Dummköpfe, die mir meinen Wartburgentwurf streitig machen wollen“, bemerkt er eher enerviert als wütend. Er entrollt ein Poster und erklärt den Entwurf. Dabei folgen seine Finger den abgerundeten Formen, erläutern mir deren Semantik. Ziel war es, so sagt er, „dieses Produkt auf menschliches Maß zu bringen“.
„Endlich endet die Entmündigung“
Breite und Höhe von Tischen und Stühlen ergeben sich aus den Maßen des menschlichen Körpers, erläutert er. Dietel beugt sich nun über den Tisch und breitet seine Arme aus. Mein Blick fällt auf die Wand rechts von mir, wo Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch als Zeitungsausschnitt hängt. Leonardo erscheint hier wie ein Hausgott, nein, der prototypische Gestalter, nicht der Erfinder, zu dem er oft stilisiert wird. Überhaupt gerät Dietel nun in Bewegung, verweilt kaum noch am Tisch. Überall in seinem Atelier hängen Bilder, Zeitungsausschnitte, Plakate, die illustrieren sollen, was er meint. Er geht zur gegenüberliegenden Wandseite, dort hängt ein ganzer Bilderstreifen. Er zeigt ihn als kleinen Hosenmatz am Lenkrad des väterlichen Wagens. Geradezu zwangsläufig erscheint da seine spätere Beziehung zum Automobil.
Dietel hat einen weiteren Zeitungsausschnitt parat. Dieser zeigt einen Entwurf für ein Elektroauto der Marke Honda. Die Schnauze erinnert an ein freundliches, vereinfachtes Gesicht. Er legt seinen Wartburgentwurf daneben. Die Formsemantik ist dieselbe, „’Ne anständige Sache“, nennt Dietel es. Das vermutlich schon größte Kompliment, das er vergibt. Er freut sich über die „geistige Kongruenz“. „Da fühlt man sich nicht einsam.“ Und dann sei sagt er einen dieser druckreifen Dietel-Sätze: „Das verankert eigenes Tun hinein in die Ströme der Zeiten.“ Doch genug der schönen Sprache. Jetzt schwenkt er hinüber zum zeitgenössischen Automobil. So mancher moderne SUV, ein wahres Schlachtschiff auf den Straßen, in denen Menschen wie Monaden im ewigen Stau der Innenstädte und Autobahnen stehen, vielleicht Ausdruck des Wunsches, der klaustrophobischen Nähe zu entgehen, meint er. Ob das Auto Zukunft hat? Das mechanische Zeitalter, das mit der Renaissance begann, es wird in absehbarer Zeit zu Ende gehen, glaubt er. Und mit ihm zusammen wohl auch das Auto.
Dietels Lebenswerk begleitete die Hochphase des Automobils, dessen Goldenes Zeitalter und dessen Ende. Nun könnte man meinen, dass er im falschen Teil Deutschlands gelebt hat, wo die politischen Vorgaben seine Schöpferkraft hemmten. Zwar notierte er am Tag der Maueröffnung in sein Tagebuch „Endlich endet die Entmündigung“, aber die Gängelei hat ihn wohl auch angespornt. Das damals einzigartige Studium des Karosseriebaus, die Arbeit im Zentrum des DDR-Autobaus sowie die Notwendigkeit der Materialreduktion aufgrund der ökonomischen Zwänge – all das prägte sein Schaffen auf positive Weise. Was also bleibt, nach Jahrzehnten schöpferischer Arbeit? Produkte, die für den Nutzer als Menschen geschaffen sind und die das Menschliche zum Maß der Dinge erheben.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Mensch & Maschine“ von Cicero und Monopol
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