- In der Katastrophe liegt die Befreiung
Unternehmensromane sind der neue Trend: Kapitalistische Dressur und Freiheitsdrang, Hierarchie und Gemeinschaft, gestern und morgen – hier prallen sie aufeinander
Die Firma ist wieder da. Das ist bemerkenswert, denn jahrzehntelang, bis in die neoliberale Ära hinein, spielten diese quasi-monarchistischen Subsysteme in der Literatur kaum eine Rolle. Vielleicht war die Diskreditierung des Homo oeconomicus in den Siebzigern so nachhaltig, dass die Kunst von ihm keine wirkliche Inspiration mehr erwartete. Es mag auch daran liegen, dass Schriftsteller nichts mehr fürchten als das „Buddenbrooks“-Label, zumal der obere Mittelstand – die Merckles und Schleckers – in postbürgerlicher Zeit kaum mehr den Kern und die Modernität der Gesellschaft repräsentieren dürfte.
In der Tat ist der Privatwirtschaft ein Antimodernismus inhärent: Anders als im privaten oder öffentlichen Sektor gelten hier hergebrachte Verhaltenskodizes und Hierarchien ungebrochen, denn beim Geld hört der Relativismus auf. Aber das heißt auch: Hier sind Loyalitätsverrat und echte Regelverstöße noch möglich. Neuere, komplex erzählende Fernsehserien stürzen sich denn auch mit Begeisterung auf diesen Kosmos. Auf der Hand liegt der Bezug bei „The Office“ respektive „Stromberg“. Ernsthafter wird die Büro- und Firmenperspektive in „Mad Men“ eingenommen, wo dieses Kollektiv zunehmend ein Eigenleben entwickelt. Auch in den „Sopranos“ ging es auf spezielle Weise um eine Firma und deren Geschäftsgebaren.
Die Literatur indes machte lange Zeit den Eindruck, als stünde Thomas Mann auf einem Bein: Nur der Familienroman wurde fortgeschrieben. Zu den ersten Autoren, die erkannten, welches erzählerische Potential darin liegt, eine betriebliche Ebene wieder einzuziehen, gehört Ernst-Wilhelm Händler, selbst zugleich Geschäftsführer eines metallverarbeitenden Familienunternehmens. Sein eben diese Doppelung und Koppelung der Wertigkeiten virtuos durchexerzierender Roman „Fall“ aus dem Jahr 1997, in dem der Held Georg Voigtländer gleich durch mehrere Sphären stürzt, ist in diesem Frühjahr als Taschenbuch neu erschienen. Erst im Zeichen des übergreifenden Themas „Krise“ aber wurde die Unternehmensperspektive zum Trend. Thomas von Steinaecker präsentierte uns eine Versicherungsangestellte, die die Kontrolle verliert und in die Freiheit katapultiert wird. Rainald Goetz’ Bertelsmann-Roman „Johann Holtrop“, der freilich so sehr Abrechnung sein will, dass die Attitüde der Brutalobservanz zur Karikatur entgleitet, protokolliert den Absturz eines Vollblutfunktionärs des Systems. Gleich zwei Debütromane konzentrieren sich nun auf den schwierigen Generationenübergang an der Spitze mittlerer Familienunternehmen aus der Textilbranche.
In kühl sezierendem Stil erzählt Nora Bossong in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ die Geschichte des Unternehmens „Tietjen & Söhne“, dessen Aufstieg mit der Etablierung einer luxuriös weichen Frottee-Marke im Jahre 1906 begann. Der paternalistische Gründer Justus Tietjen – er errichtete Arbeitersiedlungen, sah die Arbeiter aber als „Teil seines Besitzes“ an – wusste den Krieg für sein Unternehmen zu nutzen. Die Firma ging von Kurt senior auf Kurt junior über, der sich im Jahr 2009 plötzlich nach Amerika absetzt und es darauf anzulegen scheint, alles, was vor ihm war, zu zerstören, indem er alle Entscheidungen zugunsten der fast insolventen Firma blockiert.
Dass es sich hier um ein Debüt handelt, merkt man allenfalls an der Tendenz zur Überdeutlichkeit, an manchem gesucht wirkenden Einfall (so geht die Familie gegen kleinere Katastrophen immer schon mit Entenbraten vor) oder an einigen Anzugträger-Klischees, aber keinesfalls an der ausgeklügelten Anlage dieser Erzählung. Die Heldin, mit welcher der Leser zunächst durchaus Sympathie haben darf, ist die junge Luise Tietjen, die prospektive Erbin des Unternehmens. Wie im Rückblick zu sehen, gerät sie zwischen die Fronten, denn der eingeheiratete Schwager Kurts drängt sie zur Übernahme der Geschäftsführung. Luise hält als Einzige noch Kontakt zu ihrem Vater, der in New York zwar ein fast mittelloses Dasein fristet, sich aber neu verliebt und erstmals Freiheit wittert: „Hier konnte sich ein Leben noch verändern, hier legte die Herkunft nicht alles fest.“ All das geht nicht gut aus, wie der Leser weiß, denn am Beginn des Buches steht Kurts Tod in einem schäbigen Appartement.
Bossongs Roman ist eine psychologisch anspruchsvolle Studie über den Einfluss von Macht auf den Charakter, vorgeführt an der Figur Luise. Mitten in der Überforderung nämlich erwacht ihr Überlebens-, ja, ihr Geschäftstrieb: Die Rettung der Firma steht an, auch lockt das Geld, aber in erster Linie strebt Luise nach Macht. So muss der Leser bald einsehen, willig einer inzwischen kalt berechnenden, genüsslich grausamen Figur gefolgt zu sein. Sie setzt alles auf eine Karte, nimmt den Kampf gegen den Vater auf. Was das mit dessen Tod zu tun hat, klärt sich erst auf der letzten Seite.
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Es ist wie das Aufblättern eines Albums der gewinnoptimierten Hartherzigkeiten. Die Form wirkt geradezu filmisch, eine schnell geschnittene Abfolge von Rückblende-Sequenzen in einfachen Sätzen. Weil dies alles moralfrei geschieht, darf einen durchaus ein wenig frösteln. Es geht hier nicht um den Verfall einer Familie, sondern um den sukzessiven Nachweis, dass diese – jenseits der Firma – längst nicht mehr existiert. So scheint das Äußerste an Nähe zwischen den Figuren schon erreicht, wenn sie gegeneinander prozessieren, statt einander nur zu ignorieren. Damit enthält dieser Anti-Familienroman implizit doch eine moralische Botschaft: Der Preis für das Mitmischen an vorderster Wirtschaftsfront ist radikale Einsamkeit, und das in einer Gesellschaft, die Einsamkeit als Krankheit ansieht.
Ein Einzelgänger ist auch Willem Kronhardt, der Erbe der „Bremer-Stickerei-Manufactur“ in Ralph Dohrmanns sechzig Jahre überspannender Romanbiografie „Kronhardt“. Dunkel kann er sich noch an den kunstsinnig-wirtschaftsfernen Vater erinnern, der auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen ist. Den Betrieb leiten seither die bösartige Mutter und ein ungeliebter Stiefvater: der Bruder seines Vaters. Das neunhundertseitige Buch zerfällt in zwei Romane. Der erste, bessere, umfasst etwa zwei Drittel des Umfangs und ist ein klassischer Entwicklungsroman. Willem lernt die Kunst der Verstellung, wird zum souveränen Zyniker mit einigen Sympathien für linke Positionen, der aber seinem Milieu nicht entkommt. Er studiert schließlich Betriebswirtschaftslehre und übernimmt die Stickerei, was ihm jedoch einige Kampfkraft abverlangt.
Die Darstellung dieser Jugend zwischen Rebellion und Einfindung ist mit viel kultur- und zeitgeschichtlichem Kolorit ausgepinselt: von Pausenhof-Klassenkämpfen (gern um das reiche Gör Patrizia, das später bei einem linksradikalen Terroranschlag ums Leben kommt) bis zu Erlebnissen in einer Berliner Hippie-Kommune. Diese Detailverliebtheit erweist sich allerdings als Schwäche: Dass jede noch so periphere Schulfreundschaft oder Liebelei folgenlos ausgewalzt wird, ist weniger Arbeit am großen Zeitpanorama der Bundesrepublik als Kapitulation vor der Geschwätzigkeit.
Nicht anders als Bossong ist Dohrmann davon fasziniert, wie unentrinnbar Firmenerben in ihr Schicksal verheddert sind, wie sie trotz aller Absetzbemühungen doch schließlich mit verzweifelter Lust den vorgezeichneten Weg einschlagen und die Erwartungen übertreffen. Dabei werde ein jeder mit eigenem Kopf geboren, wie Willems Mentor, der weise Arzt Blaske, gleich zu Beginn äußert, und „wenn sie nicht so anfällig für die Wirklichkeit der Alten wären, könnten diese Köpfe eine wunderbare Welt erschaffen“. Aber diese Anfälligkeit eben präge die Jungen, weshalb das Verknöcherte von einem Kopf an den nächsten weitergegeben werde. Wir wohnen also der Bestätigung dieser Prognose bei.
Der zweite Roman bringt einen Genre- und Perspektivwechsel mit sich, was interessant sein könnte, aber leider nicht überzeugt. Zu ungelenk wirken die Krimi-Anleihen – zwei seltsame Privatdetektive sollen den ganz und gar nicht natürlichen Tod des Vaters aufklären – und die allzu spät plötzlich ins Historische und gar Anthropologische ausgreifenden Tieferlegungen der Handlung. Die Detektive nämlich stoßen auf eine Verschwörung, die mit einem nationalsozialistischen Rassetheoretiker zu tun hat, und ein frühgeschichtlicher Schädel wird mit reichlich Bedeutung aufgeladen. Um das Verhältnis von Determinismus und Verantwortung des Einzelnen geht es auch hier, nun in größerem Maßstab. Der gelungen leichte Ton und die ernsthafte ökonomische Perspektive des ersten Buches, die Stärken von Dohrmanns Roman, gehen darüber verloren.
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Einen interessanten Sonderfall innerhalb der neueren Firmen- und Büroliteratur stellt Johannes Jacobus Voskuil dar. Sein zwischen 1996 und 2000 erstandener Megaroman „Das Büro“, dessen allein schon neunhundert Seiten umfassender erster Teil (von sieben) jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist, handelt nicht von einem Wirtschaftsunternehmen, sondern von einem vor der Durchökonomisierung der Hochschulen sehr verbreiteten Büro-Typus: dem sich selbst genügenden wissenschaftlichen Institut, das ganzen Generationen von Akademikern zur geistlosen Lebensform wurde. Man richtete sich ein in Langfristprojekten, deren Rahmen so weit gesteckt war, dass er gänzlich aus dem Blick geriet.
Dieser engen und doch verführerisch behaglichen Welt hat Voskuil, der selbst jahrzehntelang in einem volkskundlichen Institut in Amsterdam beschäftigt war, mit seinem Tagebuch der Sinnlosigkeit, das in den Niederlanden zu einem Kultbuch avancierte, ein wuchtiges Denkmal gesetzt. Seine Saga um den obszön antriebslosen Forscher Maarten Koning ist lebensnah und unerbittlich. Obwohl er nicht wirklich möchte, sogar äußert: „ich habe nichts zu sagen“, bekommt er – vom Schicksal erkoren – eine Stelle als wissenschaftlicher Beamter in dem von Direktor Beerta geleiteten Volkskunde-Institut. Maartens Freundin hält es für den Anfang vom Ende des Lebens, überhaupt arbeiten zu gehen. Und natürlich sind alle Sorgen berechtigt, denn schon nach kürzester Zeit wird klar: Der Held ist in der Hölle gelandet, in einer geschlossenen Gesellschaft, einem absurden Theaterstück, das aber in allen, die je mit staatlicher Bürokratie in Berührung gekommen sind, eine Saite zum Klingen bringt.
Schon die Forschungsaufgabe ist ein köstlicher Scherz: Maarten soll für den „Atlas der Volkskultur“ die Verbreitung des Wichtelmännchenglaubens recherchieren und auf Karten vermerken, wobei sich herausstellt, dass die bisherigen Karten allesamt unbrauchbar sind. Das muss vor der nie wirklich greifbar werdenden „Kommission“ bemäntelt werden, weil der erste Lexikon-Band nach zwanzigjähriger Arbeit nun endlich erscheinen soll. Das ergäbe hochgerechnet bereits eine Laufzeit von vierhundert Jahren für dieses Unterprojekt, wie Maarten, der gern zynisch nachfragt, dem Direktor darlegt.
Wie die ohnehin nur im Schneckentempo verlaufenden, von ritualisiertem Büroalltag oder von Dienstreisen zu Konferenzen überlagerten Feldforschungen auch noch permanent scheitern, das liest sich in seiner stilistischen Einfalt mitunter schrecklich zäh – und ist eben deshalb so grandios. Nur mit solcher Rigidität und solchem Hyperrealismus lässt sich die ganze Vergeblichkeit des großen geisteswissenschaftlichen Projekts auf den Punkt bringen: So unermüdlich wurde das Erkenntnisinteresse hier immer weiter nach innen aufgefaltet, bis ein schwarzes Loch entstand, in dem bis heute alle Wirklichkeitsrelevanz verschwindet.
Dass auch Voskuil einen tragischen Helden zum Fixstern seiner Satire macht, einen hellsichtigen Verweigerer, der das Verweigern preisgibt, bildet bei aller Differenz der Welten doch einen Vergleichspunkt mit den Romanen von Bossong und Dohrmann: Wir begegnen Getriebenen, die hin- und hergerissen werden zwischen dem Freiheitsgeist ihrer Generation und der eigenen Bestimmung. Letztlich siegt immer die Vernunft, will sagen: das Geld. Erst in der Katastrophe liegt die Befreiung. Die Literatur, so scheint es, hat Insolvenz angemeldet für unschuldige Utopien. Und das ist ein Glück.
Nora Bossong: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Roman. Hanser, München 2012. 299 S., 19,90 €
Ralph Dohrmann: Kronhardt. Roman. Ullstein, Berlin 2012. 922 S., 24,99 €
J.J. Voskuil: Das Büro. Direktor Beerta. Roman. C.H. Beck, München 2012. 545 S., 25,90 €
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