Portrait - «Das schönste Lebewesen, dem ich je begegnet bin ...»

Annemarie Schwarzenbach, Großbürgertochter aus der Schweiz, Freundin von Klaus und Erika Mann, Reisende, Schriftstellerin, Fotografin – zu ihrem hundertsten Geburtstag ist sie neu zu entdecken

Am Anfang war das Foto. Im Jahr 1932 nimmt die junge Fotografin Marianne Breslauer ihre Freundin Annemarie Schwarzenbach auf; an der Wiederentdeckung der Schweizer Autorin, an der Faszination für ihr Leben und ihr Werk wird es 55 Jahre später keinen geringen Anteil haben. Jeder, der sich mit ihr beschäftigt, schreibt von diesem Bild, bis heute übt es den Reiz des Ungewissen, des Androgynen aus. Gehört dieses schöne Gesicht einem jungen Mann oder einer jungen Frau? Die eine Gesichtshälfte ist verschattet, um den Mund liegt ein Zug von Traurigkeit. Man versteht Thomas Mann, der bei der ersten Begegnung mit Annemarie Schwarzenbach irritiert sagte: «Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhn­lich hübsch gelten.» Über einen späteren Besuch notierte er in seinem Tagebuch: «Zu Tische Annemarie Schwarzenbach, verödeter Engel.»

Marianne Breslauer, die junge Fotografin, die bei Man Ray in Paris und für den Berliner Ullstein Verlag arbeitete, war jahrzehntelang ebenso vergessen wie ihre Freundin, mit der sie 1933 durch die spanischen Pyrenäen reiste. Auch an ihrer Wiederentdeckung hat dieses Foto keinen gerin­gen Anteil. Sie war nämlich lange schon nicht mehr Fotografin gewesen, hatte ihre frühere Profession schmerz­los abgelegt, als sie heiratete und Kinder bekam. Zu ihrem 70. Geburtstag ließen ihre beiden Söhne ein Buch mit Fotos anfertigen, die sie aus den Alben und Ordnern auf dem Dachboden herausgesucht hatten. Dieser Band, erschienen als Privatdruck in einem kleinen Verlag, kam damals zufällig in meine Hände. Niemand kannte die Fotografin, die lange schon eine renommierte Kunsthändlerin war. Als ich dann Anfang der 1980er Jahre bei ihr in Zürich war, mir von ihrem Leben in Berlin, der christli­chen Tradition in ihrer jüdischen Familie, der Emigration erst in die Niederlande, dann in die Schweiz und von der Liebe zu Walter Feilchenfeldt erzählen ließ, fiel zum ers­ten Mal der Name der Freundin.

Ich fragte nach jenem Foto, wie später alle fragten, die zu Marianne Breslauer-Feilchenfeldt kamen und sich von der besonderen Freundin erzählen ließen, an die sie sich erinnerte als «das schönste Lebewesen, dem ich je begegnet bin – wie der Erzengel Gabriel vor dem Paradiese stehend erschien sie mir, und ich habe in den folgenden Jahren, als ich sie häufiger sah, immer wieder versucht, diesen Eindruck fotografisch festzuhalten.»


Geburt im meteorologischen Exzess

Annemarie Schwarzenbach ist als Schriftstellerin (wie Marianne Breslauer als Fotografin) seit zwei Jahrzehnten wieder präsent, ihre Romane und Erzählungen, vor allem aber ihre Reiseberichte wurden neu aufgelegt. Mit diesen journalistischen Arbeiten war sie als junge Frau, die sich mutig auf ausgedehnte Fahrten begab, bekannt geworden. Nach ihrer Promotion im Alter von 23 Jahren begann sie, für Zeitschriften zu schreiben und Bücher zu veröffentlichen, die jenseits des Baedeker die Augen öffnen sollten und bis heute weit mehr sind als nur Reise-Anleitun­gen für Touristen. Vielmehr handelt es sich bei diesen Texten um literarische Zeugnisse einer extrem aufmerksamen Frau, einer empfindlichen Reporterin, die ebenso einen Blick für das Abwegige wie für das Besondere gewöhnlicher Menschen hat; vor allem verfügt Annemarie Schwarzenbach über einen Ton von seltsam moderner Geläufigkeit. Eben erschienen ist ein Hörbuch, das diese «Liebeserklärungen einer Reisenden» enthält. Hört man der unprätentiösen Sprechweise der Schauspielerin Bibia­na Beglau zu, kommen einem diese Berichte aus Tehe­ran oder Mallorca, aus Léopoldville oder von einem Nacht­flug über der Wüste trotz der Distanz von sieben oder acht Jahrzehnten merkwürdig nah und modern vor.

Vor 100 Jahren wurde Annemarie Schwarzenbach in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren. Die dominante Mutter, mit der sie ihr kurzes Leben lang im Konflikt lag, liebte nicht nur ihren Ehemann, mit dem sie fünf Kinder hatte, sondern vor allem auch die deutsche Sängerin Emmy Krüger. Dass dieses Arrangement offenbar ohne große Konflikte möglich war, dass die Ehe der Eltern dies mühelos aushielt, davon liest man fasziniert in dem Band, den Annemarie Schwarzenbachs Großneffe Alexis Schwarzenbach anlässlich einer Ausstellung zu ihrem 100. Geburtstag herausgegeben hat.

Das Leben seiner Großtante begann mitten in einem «klimahistorischen Ausnahmeereignis». Am 23. Mai 1908 herrschte eine ungewöhnliche Hitze, die dann plötzlich umschlug in Regen und Schnee. Eine Wetterlage sei dies gewesen, die an der Grenze dessen lag, «was in unse­rem klimatischen Reich an meteorologischen Exzessen überhaupt möglich ist», zitiert der Herausgeber die Schwei­zerische Meteorologische Zentralanstalt und sieht in diesem Beginn das Motto eines Lebens, das reich war an Exzessen und außergewöhnlichen Ereignissen.


Die Biografie ordnet ein unordentliches Leben

Nicht zuletzt dieser Einstieg in ein romanhaftes Leben nimmt sofort gefangen, und vielleicht liegt es an der Leichtigkeit und Souveränität, mit der Alexis Schwarzenbach sein Material – Manuskripte, Briefe, vor allem aber in exzellenter Qualität gedruckte Fotos – ausbreitet und arrangiert, dass sich dieser opulente Band so spannend liest. Im Gegensatz dazu hat es die umfangreiche neue Biografie der Schwarzenbach-Kennerin Dominique Laure Miermont schwer. Hier beginnt alles brav mit dem protestan­tischen Puritanismus, «einer besonders verbreiteten Geis­teshaltung der Schweizer Großbourgeoisie, der Anne­marie Schwarzenbach entstammt».

Auf über 400 Seiten wird hier ein unordentliches Leben ordentlich ausgebreitet. Dabei unterläuft der kenntnisreichen Biografin der genre-typische Fehler, sich von den Quellen nicht lösen zu können: Sie vermag die zusam­mengetragene Materialfülle nicht zu beschränken. Wenn sie etwa vom Berliner Leben der jungen Annemarie Anfang der 1930er Jahre erzählt, dann erwähnt sie Fritz Langs Film «M», der damals in den Kinos lief – «Ob sie ihn gesehen hat?» Darauf kann die Biografin zwar keine Antwort geben, stellt aber so ihre umfangreiche Quellen­forschung unter Beweis, die auch das Berliner Kinoprogramm jener Zeit einschließt. Von dem Film «Mädchen in Uniform» weiß sie dagegen, dass Annemarie Schwarzenbach ihn gesehen hat, aber da es über diesen Kino-Besuch offenbar keine weiteren Mitteilungen gibt, räsoniert Dominique Laure Miermont, hier habe sich Annemarie ganz sicher an ihre eigene Zeit im Internat erinnert gefühlt. Weder die eine noch die andere Spekulation lässt die Umrisse der Protagonistin deutlicher werden, die unter der hier versammelten Menge an Detail-Informationen immer wieder abhandenzukommen droht.


Auf der Suche nach einem Mutter-Ersatz

Annemarie Schwarzenbach war ein besonders schönes und begabtes Kind. Sie hätte Pianistin oder Tänzerin werden können, entscheidet sich aber früh und gegen den Willen der Mutter für das Schreiben. Und sie weiß ebenso früh, dass ihre wahre Leidenschaft den Frauen gilt. In dem Text «Eine Frau zu sehen», den sie als 21-Jährige schreibt, geht es neben den Affekten und Liebesspielen unter Frauen auch um den Widerstand der Eltern, der jedoch nichts ausrichten kann. Die junge Autorin verarbeitet hier literarisch, was sie ein Jahr zuvor an einen Freund geschrieben hat: «Dass ich nur Frauen mit wirklicher Leidenschaft lieben kann … Mag das nun schlecht oder widernatürlich sein, meine Natur ist es doch. Und wäre ich das, was die anderen natürlich nennen, so müsste ich mich dazu zwingen, und das erst finde ich verabscheuungswürdig.»

Diese entschiedene und offene Haltung spielt sicher auch eine Rolle, wenn Annemarie Schwarzenbach derzeit als eine der Frauen gefeiert wird, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg ihre Emanzipation angeblich beispielhaft lebten. Dabei gibt es im Leben dieser zerrissenen jungen Frau wenig, was vorbildhaft scheint. Offenbar beziehungsgestört und ewig auf der Suche nach der Frau, die die harsche Mutter ersetzen könnte, reiht sie eine Affäre an die andere. Sie ist drogensüchtig, kämpft gegen den – auch ihre Schönheit zerstörenden – Konsum an, indem sie immer wieder Entziehungskuren macht, heiratet 1935 einen Mann, mit dem sie schnell unglücklich ist.

Mit Mann und Haus in Teheran

Diese Ehe mit dem französischen Diplomaten Claude Clarac geht sie einerseits aus strategischen Gründen ein: Nur als verheiratete Frau kann sie sich den ewigen Fragen entziehen und in den gesellschaftlichen Konventionen einrichten. Andererseits fühlt sie sich zu dem (homosexuellen) Mann hingezogen, der sie liebt und in ihr vielleicht wie Thomas Mann vor allem den verlockenden Knaben in weiblicher Gestalt sah. Grundlage für diese Ehe war nicht zuletzt sein Versprechen, die drei wichtigsten Voraussetzungen ihres Lebens zu akzeptieren, schreibt Dominique Laure Miermont: «Ihre Freiheit, ihre Freundschaft mit Klaus und Erika Mann und ihre Arbeit als Journalistin und Schriftstellerin.»

Aber trotz aller Zuneigung fühlt sich Annemarie Schwarzenbach in dem gemeinsamen Haus in Teheran bald einsam und unglücklich. Sie verliebt sich in eine amerikanische Fotografin und kehrt nach wenigen Monaten in die Schweiz zurück. Sie wird ihren Mann erst sieben Jahre später in Tétouan wiedersehen. Eigentlich will sie da mit ihm die Scheidung besprechen, aber die beiden sind heiter und froh miteinander, fotografieren einander ausgelassen und reden nicht weiter von einer offiziellen Trennung. Als Clarac kurz vor ihrem Tod in die Schweiz reist, lässt man ihn nicht zu seiner Ehefrau – angeblich ist sie auf dem Weg der Besserung.

Annemarie Schwarzenbach war offenbar eine für Frauen und Männer gleichermaßen faszinierende Frau. Im persönlichen Umgang scheint sie jedoch anstrengend und fordernd gewesen zu sein, am liebsten hatte sie Freundinnen, die sich wie Krankenschwestern um sie kümmer­ten, andererseits hing sie selber mit geradezu hündischer Ergebenheit an Erika Mann.


Koksen mit Klaus Mann

1930 lernt sie Erika und Klaus Mann kennen. Mit ihm erlebt sie heftige Drogenexzesse, an ihn, den Seelenverwandten, schreibt sie viele Briefe, reist mit ihm 1934 zum sowjetischen Schriftstellerkongress nach Moskau und unterstützt ihn bei der Herausgabe seiner Zeitschrift «Die Sammlung». Klaus Mann fragt sich, ob er mit ihr wohl leben könnte. Erika Mann wird für Annemarie Schwarzenbach die ewig Bewunderte und Begehrte bleiben, denn sie lässt sich auf keine Liebesgeschichte ein. Überhaupt wird die Familie Mann für die Schweizerin zur Ersatzfamilie. Mit ihrer eigenen deutschfreundlichen Familie überwirft sie sich früh, leidet aber trotzdem unter deren Ablehnung. Sie engagiert sich politisch auf Seiten der Linken, aber man weiß nie genau, ob sie das nicht vor allem tut, um in der Achtung der beiden bewunderten Mann-Geschwister Erika und Klaus zu steigen. In Miermonts Biografie, die durchgängig geprägt ist von einer – vielleicht ein wenig zu distanzlosen – Bewunderung für Annemarie Schwarzenbach, kommt Erika Mann nicht besonders gut weg. Sie wird einem bei der Lektüre immer unsympathischer, vor allem scheint sie auf den eigenen Vorteil bedacht.

In dem Bild- und Textband von Alexis Schwarzenbach bleibt dagegen auch dieses Verhältnis in der Schwebe. Deutlich wird allerdings hier wie dort, wie sehr Anne­marie Schwarzenbach die kultivierte Mann-Familie bewunderte, wie sehr sie sich wünschte, dazuzugehören.

Am Ende geht es in dieser wie in jeder Biografie nicht allein um die Wahrheit, sondern um das Arrangement der biografischen Fakten. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Bilder, denn Annemarie Schwarzenbach war nicht nur eine extrem fotogene Frau, sie war auch selber eine interessante Fotografin. Wie ihre Reiseberichte auch heute noch spannend sind, weil sie das Leben in der Fremde und den Blick der Fremden festhalten, so betrachtet man auch ihre Fotos als Zeugnisse einer vergangenen Zeit, in der eine europäische Touristin in Persien oder Afghanistan eine außergewöhnliche Erscheinung war.

Wie lässt sich ein Leben beschreiben und beurteilen, das geprägt ist von einer rastlosen Suche nach dem einen, dem richtigen Ort, nach der einen wirklichen und dauernden Liebe, die die Sucht besiegt? Annemarie Schwar­zenbach ist mit 34 Jahren gestorben, und vielleicht geht ihre rasende Ungeduld auch auf das zurück, was die Autorin Eva Demski einmal über die amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers sagte: Sie müsse bei ihr immer an die Hofmannsthal’sche Präexistenz denken.

Auch Carson McCullers war eine besonders Begabte, eine, die als musikalisches Wunderkind galt, die sich jedoch gegen die Musik fürs Schreiben entschied und gleich mit ihrem ersten Roman «Das Herz ist ein einsamer Jäger» ein Meisterwerk schuf. 1940 wird sie mit diesem Buch zum Star am literarischen Himmel. Carson McCullers ist zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, hübsch, zierlich, sehr hellhäutig, eine Kind-Frau. Auf den Portrait-Fotos, die in den Hochglanzmagazinen erscheinen und nicht zuletzt zu ihrem Ruhm beitragen, schaut sie mit großen Augen in die Kamera, sie sieht unglaublich jung und verletzlich aus.


Keine Liebe für Carson McCullers

Carson McCullers und Annemarie Schwarzenbach treffen sich 1940 in New York. Wie die meisten Menschen, denen die androgyne Schweizerin begegnet, ist die Südstaaten-Autorin von ihr fasziniert. Sie verliebt sich offenbar in sie. Ihr Mann ist eifersüchtig. Annemarie Schwarzenbach ist aber ausnahmsweise überhaupt nicht an Verführung und Leidenschaft interessiert. Schließlich lebt sie einerseits gerade in einer schwierigen Liebesbeziehung mit der Ehefrau eines reichen Herrn, andererseits hängt sie in ewiger Abhängigkeit und erlittener Zurückweisung an Erika Mann. Es gibt ein zweites Treffen zwischen McCullers und Schwarzenbach, danach werden Briefe gewechselt, in denen es um Liebe und Freundschaft und um ein tief empfundenes Verstehen der gegenseitigen Arbeit geht.

Mehr war da nicht. Nun kann man natürlich aus jeder Geschichte eine andere und viel größere machen, allerdings muss man das eben auch können. Die Schweizer Autorin Alexandra Lavizzari hat sich dies in «Fast eine Liebe» zwar vorgenommen; herausgekommen ist aber leider nur ein geschwätziger, ungenügend lektorierter, mühsam zu lesender Essay, der eine Leerstelle umkreist, die er nicht füllen kann. Von Seite zu Seite wird man ärgerlicher angesichts einer Behauptungsseligkeit, deren Interpretationslust sich in sprachlichen Verrenkungen niederschlägt: «Carsons Vorliebe für Randfiguren wird sich später in einer beeindruckenden Palette von Freaks und Misfits in ihrem Œuvre niederschlagen, die meist vergeblich einen Weg aus der gesellschaftlichen Isolation und Stigmatisierung suchen.» Man schlägt dieses Buch gerne zu und schaut erleichtert den interessant gestalteten Umschlag an, der natürlich auch das großartige Portrait-Foto der Marianne Breslauer verwendet – und betrachtet die Augenpaare der beiden Schriftstellerinnen, die ohne jede Verbindung scheinen.


Manuela Reichart ist Literatur- und Filmkritikerin und lebt in Berlin.

 

Alexis Schwarzenbach
Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach
(mit der Audio-CD «Eine Frau zu sehen», gelesen von Bibiana Beglau).
Collection Rolf Heyne, München 2008. 420 S., 600 Fotos, 58 €

Dominique Laure Miermont
Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld. Biografie
Aus dem Französischen von Susanne Wittek.
Ammann, Zürich 2008. 474 S., 34,90 €

Alexandra Lavizzari
Fast eine Liebe. Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers
Edition Ebersbach, Berlin 2008. 144 S., 18 €

Annemarie Schwarzenbach
Eine Frau zu sehen. Erzählung
Kein & Aber, Zürich 2008. 80 S., 12,90 €

Annemarie Schwarzenbach
Liebeserklärungen einer Reisenden
Gelesen von Bibiana Beglau.
Kein & Aber Records, Zürich 2007. 2 CDs, 109 Min., 19,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.