- Verbannt alle Hunde!
Die 68. Berlinale hat begonnen. Zur Eröffnung wurde der Animationsfilm „Insel der Hunde“ von Regisseur Wes Anderson gezeigt. Er spielt, genauso wie „Minatomachi“ von Kazuhiro Soda, in Japan. Unterschiedlicher könnten die beiden Filme dennoch kaum sein
Am Abend geht die Sonne auf. Der erste Tag der diesjährigen Berlinale, bei der das 50. Jubiläum des Epochenjahres 1968 als Chiffre auf den Plakaten präsent ist, handelt es sich doch um die 68. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Der Auftakt des Festivals, das im vorletzten Jahr der Regentschaft Dieter Kosslicks in abwärts trudelnde Bahnen geraten scheint, griff weit aus nach Nippon. Weiter weg von Berliner Wirklichkeiten kann man sich nicht träumen, kann man nicht schauen als mit Wes Andersons Animationsfilm „Insel der Hunde“ und Kazuhiro Sodas Dokumentation „Minatomachi“. Beide Filme sind angesiedelt in Japan, wo Hunde streunen und Katzen hungern.
Eine Schnittmenge von Akira Kurosawa und Walt Disney zielte Wes Anderson an, „Susi und Strolch“ lassen grüßen. Wie schon „Grand Hotel Budapest“, mit dem Anderson die Berlinale 2014 eröffnete, ist „Insel der Hunde“ eine quietschbunte Reise in die Erker der Phantasie. Wir sehen sprechende Hunde, Hunde, fast nichts als Hunde, und dann und wann Menschen, die Böses im Schilde führen. Bis auf eine renitente Schulklasse, die zur Rebellion bläst gegen den verderbten Bürgermeister der Präfektur, und des Bürgermeisters Neffen, den kleinen Atari. Die Geschichte spielt „heute in 20 Jahren“, also immer in der Zukunft. Soll uns das trösten?
Euthanasie, Ausrottung, Deportation
Zudem war als Weltpremiere ein Japan zu sehen, wie man es kennt, eine Greisenrepublik. Kazuhiro Soda besuchte die Alten von Ushimado. Die Fischerstadt in der Präfektur Okayama liegt an einem Binnenmeer, das dem Film „Minatomachi“ seinen Titel gab. Wir begleiten einen 86-jährigen Fischer, der kaum noch etwas hört und gebeugt läuft wie ein halb geöffnetes Klappmesser, frühmorgens hinaus auf die See, in den Fischmarkt, wo er seinen Fang verkauft, retour ans Pier, wo er Netze flickt. Dann führt uns eine Fischhändlerin zu ihren Kundinnen, auch sie im achten Lebensjahrzehnt gelandet, mindestens, ehe uns eine redselige kleine Frau, Jahrgang 1929, die leeren Häuser von Ushimado zeigt, „alle gestorben“, das Krankenhaus, in dessen Nähe sie wohnt, „ganz allein“, seit man ihr den einzigen Sohn „gestohlen“ hat, „am 16. Februar 2011“. Das sagt sie immer wieder: „am 16. Februar 2011“. An diesem Tag verlor die redselige Alte ihren behinderten Sohn an ein Heim.
Dazwischen streunen Katzen.
Im realen, schwarz-weiß gefilmten Ushimado gibt es streunende Katzen und Hauskatzen, im fiktiven, bunt animierten Zukunftsjapan streunende Hunde und Schoßhunde, ebenso stark geschieden. Katzen taugen bei Anderson nur als Luxusgeschöpfe der herrschenden, der tyrannisierenden Klasse, während die Hunde verfemt und also Helden sind. „Verbannt alle Hunde“, verkündet Bürgermeister Koboyashi, „wir alle hassen Hunde“ sekundiert das Volk. Von Euthanasie, Ausrottung, Deportation ist die Rede. Die „Hunde-Übersättigungskrise“ müsse gelöst werden. Hunde leiden nämlich an Hundegrippe und Schnauzenfieber, sind eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und werden deshalb auf eine schwimmende Müllhalde gebracht. Zuvor, erfahren wir en passant, gab es offenbar Hundeversuche.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Schon die erzählerische Gleichrangigkeit der Leitbegriffe „Deportation“ und „Schnauzenfieber“ deutet auf eine krude Mischung, und so ist auch „Insel der Hunde“ geraten: ein wüstes Nebeneinander von Familienunterhaltung und Zeitkritik, Überwältigung und Überzeugung – wenngleich, wie immer bei Anderson, mit derart großem Schauwert, dass der Film nur gegen Ende hin lahmt. Ansonsten ist es eine Freude, den Tier- und Menschenpuppen zuzusehen und klugen Hunden in feiner Diktion beim Räsonieren zuzuhören. Wer wird in der deutschen Fassung wohl an die Stelle der Hundestimmen von Bill Murray, Bryan Cranston und Scarlett Johansson – „Ich finde zahme Tiere nicht attraktiv“ – treten?
Wes Andersons böse Menschen schicken die Hunde, diese Platzhalter für Sündenböcke jedweder Art, über das Wasser, um sie nie wieder sehen zu müssen. Vom Wasser kehren die Alten von Ushimado zurück, bis „wir alle tot sind“. Noch ist da viel Leben und noch mehr Lachen, das ansteckt, aus krummem, aus zahnlosem Mund, auch auf dem Friedhof, wo Frau Muragimi ihre Ahnen besucht, die sie 13 Generationen zurückverfolgen kann, während die redselige Alte, die ihren behinderten Sohn an ein Heim verlor, nicht einmal weiß, woher sie stammt. Sie wurde mit vier Jahren adoptiert, „vielleicht bin ich nicht einmal Japanerin?“. Das treibt sie um, das erzählt sie Sodas geduldiger Kamera mit knarziger Stimme. Der Film ist ihr gewidmet. Sie starb nach den Dreharbeiten.
„Minatomachi“ ist ein stilles Meisterwerk vom Häuten der Fische und dem Enthüllen der Seelen, „Insel der Hunde“ dagegen ein Hand- und Kunstwerk der allerprofessionellsten Art, eine flirrende Fabel in Farbe. Beide Filme geben den Blick frei auf jene Spannbreite, die hoffentlich den ersten Tag der Berlinale überdauern wird: Zwischen Traum und Wirklichkeit nistet alle Phantasie, dazwischen nur.
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