- Am Ostpol
Ist man als Ostdeutsche auch Osteuropäerin? Die Schriftstellerin Grit Lemke erzählt von den magnetischen Kräften, die Menschen aus Prag, Debrecen oder Chemnitz immer wieder zueinanderbringen
Neulich ging ich mit meinem alten Freund Aljoscha in Wien spazieren. Obwohl wir uns unweit des pompösen Karlsplatzes verabredet hatten, führte unser Weg wie von allein durch ein wenig mondänes Viertel mit verblichenen Fassaden, verrammelten Läden und geschlossenen Cafés. Wir fanden nichts dabei – Aljoscha kommt aus Sibirien, ich aus Hoyerswerda. Unsere offensichtliche Genügsamkeit fiel uns erst auf, als wir irgendwann erschöpft auf der rostigen Stahlumrandung einer Blumenrabatte saßen und uns über die kargen Schaufenster unserer Kindheit austauschten. Aljoscha sagte, dieser Nachmittag sei für ihn eine Erholung vom anstrengenden Asylanten-Dasein. Ständig erklären zu müssen, wie man etwas meint. Auch dieses Gefühl teilen wir.
Aljoscha ist, was man einen Kosmopoliten nennt. Er spricht fließend mehrere westeuropäische Sprachen, hat lange Zeit in Deutschland, Italien und Österreich verbracht und sich immer als Europäer bezeichnet. In seiner Heimat Russland war das schwierig, aber sowieso drehte und produzierte er systemkritische Filme und hat nie Förderung oder irgendeine Unterstützung vom russischen Staat bekommen. Als der Ukraine-Krieg ausbrach, strandete er mit einem Koffer in Wien und wusste, dass er nicht zurückkonnte. Er hatte Freundinnen und Freunde in der Stadt, die ihm halfen, dreht weiter Filme und ist im Westen angekommen. Aber neuerdings, so sagt er – der erbitterte Putin-Gegner, der einen hohen Preis für diese Haltung zahlt –, nennt er sich „russischer Europäer“. Denn auch wenn wir dazugehören: Unser Europäisch-Sein ist anders.
Alle meine osteuropäischen Freundinnen und Freunde kenne ich aus der Zeit, da ich als Programmleiterin eines großen Filmfestivals auf internationalen Branchenveranstaltungen unterwegs war. Warum auch immer – meistens hatten wir uns am Ende langer Tage gefunden und feierten unsere eigenen Partys. Als hätten wir kleine Magnete implantiert, die uns zusammenführten. Dabei schien es keine Rolle zu spielen, ob wir den Sozialismus selbst noch erlebt hatten oder nach 1989 geboren waren. Es schien etwas zu geben, das uns verband.
In den ersten Jahren war es sicher noch eine gemeinsame Unsicherheit. Unser Englisch klang polnisch, slowakisch oder in meinem Fall wahrscheinlich ostdeutsch. Auf den großen Flughäfen, in den schicken Hotels und den noblen Restaurants bewegten wir uns nicht mit der Nonchalance der Kolleginnen und Kollegen aus Westeuropa. Für sie machte es keinen Unterschied, ob wir uns in Toronto, Warschau, Prag oder Auckland trafen. Für uns schon.
„Wo seid ihr denn alle?“
Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der geografische Unterschied auch als ein sozialer. Die Eltern meiner osteuropäischen Kollegen waren Eisenbahner, Krankenschwestern, Ingenieurinnen oder Ingenieure. Kaum jemand von uns hatte familiär etwas mit Film oder Kunst zu tun. (In dieser Hinsicht ist mir ein Arbeiterkind aus Gelsenkirchen näher als ein Künstlerfamilienspross aus Bratislava.) Die meisten von uns hatten eine Kindheit erlebt, in der beide Eltern arbeiteten und man mit sechs Jahren den Schlüssel um den Hals gehängt bekam. Viele von uns waren das, was man später abfällig „Plattenkinder“ nannte.
Wir hatten unsere Sommer in Ferienlagern verbracht bzw. waren eingepfercht in Trabbis in die Hohe Tatra oder im besten Fall an den Balaton gefahren. Später waren wir nach Prag, Krakow oder Budapest getrampt und wussten, wo man dort Westfilme sehen und umsonst übernachten konnte. Wenn wir „Berge“ sagten, meinten wir das Riesengebirge, und das Meer endete in Kap Arkona, Klaipeda oder Varna. Nun saßen wir beim Dinner in irgendeinem Sheraton und wussten im Gegensatz zu unseren westeuropäischen Kollegen mit ihren meist gutbürgerlichen Elternhäusern nicht, welches Besteck man zu welchem Gang benutzt. Dann half es, wenn einer eine „Anfrage an Radio Jerewan“ – den Ostblockwitz-Evergreen – stellte und nur Eingeweihte wussten, wie die Antwort lauten musste.
Aber die Newcomer aus Prag, Krakow und Sofia holten auf. Ich bewunderte, mit welchem Ehrgeiz und Elan sie Märkte und Plattformen eroberten, Festivals, Institute und Produktionsfirmen gründeten. Ich beneidete sie, weil sie die Leitungspositionen ganz selbstverständlich selbst besetzten. Noch dazu: Es waren zumeist junge Frauen, die sich an die Spitze setzten. Das neue Osteuropa war weiblich und verfügte zunehmend über westeuropäische Studien- und Arbeitserfahrung samt geschliffenem Englisch. Vor allem bekamen diese neuen Führungskräfte reihenweise Kinder – und fanden das völlig normal. Wahrscheinlich sind selten vor- und nachher so viele dicke Bäuche und Buggys über Filmmärkte geschoben worden wie in den 2000ern. Westeuropäische Kolleginnen auf Führungsebene hatten selten Kinder. Stattdessen konnten sie ernsthaft darüber diskutieren, ob man sich welche „anschaffen“ sollte oder nicht. Uns Osteuropäerinnen schien der Gedanke absurd, über so etwas überhaupt nachzudenken.
Sagte ich gerade „uns Osteuropäerinnen“? Tatsächlich fühlte ich mich diesen Runden stets zugehörig – war aber meist die einzige (Ost-)Deutsche. „Wo seid ihr denn alle?“, hatte mich ein estnischer Kollege einmal gefragt. Ich wusste es nicht. In den Reihen der sogenannten „Decision Makers“ – wo ich offensichtlich aus Versehen gelandet war – gab es uns jedenfalls eher nicht. Auch das (sächsische!) Festival, für das ich arbeitete, wird seit zwei Jahrzehnten von westdeutschen bzw. -europäischen Führungskräften geleitet und hat sich im Programmbereich zwar vorbildlich divers, aber eben konsequent nicht-ostdeutsch aufgestellt.
Von Europa nicht gemeint
Genau an dieser Stelle unterscheiden sich meine Erfahrungen von denen meiner osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen. Zum Konfliktpotenzial wurde das, als wir in einer größeren Gruppe an einem gemeinsamen Projekt zum 20. Jahrestag der 1989er-Umbrüche arbeiteten. Aus Osteuropa kamen stapelweise Filme über die Verbrechen des Kommunismus und die fiesen Machenschaften der jeweiligen Geheimdienste. Da der Plan war, alle ausgewählten Filme in allen beteiligten Ländern zu zeigen, hatte ich damit ein Problem. Denn das mediale Umfeld, in dem ich Programme machte, reduzierte unser Leben in der DDR mit all seinen Facetten ausschließlich auf eine Diktaturerfahrung und die (natürlich dazugehörigen) Menschenrechtsverletzungen, also auf „Stasi und sonst nichts“.
Mir hingegen ging es um die Darstellung von Komplexität, was allein schon ein Gegennarrativ darstellte. Es kostete viele Sitzungen, durchdiskutierte Nächte und auf die Probe gestellte Freundschaften, bis ich verstand, dass es den anderen Beteiligten um das Gleiche ging – in Gesellschaften, in denen gerade die Diktaturerfahrung kaum je öffentlich benannt oder gar aufgearbeitet worden war. Was in meiner Programmarbeit hieß, mit dem hegemonialen Strom zu schwimmen, bedeutete dort, sich gegen ihn zu stemmen. Genauso schwer fiel es den osteuropäischen Partnern zu begreifen, wie randständig die gesellschaftliche Position war, auf der ich als Ostdeutsche agierte. Und dass es bei uns allen ein Ringen um die EIGENE Geschichte und um Deutungshoheit war.
Für mich wie für die anderen Beteiligten dieses Prozesses war es wohl das Ende des unschuldigen Glaubens daran, dass eine gemeinsame osteuropäische Nachwende-Erfahrung uns verbindet. Für meine osteuropäischen Freundinnen mag dies gelten – für mich nicht. Und doch finden wir uns am Ende langer Abende noch zusammen – als wüssten die Magnete nicht, dass unsere Wege jetzt in verschiedene Richtungen führen. Vielleicht ist es eine Art tief sitzender DNA. Osten – das ist ja mehr als Ideologien und Systeme, mehr als DDR, UdSSR und RGW. Gerade mit unseren direkten Nachbarländern verbinden uns – anders als die Gebiete jenseits der Elbe – auch tausend Jahre slawischer Geschichte.
Vielleicht aber verbindet uns jetzt, mehr als drei Jahrzehnte nach den Umbrüchen, auch eine neue Ernüchterung. Das Gefühl, von Europa nicht gemeint zu sein. Von uns ist nur die Rede, wenn wieder etwas falsch gemacht wurde – in den Augen des Westens. Meine mutigen Kollegen in Prag, Krakow und Sofia konnten (mit viel EU-Förderung!) Institutionen gründen, so viele sie wollten. Sie können die schönsten Filme produzieren – auf den großen Festivals und in unseren Kinos kommen diese allenfalls als Marginalie und in Nebenreihen oder als „Special“ vor. Die Frage, ob wir nun alle Europäer sind, könnte also in Anlehnung an Radio Jerewan beantwortet werden mit: „Im Prinzip ja, aber …“
Grit Lemke, 1965 in Spremberg geboren, aufgewachsen in Hoyerswerda, arbeitet als Dokumentarfilmregisseurin und Autorin. Ihr Film „Gundermann Revier“ wurde 2020 für den Grimme-Preis nominiert. 2019 erschien ihr Buch „Unter hohen Himmeln“. 2021 erschien bei Suhrkamp ihr Buch „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“. Lemke wohnt in Berlin und Hoyerswerda.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
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