Unsere Berliner Stadtgespräche im September / Jan Rieckhoff

Stadtgespräche im September - Schulessen zum Nulltarif, Elektroroller und Müll im Urlaub

Müll einsammeln wird zum Event, die Bildungspolitik glänzt mit dem üblichen Dilettantismus – und im Regierungsviertel ist Postengeschacher angesagt

IllustrationAlles so schön sauber
Nach einem Namen wird noch gesucht, aber es könnte sein, dass der Berliner Bär im Stadtmarketing ausgedient hat. Der Müllmann drängt nach vorne. Nie verlegen um das Erfinden symbolpolitischer Großtaten, laden die Bezirke Pankow und Mitte künftig Touristen ein, Berlin zu säubern. Auf Müll­einsammelrunden, „Clean-up-Touren“, sollen Briten, Spanier, Südkoreaner haptisch und olfaktorisch erfahren, woraus Berlin gemacht ist. Und einen Beitrag leisten zur Verschönerung jener Parks, die sie zuvor mit Müll bereichert haben. Ob das durchschaubare Ansinnen auf Nachfrage stößt, bleibt abzuwarten. Der allermeiste Müll dürfte heimischen Ursprungs sein und ein Nebenprodukt sogenannter Berliner Lässigkeit. Es bleibt viel zu tun für Manni, den Müllmann. Alexander Kissler

IllustrationIm Endstadium
Woran man merkt, dass eine Regierung am Ende ist? Am Stillstand der Rechtspflege bei gleichzeitigem Elan, auf den letzten Drücker Leute aus der eigenen Partei auf schöne Posten zu heben. Zwei zufällige Treffen dieser Tage in Berlin deuten auf beides hin. Jemand aus dem Umweltbundesamt moniert, dass die Sozialdemokraten alle Energie daransetzten, ihre Leute mit schönen Posten zu versorgen. Und eine Staatssekretärin im CDU-geführten Wirtschaftsministerium klagt gegenüber Vertrauten, dass sie gar nicht erst im SPD-geführten Justizministerium anrufen müsse, von dort komme ohnehin nichts mehr zurück als Antwort. Vermutung: Diese Regierungs­agonie wird bis zu den Landtagswahlen im Herbst anhalten. Danach könnte alles ganz schnell gehen. Christoph Schwennicke

IllustrationAKK vs. TDM
Es gibt viele Gründe, warum Thomas de Maizière zu den schwächsten Verteidigungsministern der vergan­genen Jahrzehnte zählt. Einer seiner vielen Fehler ist öffentlich nicht so bekannt, aber für die operative Leitung des Hauses fatal. De Maizière hatte den Planungsstab abgeschafft, eine Abteilung, die wie ein Scharnier zwischen militärischer und politischer Führung des Hauses eine wichtige Rolle spielte. Die neue Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer baut sich derzeit eine Art Ersatz-Planungsstab auf, in dem ihr Vertrauter Nico Lange und der bisherige Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp, eine Rolle spielen könnten. Vor einem echten Planungsstab scheut AKK offenbar zurück. Weil sie nicht mit einer langen Amtszeit rechnet? Christoph Schwennicke

IllustrationChaos und Stillstand
Der Weg in den Irrsinn ist mit neuen Begriffen gepflastert. Bevor klebrige, pappsüße Limonade Energydrink hieß, war sie nur kalter Kaffee. Ehe man Wandern Walking nannte, war es eine Rentnerbeschäftigung, und nun haben wir den Berliner E-Scooter-Schlamassel. Beim Elektro-Scooter handelt es sich um Roller mit Antrieb, Tretroller ohne Tretzwang. Viele, viele Jahre lang nutzten nur Kinder ein Brett als Fortbewegungsmittel, Pünktchen und Anton zu Erich Kästners Zeiten. Heute hat sich die Industrie des Brettes bemächtigt, ihm einen Motor verpasst und eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, und prompt gibt es Pro­bleme. Nur auf den Fahrradwegen dürfen sich die E-Roller tummeln, was wie jedes Verbot keinen Berliner juckt. Halten sich die Halter doch daran, frisch Zugezogene vermutlich, verursachen sie auf den schmalen Radfahrstreifen Chaos oder Stillstand zwischen Fahrradkurier, Fahrradtourist und Rennradraser. Bereits im ersten Monat, in dem sie erlaubt waren, verursachten E-Roller 18 Unfälle. Auch im stehenden Zustand, ihrer Smartphone-Kundschaft harrend, sind sie eine Plage, blockieren die Gehwege. Der Senat hat nun Sperrzonen eingerichtet, etwa rund um das Brandenburger Tor, in dem Elektrobretter nicht abgestellt werden dürfen. Bald ist Berlin eine einzig verkehrsberuhigte Zone. Wie nennen wir dieses Stillstandsexperiment? Mobilität 5.0. Alexander Kissler

IllustrationMit Zauberstab
Der Tod mag ein Wiener sein. Merlin aber, der Zauberer, hat sich in Berlin niedergelassen. Kein Tag vergeht, ohne dass die Stadtregierung eine Kostprobe gäbe im magischen Dreikampf aus Realitätsverbiegung, Problemleugnung und Illusionismus. Oder ist der Senat zur Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei mutiert, unter dem Patronat Harry Potters? Eine gelehrige Schülerin wäre – neben vielen anderen – Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD. Dass Berlin sich eine Bildungssenatorin gönnt, sorgt südlich der Mainlinie für Heiterkeit, zeigt die Hauptstadt doch, dass sie auch in der Bildungspolitik jene Mängel verwaltet, die sie erschuf. Scheeres sah sich mit der Nachricht konfrontiert, bis 2021 fehlten über 26 000 Schulplätze in der Stadt. So habe es die Taskforce Schulbau der Senatsbildungsverwaltung errechnet. Errechnet? Da müsste man etwas dagegensetzen können, eine andere Rechnung, 1 und 1, als 3 betrachtet? Wenige Tage später gab Scheeres bekannt: Es seien nur 9500 fehlende Schulplätze. Die Taskforce-Zahl sei eine „Maximalprognose“ gewesen. Wunderbar! Als beruhte Berlin auf etwas anderem als Maximalprognosen, die übertroffen werden. Als wäre hier auf irgendetwas mehr Verlass als auf kollabierte Konzepte, implodierte Szenarien und explodierende Kosten. Nicht einmal Merlin gelang es, den BER in einen Flughafen zu verwandeln. Alexander Kissler

IllustrationChaos mit Ansage
Und weil in der Berliner Bildungspolitik alles rund läuft (siehe links), kann man sich natürlich den einen oder anderen Luxus leisten. Deshalb setzte der Senat ein kostenloses Schulmittagessen für alle Erst- bis Sechstklässler durch. Um aus der Aktion politisches Kapital zu schlagen, warb die SPD mit dem Slogan „Kein Kind sollte hungrig in den Unterricht gehen müssen“ sowie dem Bild eines lieblos angerichteten Tellers mit Nudeln und ein paar Spritzern Ketchup obendrauf. Es hagelte Häme, die Werbung wurde schnell zurückgezogen. Dabei traf die Illustration den Kern der Sache punktgenau: Weil die Caterer jetzt nämlich Essen für alle Schüler zubereiten müssen, geht es mit der Qualität der Speisen rapide bergab; mitunter kann wegen Kapazitätsengpässen auch gar nichts mehr serviert werden. Außerdem muss die Organisation der Essenszeiten umgestellt werden, damit die Kinder schichtweise essen können – wodurch sich wiederum die Unterrichtszeiten verschieben. Und natürlich müssen Unmengen an Nahrungsmitteln weggeworfen werden, weil die Caterer für die gesamte Schüleranzahl Essen bereitstellen müssen – egal, ob diese das Angebot wahrnehmen oder nicht. Dass Lehrerschaft, Elternschaft und die Dienstleister vor exakt dieser Situation gewarnt hatten, ficht den Senat nicht an. Denn Symbolpolitik ist in Berlin allemal wichtiger als die nackte Vernunft. Alexander Marguier

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Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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