- Das durchschnittsdeutsche Ressentiment
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Marie Amrhein wurde übers Ohr gehauen. Der Schaden: Hunderte Euro, ungeschliffene Messer und die Erkenntnis, dass auch der aufgeklärte Deutsche nicht selten Opfer eines diffusen Bauchgefühls wird
Es gibt weniger Nazis in Deutschland, also Menschen mit einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“. Das ist schön. Was die Wissenschaftler der Leipziger Universität in ihrer neuen „Mitte-Studie“ aber auch in der vergangenen Woche mitgeteilt haben, ist nicht so schön: Bestimmte Gruppen wie die der Roma und Sinti sind extremen Stigmatisierungen ausgesetzt. 55,9 Prozent aller Deutschen halten sie für kriminell, 47,1 Prozent wünschen sie sich ganz weg aus den Innenstädten. Das sind knapp 20 Prozent mehr als noch vor drei Jahren.
Der Durchschnittsdeutsche pflegt seine Vorurteile. Da will man als aufgeklärter Akademiker mit gutem Beispiel vorangehen, sind doch unter den Ausländerfeinden nur 6,8 Prozent mit Abitur, dagegen 20,8 Prozent ohne gymnasialen Abschluss. Und so habe ich mich vor einigen Tagen übers Ohr hauen lassen. Ganz klassisch und sehenden Auges.
Der junge Mann, helle Augen, dunkles Haar, gepflegt in Jeans und grauem Sweatshirt, gebrochenes Deutsch, fuhr im silbernen Mercedes auf unseren Hof. Sein Angebot, hartnäckig und dabei freundlich: All unsere Äxte, Bohrer und Motorsägen zu schleifen – für einen „guten Preis – muss dir gefallen und muss mir gefallen“. Der Deal stank schon zu Beginn – weil der Preis, 2,50 Euro pro Zentimeter, erst am zweiten Tag genannt wurde, weil weder eine Internetseite der Firma noch eine Telefonnummer zu bekommen war. Den Namen des Ortes, an dem sich angeblich die drei elf Meter langen LKWs mit der fahrenden Werkstatt aufhielten, hatte unser „Francesco“ nicht im Kopf. Warum wir trotzdem auf das Geschäft eingingen? Eigentlich weiß ich es nicht. Es war eine Mischung aus moralischem Druck, aus Unglauben, dass uns da einer in solch brüsker Art beschwuppste. Wenn auf einem niedersächsischen Bauernhof plötzlich eine Atmosphäre wie auf einem Istanbuler Basar herrscht, ist man erst einmal perplex.
Wie in Foren nachzulesen ist, sind wir nicht die einzigen, die diesem Mann nicht widerstehen konnten. Der zog mit 300 Euro wieder ab und ließ uns mit vier geschliffenen Äxten, einer Motorsägenkette und zwei Meißeln einigermaßen unbefriedigt zurück. Denn der Preis, sind wir ehrlich, gefiel vor allem ihm. Auch der hiesige Polizeiwachtmeister lachte und sagte: „Ihr seid bescheuert! Das nächste Mal komme ich mit dem Grün-Weißen vorbei und mach euch das für hundert.“
Ein bisschen Bescheißen
Gebeutelt von der Abneigung gegenüber den eigenen Vorurteilen, von moralischen Überlegungen, trifft man eben Fehlentscheidungen, trösteten wir uns. Das Vorurteil kann dabei helfen, Bauchentscheidungen zu treffen, die einen schützen – oder auch schädigen.
Bei unserem Vertreter des fahrenden Volks zeigte sich eine Überlebensstrategie von Menschen, die über Generationen mit Misstrauen konfrontiert werden. Denen dauerhafte Geschäftsbeziehungen wenig nützen, die im kurzen Kontakt aber überragende Überzeugungskräfte freisetzen müssen – ohne Rücksicht auf Vertrauensverluste. Dass Roma in Clans leben und ihre Umwelt sukzessive ausrauben, sei eine Mär, sagt Rudko Kawczynski, Präsident des European Roma and Travellers Forum im Interview mit der Zeit. Vielmehr kämpfe hier jeder für sich ums Überleben und das bedeutet eben häufig Betteln und dann und wann ein bisschen Bescheißen. Hier erlebe der Deutsche die „Dritte Welt zum Anfassen“, so Kawczynski. Und das ist ein harter Bruch in der sommerlichen Lüneburger Heide.
Was aber wollen wir daraus fürs nächste Mal lernen? Vorurteile sind brauchbar? Der Roma eine Gefahr? Ich muss an eine Begebenheit aus dem vergangenen Sommer denken. Wir waren gerade hierher aufs Land gezogen. Drei Roma-Frauen spazierten die Straße vor unserem roten Backsteinhof vorbei. Eine alte, leicht gebückt, zwei junge in bunten Kleidern. Sie kamen an die offene Tür und riefen, sie sammelten Geld für die Ponys ihres Zirkus’, mit dem sie über Land führen. Als sie wieder weg waren, fehlte der Haustürschlüssel. Wir fluchten, wir suchten, wir schimpften – auf wen wohl? Bis wir den Schlüssel gefunden hatten. In irgendeiner Hosentasche. Dann waren wir still und schämten uns.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.