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Die Politik hat nicht die Aufgabe, Bürger zu erziehen / dpa

Replik eines Erziehungswissenschaflers - Politik erzieht nicht

In einem Gastbeitrag für „Cicero“ kritisierte Ewald Kiel den Regierungsstil in der Corona-Pandemie. Der Bürger sei kein schwer erziehbares Kind. Doch den Vorwurf der Gängelei kann man der Regierung gar nicht machen, kontert Joachim Kahlert. Eine Replik.

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Autoreninfo

Bis zum Ruhestand im Jahre 2018 war Joachim Kahlert Ordinarius für Grundschulpädagogik und -didaktik an der LMU München. Er war 4 Jahre Direktor des Departments für Pädagogik, 4 Jahre Dekan der Fakultät für Psychologie und Pädagogik und 9 Jahre Direktor des Münchener Zentrums für Lehrerbildung an der LMU.

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Man kann an der Corona-Politik von Bund und Ländern sicherlich viel kritisieren, auch einiges gut finden. Und schaut man in die Presse und in die sogenannten sozialen Medien, dann geschieht dies ja auch auf vielfältige Weise und in variantenreicher Tonlage. So wie sich das für eine lebendige Demokratie gehört. Eines aber kann man der Politik nicht ernsthaft vorwerfen: Dass sie die Bürgerinnen und Bürger falsch erzieht. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Politik hat weder die Aufgabe noch das Recht, mündige Bürgerinnen und Bürger zu erziehen.

Natürlich will Politik uns beeinflussen, unsere Meinung, unsere Einstellungen und unser Verhalten. Das ist ihre Aufgabe. Sie nutzt dabei den Gestaltungsspielraum, den Grundgesetz und Landesverfassungen ihr zubilligen. Dafür halten Politikerinnen und Politiker Reden, sie inszenieren öffentliche Auftritte, sind im Netz präsent und streiten sich in den Parlamenten. Wer entsprechende Mehrheiten zusammenbekommt, macht Gesetze, die in mehreren Lesungen im Bundestag oder in den Länderparlamenten beraten und diskutiert und mittels Verordnungen der Exekutive umgesetzt werden.

Dies ist Einflussnahme pur, hat aber mit Erziehung genauso wenig zu tun wie viele andere Versuche, Verhalten und Einstellungen anderer Menschen zu beeinflussen.

Nicht jede Einflussnahme ist Erziehung

Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen von Behörden, Werbung, Versuche, den Partner oder die Partnerin zu verändern, Anordnungen von Vorgesetzten sind mal mehr, mal weniger gut begründete Unterfangen, jemanden zu etwas zu bewegen, was er/sie von alleine wohl eher nicht tun würde. Aber Erziehung ist das nicht.

Erziehung unterscheidet sich von allen anderen Einflussnahmen darin, dass ein Erziehungsverhältnis vorausgesetzt wird. Die Erziehenden werden, ob das gerechtfertigt ist oder nicht, als mündiger betrachtet als diejenigen, die erzogen werden. Im Alter von 18 Jahren ist damit Schluss, und darum bringt die Polizei den 14-jährigen, der bloß deshalb aus der Familie abhaut, weil er irgendwie keinen Bock mehr hat mit den Eltern zusammenzuleben, erst einmal zur Familie zurück. Aber wenn ein besorgter Vater die Polizei bittet, den 18-jährigen aus einer WG zurück nach Hause zu holen, werden die Beamten abwinken. Und wer hätte den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin nicht schon mal so sehr gereizt, dass man sich zu Recht anhören musste: „Hör auf, mich erziehen zu wollen!“

Wer über 18 noch legitimerweise Erziehung erdulden muss, sitzt entweder im Knast (Resozialisierungsauftrag) oder lebt in einer betreuten Einrichtung – beides wiederum auf gesetzlicher Grundlage, die die Ausnahme von der Regel sanktioniert: Für jemanden, der über 18, also volljährig ist, gibt es keine Erziehungsberechtigten.

We don´t need no education

Politik muss sich in repräsentativen Demokratien nicht daran messen lassen, ob sie einen pädagogisch korrekten Erziehungsstil pflegt, sondern ob sie dem Helmut Schmidt-Karl Popper-Grundsatz gerecht wird: Verantwortungsvoll handeln, step by step, mit Schritten, deren Eingriffstiefe in das Leben der Bürgerinnen und Bürger sich mit Wissen und Vernunft rechtfertigen lässt. Dazu gehört auch die Bereitschaft zur Korrektur, wenn sich die erhoffte Wirkung nicht einstellt oder wenn unerwünschte Nebenwirkungen den Nutzen übersteigen.

Zumindest in Staaten mit einem sozialen und demokratischen Anspruch kann man von Politik erwarten, zu versuchen, einen größtmöglichen Nutzen mit kleinstmöglichen Schäden zu erreichen. Sie muss dabei nicht nur mit debattierfreudigen und klugen, am vernünftigen Diskurs interessierten Bürgerinnen und Bürgern rechnen, sondern mit einer bunten Mischung in der Bevölkerung: Kluge und weniger Kluge, Vorsichtige und Draufgänger, Lernbereite und Verbohrte, Asket – halt mit der ganzen Bandbreite Mensch, mit denen „Gottes Hand und Teufels Beitrag" (John Irving) unsere Welt beglückt.

Irgendwann sind Entscheidungen gefragt

Klar, sollte Politik dabei auch möglichst viel erklären, zuhören, mitnehmen. So ähnlich hat es Emmanuel Macron zu Beginn seiner Amtszeit mit der „Grand débat national“ versucht. Das war nicht uninteressant, aber befriedet hat das die Französinnen und Franzosen, die sich selbst gerne als maulig und aufmüpfig bezeichnen, eher nicht. Irgendwann muss man ja doch wieder zu Entscheidungen kommen, die nicht alle begeistern, Unzufriedenheit schüren und zum Vorwurf führen, die „Regierenden“ hätten ja nur Scheindebatten im Sinn.

Man kann die großen Mitnahme- und Mitmach-Debatten anstreben. Aber niemand, der oder die weiterhin die daraus hervorgehenden Maßnahmen als Zumutung sieht, wird sagen: Ach ja, ich bin zwar nicht zufrieden, aber „Mutti“ hat sich mit uns Mühe gegeben, und darum mache ich brav mit.

Falsche Politik lässt sich korrigieren, verlorenes Leben nicht

Mehr Partizipation, mehr Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung klingt immer gut. Aber was macht man in einer Situation, die nicht zu leugnende und noch nicht verstandene Lebensgefahren für viele mit sich bringt oder jedenfalls mit sich bringen kann?

Wie die Virus-Mutationen zeigen, kann sich die Erkenntnislage rasch ändern. Und die Infektionen breiten sich auch nicht bundesweit in gleichem Maße und mit gleichen Gefährdungen der Bevölkerung aus. Darum sieht die jüngste Reform des Infektionsschutzgesetzes unter anderem vor, staatliche Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede beim Infektionsgeschehen und orientiert an Schwellenwerten zu ermöglichen.

Wie soll es praktisch funktionieren?

Mit den so hoffentlich nach bestem medizinischen und epidemiologischen Wissen und Gewissen ausgewählten Maßnahmen kann man nicht warten, bis „Bürger-oder sonst-wie-Debatten“ endlich zum Abschluss kommen. Und wie sollen solche Debattiergremien zusammengesetzt sein? Ärztinnen würden in solchen Debattierzirkeln vor einem anderen Erfahrungshintergrund und mit anderen Risikoabwägungen urteilen als Restaurantbesitzerinnen, ältere Menschen anders als junge, Polizisten anders als Juristinnen, Risikofreudige anders als Risikoscheue, Lehrer anders als Ladeninhaberinnen, Kinderlose anders als Eltern und, und, und. Inzwischen macht das Virus, was es am besten kann: sich vermehren.

Die Menschen sind nicht nur auf sehr unterschiedliche Weise von den Maßnahmen betroffen, die den Verlauf der Pandemie eindämmen sollen, sondern auch von den Zeitverzögerungen, die in Kauf zu nehmen wären, wenn diskutiert, statt nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt wird. Falsche Politik, überzogene Maßnahmen lassen sich korrigieren, verlorene Leben nicht.

Die repräsentative Demokratie lebt von einem guten Mix aus Delegieren, Erklären, Partizipieren und Durchsetzen. Mündige Bürgerinnen und Bürger, im Kanzlerinnen-Sprech „die Menschen“, müssen dafür nicht geschickter erzogen, sie müssen überzeugt werden.

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Walter Bühler | Mo., 18. Januar 2021 - 14:45

... die nicht nur gut zum Artikel von Herrn Kiel vom 10.1. passt, sondern auch den schiefen Psycho-Vergleich von Herrn Northe vom 16.1. bezüglich Herrn Merz ins rechte Licht setzt.

Allerdings schließt das alles leider nicht die Möglichkeit aus, dass sich viele erwachsene Staatsbürger gerne wieder in unmündige Kinder verwandeln möchten. Die Last der Mündigkeit ist für viele zu schwer, daher suchen sie ihr Heil im Infantilismus. Der Spitzname "Mutti" für Merkel ist dafür ebenso ein Symptom wie der Erfolg von Gretas Kinderkreuzzug bei erwachsenen Menschen, nicht nur in Deutschland.

Unmündigkeit ist halt viel weniger anstrengend.

Romuald Veselic | Mo., 18. Januar 2021 - 14:52

Erziehen/Nichterziehen.
Was wäre damit, wenn die Politik an den Nichtpolitisierten borniert vorbeiregiert? Einfach weil die Politics glauben, sie können das, weil man als Ministerpräsident dazu prädestiniert ist, alles besser zu wissen u. besser zu entscheiden. Bevölkerung ist keine eingehegte Schafsherde, an der man rumdoktern kann.
Damit braucht man keine erzieherische/nicht-erzieherische Aspekte, man ändert das bisher Gültige: Die Mund-Nase-Masken, die man bislang vorrätig hatte, auf FFP2 Masken umstellt, mit dem Argument, sie sind sicherer... Ohne Beweise zu liefern. Arroganz der Macht auf die Breitspurart.
Woher weißt man, dass die FFP2 besser sind als Nicht-FFP2? Hatte man die etwa gesunden, C19-freien Probanden, in eine C19 verseuchte Gemeinschaft gesteckt, um diese Beweise praktisch u. labortechnisch unter Beweis zu stellen?
Und neulich: Die EZB rechnet mit erhöhter Inflation. Diese dämliche Institution soll bitteschön etwas dagegen tun, als damit zu rechnen!

Heidemarie Heim | Mo., 18. Januar 2021 - 15:12

Ganz recht werter Herr Kahlert! Aber wie überzeugend war letztendlich die Performance unserer Regierung? Und natürlich bleibt nicht immer Zeit für Debatten. Hat auch niemand so eingefordert von der Regierung, was sich allein auch darin zeigt, das unsere Abgeordneten ihr Exekutivrecht auf den Gesundheitsminister und eine eigentlich so nicht vorgesehene Ministerrunde mit der Kanzlerin übertrugen. Doch was man erwarten kann nach Dauer und Lage ist zumindest ein Plan B wenn sich Plan A nicht als wirksam herausstellt. Und dabei noch diesbezüglich auftauchende Fragen von mündigen Bürgern gar nicht oder mit sehr zweifelhaften Methoden versucht abzubügeln. Das Verfahren kenne ich noch aus der eigenen Erziehung. Wenn man nicht weiter wusste oder nicht zugeben wollte das man mit seinem Latein am Ende war, wurde einem der Mund verboten. Nichts anderes erkenne ich auch in dem, was man unter neudeutsch canceln anderer oder missliebiger Meinungen versteht. Um zu überzeugen braucht man VERTRAUEN!

Manfred Sonntag | Mo., 18. Januar 2021 - 15:16

Herr Kahlert, Sie schreiben "falsche Politik lässt sich korrigieren, verlorenes Leben nicht." Das ist wahr. Aber wenn da falsche Politik den Schutz vor Infektionen in den Alten und Pflegeheimen verhinderte, haben wir jetzt den Salat. Ansonsten sehe ich den Prozess der Erziehung ähnlich. Das Problem ist, dass Politik und Mainstream-Medien eine gefährliche Symbiose eingegangen sind. Die viel beschworene vierte Säule der Demokratie ist weggebrochen. Außerdem scheint es noch eine Wechselwirkung zu geben, indem die linken und linksliberalen Medien die Politiker in ihrem Sinn massiv beeinflussen. Das geschieht dann mit Framing, betreutem Denken und Diffamierungskampagnen. Viele Bürger, auch ich selbst, empfinden das als ideologische Erziehungs- und Gängelungsversuche. Für Bürger welche die DDR erlebt haben, ist das ein Déjà-vu Erlebnis. Dazu kann ich nur sagen: NIE WIEDER! Und auch jetzt sind die schärfsten Dogmatiker diktatorischer Maßnahmen in den Medien zu finden.

Tomas Poth | Mo., 18. Januar 2021 - 17:14

Es braucht wie hier beschrieben kein Erziehungsverhältnis, um zu erkennen wie erzogen wird getreu dem Motto in der Gruppendynamik - den erziehen wir uns schon, den müssen wir einfangen etc. -
Nudging hört sich natürlich moderner an.
Das Beschweigen von wichtigen Informationen, das canceln, jemanden gefügig machen, das sind im weitesten Sinne erzieherische Maßnahmen, wenn auch nicht im Sinne eines Eltern-Kind Verhältnis.
Merkel als Mutti hat ihren Namen ja nicht umsonst weg, um zu erkennen wie sie ihre Politik betreibt.

Markus Michaelis | Mo., 18. Januar 2021 - 19:44

"Falsche Politik, überzogene Maßnahmen lassen sich korrigieren, verlorene Leben nicht." Das stimmt nicht. Alles hat auch weitere Auswirkungen, natürlich muss man abwägen, aber darum geht es ja nicht. Hier ist die Frage, ob der Stil ok ist oder "erzieherisch". Natürlich ist die Regierung nicht erziehungsberechtigt und natürlich muss eine Regierung nicht nur verwalten, sondern auch führen. So eng wollte der Begriff "erziehen" glaube ich auch nicht verstanden werden.

Auch bei anderen Themen hatten viele das Gefühl, dass Merkel Dinge nicht gerne öffentlich diskutiert, sondern mehr in ruhigem Ton darlegt, was sie für alternativlos hält. Das ist denke ich eine Sache der inneren Einstellung.

Am Ende gibt es die Bürger, die die Maßnahmen gut finden und sich auch weniger Diskussionen wünschen, und die Bürger, die gerne Dinge anders hätten, und daher gerne nochmal diskutieren würden. Dass man zumindest hinterher diskutiert, finden hoffentlich alle gut.

Ulrike Volkmann | Di., 19. Januar 2021 - 15:55

Ihr Artikel, Herr Kahler, beschreibt einen Zustand, der meiner Wahrnehmung der Realität nicht entspricht. Hier geht es nicht mehr um Erkenntnisgewinn oder Vermittlung, sondern um Macht. In einer Bunkermentalität folgt man den immer gleichen Wissenschaftlern, die die eigene Wahrnehmung der Realität bestärken. Zu mehr fühlt sich keiner mehr verpflichtet, einem Volk gegenüber, dessen Anstrengungen nicht mal mehr wahrgenommen, geschweige denn anerkannt werden. Die, die schon so viel auf sich genommen haben, werden beschimpft und bedroht. Das "Es tut mir leid" in Merkels Rede im Bundestag klang so wie es gemeint war: geheuchelt. Als ob ihr Redenschreiber sie mehrmals ermahnt hat: "Lass es wenigstens so aussehen, als ob...". Mich macht diese Ignoranz wütend, gerade weil ich mich als mündige Bürgerin verstehe, die sich jetzt einfach aufregen muss, denn "wer über bestimmten Dingen nicht den Verstand verliert, hat keine zu verlieren"(Lessing).

Günter Johannsen | Di., 19. Januar 2021 - 18:44

„Eine Nation kann ihre Narren überleben – und sogar ihre ehrgeizigsten Bürger. Aber sie kann nicht den Verrat von innen überleben.
Ein Feind vor den Toren ist weniger gefährlich, denn er ist bekannt und trägt seine Fahnen für jedermann sichtbar“.
(Cicero, Philosoph und römischer Staatsmann)