- Die Not der Merkel-Versteher
Im achten Jahr der Kanzlerschaft laufen die Merkologen zur Hochform auf. Die Kanzlerin habe keine Meinung und lasse die Demokratie verkümmern. Dabei fallen eben jene Merkel-Versteher durch ihre Saturiertheit auf und verkennen die Realität: In der Gesellschaft ist Protest längst Volkssport Nr. 2
Im achten Jahr ihrer Kanzlerschaft nähert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel jenem Punkt, an dem sich die ersten Mythen verfestigen. An ihnen kann sich dann jeder nach Fähigkeit und Geschmack abarbeiten. Wie stets bedienen sie die widersprüchlichsten Motive. Am beliebtesten ist jenes Urteil über sie, das im strengen Sinne komplett unlogisch ist: Sie tut nichts, beherrscht aber gerade dadurch das ganze Volk. Eine andere Variante geht so: Sie hat zu keinem Thema eine klare Meinung, drückt diese aber dem ganzen Land auf. Klingt fast ein bisschen teuflisch. Man nennt sie die „Teflon-Kanzlerin“, weil alles an ihr abpralle, doch das europaweit angeklebte Hitler-Bärtchen haftet an ihr wie Maggie Thatchers Betonfrisur mit Drei-Wetter-Taft.
Die beiden letzten der inzwischen kaum noch zählbaren Merkel-Biographien bringen noch ein schönes Motiv ins Spiel: Als angeblich ehemalige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda, so suggeriert jedenfalls die schrill begleitende Werbung, stehe die ehemalige Zonen-Bewohnerin Merkel kurz davor, die Bundesrepublik in eine DDR light zu verwandeln. Gruselig. Kein Zufall vielleicht, dass vor wenigen Tagen alte Stasi-Kader einen feldmarschmäßigen Auftritt im vollen Wichs am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow hinlegten. Wir verstehen: Da greift doch eins ins andere.
[gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht]
Den Vogel der fortgeschrittenen Kreml-Merkologie hat Dirk Kurbjuweit im neuesten SPIEGEL abgeschossen. Der laut Impressum „politische Autor“ des Magazins, eine Art Großkommentator im Sinne von Robert Musils „Großschriftsteller“ und langjähriger Merkologe, greift ganz tief in die Historie und diagnostiziert ein „zweites Biedermeier“. In ihm repräsentiert die Kanzlerin eine Mischung aus Fürst Metternich und Carl Spitzweg: Macht und Kaminfeuer-Gemütlichkeit, Herrschaft und Kanapee, Staatsempfang und Nachttischlampe.
Schau, dort spaziert Herr Biedermeier
und seine Frau, den Sohn am Arm;
sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.
spottete 1847 ein revolutionärer Versschmied, und auch heute, im „zweiten deutschen Biedermeier“, geht’s gar grauslig und furchtbar lauwarm zur Sache.
„Sie trocknet das Land aus und streut Puderzucker drüber“, klagt Kurbjuweit über Merkel. Auch den „Diskurs in Deutschland“ habe sie „lahmgelegt“ und „eine ruhende Republik“ geschaffen. Wir alle seien nun bedauernswerte „Geschöpfe der Merkel-Zeit“, derweil das Land „bräsig vor sich hin dampft“ und die Demokratie „verkümmert“. O-Ton des SPIEGEL-Autors: „Das Volk bleibt wunschgemäß ruhig, niemand fällt ein, aus welchem Grund er gegen Merkel protestieren könnte.“ Und ja, „so hat sich Merkel ein Land geschaffen, das sie ein bisschen an ihre erste Heimat erinnern dürfte, die DDR, die Biedermeier in Staatsform war.“
Hier schließt sich der Kreis zur DDR light, Stasi, FDJ und Bückware.
Anhänger Sigmund Freuds würden bei dieser grotesken Fehlwahrnehmung womöglich auf die klassische „Projektion“ tippen. Und tatsächlich: Ersetzt man Merkel durch SPIEGEL, klingt einiges durchaus plausibel. Auch das derzeit führungslose Nachrichtenmagazin fällt im Augenblick ja nicht gerade durch wegweisende, politisch wie philosophisch tiefgreifende Debatten auf. Eher schon herrscht eine durch Zukunftsangst porös gewordene Saturiertheit, die die eigene Mittelmäßigkeit stets bei anderen entdeckt.
Die bizarre Beschreibung der deutschen Verhältnisse beginnt schon mit falschen Metaphern. Wenn die DDR „Biedermeier in Staatsform“ war, war dann die Sowjetunion Weimarer Klassik mit einem Schuss Stalin? Leninismus light? Das maliziöse und klischeehafte Spiel mit historischen Vergleichen ist schon deshalb sinnlos, weil es im Nachhinein auch noch dem echten Biedermeier Unrecht tut: Auf der einen Seite herrschte Fürstenwillkür und Kleinstaaten-Absolutismus, auf der anderen Seite kündigten sich im „Vormärz“ der bürgerlichen Revolution große gesellschaftliche und ästhetische Veränderungen an. Ludwig Börne und Heinrich Heine, Franz Schubert und Johann Strauss, Adolph Menzel und Jean Paul waren Zeitgenossen dieser spannenden und widersprüchlichen Ära, der 2007 in Wien, Berlin und Paris eine bahnbrechende Ausstellung gewidmet worden war. Untertitel: „Die Erfindung der Einfachheit“.
Wie auch immer: Ein einigermaßen unvoreingenommener Blick auf Deutschland von 2013 offenbart jedenfalls ein ganz anderes Bild als das einer verspießerten Gartenzwerg-Republik, in der niemand aufmuckt. Im Gegenteil: Kaum ein anderes europäisches Land weist derzeit eine ähnliche – nicht nur ökonomische – Dynamik auf. Allein die zuletzt massiv angestiegene Einwanderung hunderttausender junger Menschen aus Europa und der Welt ist ein schlagender Beleg. Soviel zur Austrocknung des Landes.
Was die „ruhende Republik“ betrifft: Es bedürfte gar keiner umfangreichen Studien wie zuletzt Franz Walters Untersuchung über „Die neue Macht der Bürger“, um die Behauptung einer stillgestellten Gesellschaft zu widerlegen. Protest ist – nach Fußball – längst zum Volkssport Nr. 2 der Deutschen geworden. So chaotisch und selbstbezogen die Piratenpartei ihren immerwährenden Kindergeburtstag feiert – von einem „langsamen Ersticken der Wählerschaft“ (Kurbjuweit) kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die „Alternative für Deutschland“ erlebt seit Wochen einen Ansturm neuer Mitglieder und die in die Jahre gekommenen Grünen mühen sich nach Kräften, mit ihrer tapferen Ankündigung von Steuererhöhungen, sozialer Umverteilung und einer beschleunigten „Energiewende“ die Ära Merkel im September zu beenden. Nicht zuletzt ist da immer noch die famose Linkspartei, deren neue Ikone Sahra Wagenknecht auf allen Kanälen mit ihren politischen Rundumschlägen gegen Merkel & Co. präsent ist.
Fast jeden Abend streiten bei ARD und ZDF Talkshow-Gäste aus allen Bundesländern über jedes nur erdenkliche Thema, und selbstverständlich kommt weder die Eurokrise noch der Zustand der Krankenhausversorgung zu kurz. Auf den Straßen der Republik wird demonstriert und gestreikt, was Schuhsohlen, Trillerpfeifen und Parolen-Kreativität hergeben. Ja, der „Wutbürger“ (übrigens ein SPIEGEL-Neologismus) lebt, auch wenn er im Großraum Stuttgart gerade eine kleine Atempause eingelegt hat.
Wie kommt es also zu der verzerrten Wahrnehmung der Merkologen, die an ihrem performativen Widerspruch kleben, dass eine meinungslose und untätige Kanzlerin „uns alle“ (Pardon, mich nicht!) zu willenlosen Geschöpfen ihrer perfiden Schlafmützen-Herrschaft macht?
Ganz einfach: Die Profi-Kritiker, Sterndeuter und Polit-Astrologen sind die wahren Spießer – selbstgerecht und wehleidig, stets Opfer ungnädiger Umstände, dabei besserwisserisch und daueraufgeregt, zugleich aber auch ein bisschen träge, überdrüssig und gelangweilt. Wie der Großteil des Landes leben sie in einem historisch einzigartigen Wohlstand und in einer Freiheit, die ihnen schon gar nicht mehr bewusst ist. Deshalb schätzen sie sie gering. Viel mehr warten sie auf jene aufregenden Zeiten, zu denen sie selbst, Zaungäste des Geschehens, eher wenig beitragen würden.
Deshalb auch der stets wiederkehrende, fast schon unterwürfige Appell an die regierende Fürstin, doch bitte endlich einmal Farbe zu bekennen, Tacheles zu reden und Visionen zu formulieren. Die tagtägliche Dosis an Skandalisierung und Dramatisierung reicht den verzweifelten Merkel-Verstehern einfach nicht. Selbst die Euro-Krise, die längst zu einer Bedrohung der gesamten Europäischen Union geworden ist, gibt ihnen nach beinah fünf Jahren Dauerbeschäftigung nicht mehr genug Erregungsstoff.
Dazu kommen die Schwäche der parlamentarischen Opposition und jene strukturelle Konvergenz der Parteien, die im postideologischen Zeitalter die Trennschärfe der einstigen politischen Grabenkämpfe verwischt hat.
Kurz: Man müsste eigentlich selber mal wieder ordentlich Rabatz machen, wenn einem der Gang der Dinge derart aufs Gemüt schlägt. An diesem Punkt aber wird klar: Die auf Angela Merkel projizierte Unentschiedenheit und Untätigkeit ist in Wahrheit die eigene.
Merkologen sind eben auch nur Astrologen. Was sie deuten, liegt in ihnen selbst.
Reinhard Mohr (*1955) war selbst einige Zeit beim Spiegel und lebt nun als Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken“ (2013, Gütersloher Verlagshaus).
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