- Doch kein abgeschotteter „Dreierbund“?
Der Polizist Martin Arnold ist der einzige Überlebende der NSU-Mordserie. Er will am Donnerstag als Zeuge im Münchener Prozess aussagen. Er könnte weitere Indizien dafür liefern, ob die rechte Zelle nicht doch eine größere Terrororganisation war als bislang angenommen. Die Bundesanwaltschaft verweigert sich dieser Annahme bislang
Der 25. April 2007 ist ein warmer Frühlingstag in Heilbronn. Das Thermometer zeigt 25 Grad. Kurz nach 13.30 Uhr, nach dem Ende ihrer Dienstbesprechung, verlassen die Polizeibeamten Michèle Kiesewetter und Martin Arnold das Revier in Heilbronn. Sie begeben sich auf Streifenfahrt durch die baden-württembergische Kreisstadt.
Kurz vor 14 Uhr. Sie erreichen die Theresienwiese, eine Freifläche nahe der Innenstadt, die oft für Volksfeste genutzt wird. An diesem Tag bauen Schausteller am südlichen Rand des Festgeländes Buden für das Heilbronner Frühlingsfest auf, das am Wochenende beginnen soll.
Kiesewetter fährt den Wagen. Sie steuert das Fahrzeug ans andere Ende der Theresienwiese, in den Schatten eines Transformatorenhauses am Neckarkanal. Der Platz ist unter Streifenpolizisten ein beliebter Pausenort. Kiesewetter parkt den Wagen rückwärts ein. Beide Beamten öffnen ihre Autotüren, stecken sich eine Zigarette an.
Sie hören Schritte. Von hinten, auf der Beifahrerseite. Kiesewetter und Arnold drehen sich in Richtung der Person um. Plötzlich peitschen zwei Schüsse, die die beiden Beamten in den Kopf treffen. Kiesewetter stirbt kurz darauf an den Verletzungen. Arnold überlebt knapp.
Damit ist der heute 31-jährige Polizeibeamte Martin Arnold der einzige Überlebende eines Mordanschlags des rechten Terrorkommandos „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). An diesem Donnerstag wird er als Zeuge im Münchner NSU-Prozess auftreten.
Welchen Wert seine Aussage für das Gericht haben kann, wird sich zeigen. Der Beamte kann sich aufgrund seiner schweren Verletzungen nur noch bruchstückhaft an die Ereignisse jenes Apriltages erinnern. Ein nervenärztliches Gutachten vom Sommer 2011 stellt fest, dass aufgrund der Folgen seiner Hirnverletzung Arnolds „Aussagen zum unmittelbaren Kerngeschehen aus sachverständiger Sicht … nicht verwertbar“ seien.
Überlebender mehrmals in Hypnose versetzt
Arnold wurde nach der Tat mehrmals und über die Jahre hinweg immer wieder von den Ermittlern vernommen, dabei auch unter sogenannte forensische Hypnose gesetzt. Unter Hypnose lieferte er eine Täterbeschreibung; später erarbeitete er auch ein Phantombild der Person, die auf ihn geschossen hatte. Sowohl Beschreibung als auch Phantombild entsprechen jedoch nicht dem Äußeren der beiden mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, denen die Bundesanwaltschaft die Tat zur Last legt. Erinnert sich Arnold falsch? Oder haben die beiden Neonazis tatsächlich nicht geschossen?
Nach der Tat begeben sie sich – vermutlich auf Fahrrädern – zu ihrem in der weiteren Umgebung des Tatorts abgestellten Wohnmobil. Mit dem Fahrzeug, das sie Tage zuvor in Chemnitz angemietet hatten, fahren sie in südlicher Richtung aus der Stadt heraus. Zwischen 14.30 und 14.37 Uhr passieren sie eine polizeiliche Kontrollstelle im 21 Kilometer entfernten Oberstenfeld, wo das Kennzeichen des Fahrzeugs registriert wird. Eine nachträgliche Fahrwegüberprüfung der Ermittler ergibt, dass man mit einem Auto von der Theresienwiese bis zu der Kontrollstelle mindestens 24, höchstens 31 Minuten benötigt – das heißt, die beiden müssen unmittelbar nach der Tat losgefahren sein.
Es gibt eine Reihe schwerwiegender Indizien, die eine Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt nahelegen. Andererseits gibt es aber auch Widersprüche und Hinweise, die darauf hindeuten, dass die beiden nicht allein gehandelt haben könnten – und vielleicht nicht einmal die Todesschützen waren.
Für die Bundesanwaltschaft stellt sich der Ablauf des Anschlags vom 25. April 2007 so dar: Mundlos und Böhnhardt haben das Polizeifahrzeug entdeckt und sich spontan zur Ermordung der beiden Beamten entschlossen. Sie schleichen sich von hinten an das Fahrzeug an, schießen auf die von ihnen zufällig ausgewählten Opfer und rauben ihnen Waffen und Ausrüstungsgegenstände.
Gleich mehrere schwerwiegende Beweise für eine Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt führt die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift gegen Beate Zschäpe und die mutmaßlichen NSU-Helfer an. So seien sowohl die beiden Tatwaffen von Heilbronn als auch die meisten der den Opfern geraubten Ausrüstungsgegenstände im Brandschutt der Zwickauer Wohnung des Trios in der Frühlingsstraße gefunden worden. In dem am 4. November 2011 ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach, in dem die Leichen von Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, konnten zudem die beiden Dienstwaffen der Polizeibeamten sichergestellt werden.
Darüber hinaus stießen die Ermittler in einem Schrank in der Frühlingsstraße noch auf eine graue Trainingshose des Herstellers Identic, an der sich Blutspuren von Michèle Kiesewetter fanden. Ein geradezu unglaublicher Glücksfund, denn in einer Tasche der Jogginghose steckte sogar noch ein benutztes Papiertaschentuch, dessen DNA Mundlos zugeordnet werden konnte. Schließlich taucht der Polizistenmord auch in dem Bekennervideo des NSU auf; das entsprechende Bildmaterial ist auf einem Rechner unter dem Dateinamen „aktion polizeipistole“ abgespeichert.
[gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland]
Das Motiv für die Tat sieht die Bundesanwaltschaft im Hass der NSU-Mitglieder auf den bundesdeutschen Staat und seine Vertreter. Die erbeuteten Waffen seien Trophäen, mit denen sie ihren Triumph über den Staat ausdrücken wollten. Auch die blutbefleckte Hose, die offenbar über vier Jahre hinweg nicht gewaschen wurde, ließe sich laut Anklage „nur mit der damit verbundenen, das Gefühl von Machtausübung vermittelnden Erinnerung an die Tat erklären“.
Mehrere Puzzlesteine passen nicht
Ein klarer Fall, so scheint es also. Aber auf den zweiten Blick tun sich eine Reihe von Indizien auf, die nicht in dieses Puzzle passen wollen.
Das beginnt mit dem angemieteten Wohnmobil in Chemnitz. Bei fünf der neun „Ceska-Morde“ an Migranten sowie den beiden Bombenanschlägen in Köln konnten die Ermittler korrespondierende Fahrzeuganmietungen von Mundlos und Böhnhardt feststellen. Diese Anmietungen erfolgten stets nur über einen Zeitraum von zwei bis vier Tagen um den jeweiligen Tattag herum. Anders im Fall Heilbronn: Ursprünglich war das Wohnmobil nur für drei Tage, vom 16. bis 19. April, gemietet. Böhnhardt aber verlängerte die Mietzeit telefonisch um eine Woche, bis zum 26. April. Wenn sie einen Mord geplant hatten – warum wurde die Tat verschoben? Warteten sie auf ein ganz bestimmtes Opfer?
Tatsache ist, dass Michèle Kiesewetter ab dem 16. April keinen Dienst hatte und am 19. April sogar für einen Kurzurlaub zu ihren Eltern ins thüringische Oberweißbach fuhr, von dem sie erst am 21. April zurückkehrte. Von Thüringen aus hatte sie sich jedoch in einem Telefongespräch mit der Dienststelle bereit erklärt, für einen erkrankten Kollegen einen Einsatz in der Nacht zum 25. April zu übernehmen. Erst unmittelbar davor tauschte sie die Nachtschicht und übernahm den Tagesdienst am 25. April zusammen mit ihrem Kollegen Arnold. An diesem Tag wurde sie getötet.
Diese zeitliche Kongruenz zum Aufenthalt von Mundlos und Böhnhardt in der Region Heilbronn fällt auf. Sie könnte darauf hinweisen, dass es einen Zusammenhang gab zwischen der Einsatzplanung von Kiesewetter und der Verlängerung der Mietzeit für das Wohnmobil. Das wiederum aber würde bedeuten, dass die Polizistin aus Thüringen doch kein zufällig ausgewähltes Opfer war. Eine Beziehungstat? Davon hatte Ende 2011 erstmals BKA-Chef Jörg Ziercke gesprochen, der sich später aber revidieren musste. Die Ermittler hatten keine Beweise dafür finden können, dass die junge Beamtin gezielt als Opfer ausgewählt wurde.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch eine Aussage von Kiesewetters Onkel Mike W. acht Tage nach der Tat. In einer Vernehmung am 3. Mai 2007 sagt W., der selbst Kriminalbeamter in Thüringen ist, auf die Frage nach den möglichen Hintergründen des Polizistenmordes: „Meiner Meinung nach besteht … ein Zusammenhang mit den bundesweiten Türkenmorden. So viel ich weiß, soll auch ein Fahrradfahrer bei den Türkenmorden eine Rolle spielen.“ Darüber habe er mit einem Kollegen gesprochen.
Wie kam W. im Mai 2007 auf diese – wie sich später zeigen sollte: zutreffende – Vermutung? Und woher wusste er von dem Zeugenhinweis auf einen Fahrradfahrer? Die Ermittlungen erbrachten keine Antwort darauf.
Noch etwas ist rätselhaft: Die Täter von Heilbronn hatten in großer Eile die Waffen und Ausrüstungsgegenstände der Opfer an sich gebracht. Dabei wandte die Person, die sich an dem schwerverletzten Arnold zu schaffen machte, besondere Gewalt an. Da es dem Täter nicht gelang, den Sicherungshebel des Holsters zu lösen, in dem die Waffe steckte, riss er ihn unter großer Kraftanstrengung ab. Der Kraftaufwand hierfür – das rechnet die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift vor – entsprach in etwa dem, den man zum Heben eines 50-Kilogramm-Gewichts benötigt. Es ist unwahrscheinlich, dass der Täter dabei keine DNA-Spuren an seinem Opfer hinterließ. Tatsächlich fanden sich fremde Hautschuppen auf der Bekleidung des Beamten. Bis heute konnte diese DNA allerdings keiner Person zugeordnet werden – auch nicht Mundlos und Böhnhardt.
Fehlanzeige bei den Zeugenaussagen
Auch an einer der beiden Tatwaffen, die in der Frühlingsstraße sichergestellt werden konnte, fand sich die DNA einer bis heute nicht identifizierten Person. An der anderen Waffe sowie den gefundenen Ausrüstungsgegenständen hingegen konnten keine DNA-Spuren festgestellt werden.
Fehlanzeige auch bei den Zeugenaussagen. Zwar hatten einige Zeugen Beobachtungen vor und nach der Tat im Bereich der Theresienwiese gemacht, die mit der Tat in Verbindung gebracht werden könnten. Keiner dieser Personen erkannte jedoch Mundlos und Böhnhardt auf Fotos wieder. Auch die Aussage eines Zeugen, der einen blutbefleckten Mann beim Reinigen seiner Hände im Neckar gesehen haben will, kann sich nicht auf die beiden Neonazis beziehen – sie müssen, wenn sie zur Tatzeit an der Theresienwiese gewesen sind, unmittelbar nach dem Mord mit dem Wohnmobil weggefahren sein. Sonst hätte man ihr Fahrzeug nicht eine halbe Stunde später an dem Kontrollpunkt bei Oberstenfeld feststellen können.
Fazit: Unstrittig ist, dass sich die Tatwaffen und die Ausrüstungsgegenstände der überfallenen Heilbronner Polizisten beim NSU-Trio fanden. Wenn Mundlos und Böhnhardt nicht direkt an der Tat beteiligt waren, müssen sie doch einen unmittelbaren Kontakt zu den Mördern gehabt haben. Das aber würde bedeuten, dass der NSU eben doch eine größere Terrororganisation war und noch ist. Dafür sprechen auch eine ganze Reihe weiterer Indizien, die sich im Zuge der Ermittlungen ergeben haben. Das aber lässt die in ihrer Anklageschrift festgeschriebene These der Bundesanwaltschaft, wonach es sich beim NSU um einen nach außen abgeschotteten „Dreierbund“ handelt, immer fragwürdiger erscheinen.
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