- Und täglich zürnt das Murmeltier
Pferdefleischskandal, NSA, Lampedusa... Es ist ein altes Spiel: Auf Skandal folgt Empörung. Die immer wiederkehrenden Wellen der Entrüstung treiben die Aufgebrachten zu mental-moralischer Erschöpfung. Der Ausweg ist Empörung über die Empörung
Ich bin stinksauer. Nein, nicht wie alle anderen, die sich jetzt über „Handygate“, NSA und die jahrelange Ausspähung der Kanzlerin durch amerikanische Geheimdienste aufregen – von Volker Kauder über Innenminister Hans-Peter Friedrich bis zu Fidel-Castro-Fan Ulla Jelpke und Christian Ströbele, dem Johannes Heesters der Kreuzberger Linken. Bei mir liegt der Fall komplizierter.
Irgendwann fehlt die Kraft zum ständigen inneren Aufstand
Ich bin empört, dass ich empört sein muss! Wieder mal. Empörung 2.0 sozusagen. Von mir aus auch Empörung hoch zwei. Oder, in den unvergänglichen Worten von Angela Merkel und Steffen Seibert: Forced to be enraged, gezwungen, empört zu sein – das geht gar nicht!
In meinem Alter hat man schon derart viele Empörungswellen und Proteststürme (wer erinnert sich zum Beispiel noch an den brutalen Bombenanschlag des französischen Geheimdienstes auf das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“ 1985??) hinter sich, dass zuweilen eine gewisse mental-moralische Erschöpfung eintritt. Irgendwann fehlt die Kraft zum ständigen inneren Aufstand. Dies umso mehr, als die gegenwärtigen Empörungschöre klingen, als würde sie der gute alte Gotthilf Fischer aus Plochingen dirigieren: Ein polyphoner Einheitssound, der beim Publikum allzu rasch in Überdruss und Abstumpfung münden kann.
So findet mitten im Goldenen Oktober eine Schwarze Messe statt, deren Hohepriester, allen voran das Vorzeige-Paar des digitalen Schreckens, Anke und Daniel Domscheit-Berg, nun die Talkshows fluten, assistiert von zahlreichen anderen „Netz“-Experten, die die „Totalüberwachung“ all unserer Lebensäußerungen in den dunkelsten Farben malen. Orwell, Stasi & Co.
Steilvorlagen für Antiamerikanisten
Danke dafür, Barack Obama! Du Hoffnung unserer späten Jahre! Danke, dass nun jeder auch nur mittelmäßig begabte Leitartikel-Knecht sein altes Feindbild Amerika bestätigt sehen kann, während man in China und Russland seelenruhig seinen Geschäften nachgeht! Oder glaubt irgendjemand, dass in den Berliner Botschaften dieser beiden Musterdemokratien nur Kochrezepte („Ente süßsauer, Neuköllner Art“, „Boeuf Stroganoff à la Wowi“) ausgetauscht werden?
Aber es hilft nichts. Dass die vor wenigen Jahren neu errichtete US-Botschaft am Pariser Platz offenbar eine Spionagezentrale zur Auskundschaftung der politischen Klasse der Bundesrepublik ist, lässt sich mit keinem rhetorischen Trick und keiner transatlantischen Freundschaftsbeschwörung beschönigen. Selbst für jene, die den ideologisch drapierten Antiamerikanismus der siebziger Jahre („USA-SA-SS“), der sich als „Anti-Imperialismus“ inszenierte, längst hinter sich gelassen haben, bleibt hier kein Spielraum für Nachsicht und Wohlwollen.
Architektonische Semantik: Bedrohung
Dabei hatte man sich doch sogar schon mit dieser unförmigen und abweisenden Trutzburg zwischen Holocaust-Mahnmal und Brandenburger Tor abgefunden, einem architektonischen Ungetüm, für das sogar der Straßenverlauf in der Umgebung verändert werden musste. Jedes Mal, wenn ich mit dem Rad vorbeifuhr, dachte ich: Okay, nach 9/11 geht Sicherheit vor, aber eine Botschaft hat eben auch eine Botschaft, und diese hier lautet: Wagt euch bloß nicht, uns zu nähern! Hinter jedem der unzähligen Fensterchen lauert ein Maschinengewehr! Herrschaftsfreie demokratische Kommunikation im Sinne der Habermas’schen Diskurstheorie scheint da nur schwer möglich, und freundschaftliche Gefühle haben es erst recht schwer.
Von Anfang an vermittelte die amerikanische Botschaft schon ästhetisch den Eindruck eines Brückenkopfes in unmittelbarer Nähe von Reichstag und Kanzleramt: Eher militärischer Gefechtsstand als ein Ort des zivilen politischen Meinungsaustauschs.
Dass es nun so aussieht, als hätte man von dort aus praktisch unter dem Schreibtisch Angela Merkels gesessen wie sonst nur der Spiegel, weckt selbst den letzten Alt-68er auf, der vor einem halben Jahrhundert gegen den Vietnamkrieg protestiert hatte. Apropos Spiegel, dessen Berliner Büro schräg gegenüber der US-Botschaft liegt: Der hätte nun theoretisch ein digitales Archiv aller abgehörten Redaktionsgespräche zur Verfügung, ein wunderbares Instrument zur Qualitätskontrolle der Desktop-Recherche seiner Redakteure. Womöglich der Neubeginn einer wunderbaren deutsch-amerikanischen Freundschaft.
Nietzsche und die Empörung
Doch werden wir nicht zynisch. Hier geht es um ernste Dinge, nicht zuletzt um das, was Friedrich Nietzsche die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ genannt hat. Denn schon einmal in meinem Leben wurde ich gezwungen, empört zu sein. Es war Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, als in Vietnam der Napalm-Krieg der U.S. Army tobte. Mein Vater verteidigte ihn trotz aller grauenhaften Details, denn hier schien es um eine große Sache – die Abwehr des Weltkommunismus – zu gehen.
Ich war fünfzehn und glaubte ihm. Doch als ich die Argumente meines Vaters ganz brav auf dem Schulhof meines Gymnasiums vortrug, erntete ich nur wildes Kopfschütteln und ein Bombardement von Fakten, gegen die nicht anzureden war. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich aufgab und meine Meinung änderte, besser: mir erstmals eine eigene Meinung bildete.
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Die Wirklichkeit als Lehrmeister. Tatsachen als zwingender Ausgangspunkt einer Rebellion. So prägte die Empörung, theoretisch unterfüttert und in der Praxis erprobt, ein Jahrzehnt lang mein politisches Engagement. Danach, in den Achtzigern: Desillusionierung, neue Tatsachen, neue Sichtweisen, Abschied von der politischen Kultur der stets abrufbereiten moralischen Empörung.
Und jetzt das. Wieder wird man gezwungen, neue Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Doch stärker als Empörung und Verdruss über sie ist der Ärger, sich wieder, wie einst im Mai, empören zu müssen und dabei auch in Gesellschaft von Leuten zu geraten, mit denen man absolut nichts zu tun haben will. Auch dafür Dank an den Friedensnobelpreisträger im Weißen Haus!
Meine ganz persönliche Reaktion auf all das war eine Mischung aus Ersatz- und Übersprungshandlung: Ende letzter Woche ließ ich mein iPhone auf der Rückbank eines Taxis liegen.
Die Botschaft war klar: Kein Schwein hört mich mehr ab!
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