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Die grüne Unschuld?
Ob Linke, Konservative oder Liberale, sie alle haben ihre Leichen im Keller der Geschichte. Nur die Grünen besitzen im Wettbewerb um die Gunst der Öffentlichkeit einen Vorteil: die historische Unschuld. Eine vermeintliche Unschuld, behauptet Michael Miersch.
Es gibt keine Unschuld im politischen Raum. Alle Parteien müssen sich immer wieder für das rechtfertigen, was im Laufe der Geschichte in ihrem Namen an Verfehlungen oder gar Verbrechen begangen wurde. Wer sich heute noch öffentlich Kommunist nennt, kriegt die Mauer, den Gulag und die Genickschüsse in der Lubjanka vorgehalten. Es nützt ihm wenig, wenn er sich auf die reine Lehre von Karl Marx beruft. Er kann sich nicht an Stalin und Mao vorbeimogeln. Aber nicht nur die Linken stehen unter Rechfertigungsdruck. Meldet sich ein Katholik zu Wort, muss er damit rechnen, dass ihn jemand an Inquisition und Hexenverfolgung erinnert. Liberale werden von den Geistern rachitischer Arbeiterkinder des 19. Jahrhunderts verfolgt. Deutsche Konservative leiden bis heute an der Schande, Hitler zur Macht verholfen zu haben. Und Sozialdemokraten schütten immer noch Asche auf ihr Haupt, weil SPD-Abgeordnete einst für Kaiser Wilhelms Kriegskredite stimmten. Jede Richtung hat ihre Leichen im Keller.
Und alle Keller werden hin und wieder mit den großen Bühnenscheinwerfern der Mediengesellschaft ausgeleuchtet. Alle, bis auf einen. Die Grünen haben es geschafft, im Status der Reinheit zu verbleiben. Durch ihre vermeintliche Unschuld besitzen die Grünen im Wettbewerb um die Gunst der Öffentlichkeit einen erheblichen Vorteil.
Grüne Positionen gelten fast automatisch als ethisch hochwertig und damit als etwas Besseres als die Argumente der politischen Konkurrenz. Ethikdebatten funktionieren wie Autorennen. Es kommt sehr stark darauf an, wer die bessere Startposition erwischt. Der entscheidende Vorsprung entsteht durch die Definition dessen, was im weiteren Diskurs als ethisch und moralisch zu gelten hat. Wem es gelingt, die als ethisch etikettierte Position zu definieren, wird mit der angenehmen Rolle des Anklägers belohnt. Die anderen müssen sich rechtfertigen. Diese Rollenverteilung durchzieht alle seit Jahren mit wechselnder Intensität geführten Fortschrittsdebatten. Wer für Pflanzengentechnik spricht, steht im Verdacht, nur die Profite der Saatgutindustrie mehren zu wollen. Wer dagegen ist, den treibt die ethisch eine paar Stockwerke höher angesiedelte Sorge um die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Dass es manchen Gentechnik-Befürworter vielleicht ebenfalls um Umweltschutz und bessere Ernährung geht, wird konsequent ausgeblendet. Die gleichen Reflexe beherrschen die Klimafrage, die Atomenergie und fast alle großen unentschiedenen Fragen rund um Wissenschaft und Forschung.
Die Grünen sind die edlen Ritter, die die Menschheit vor Risiken des Fortschritts bewahren. Die Risiken der Fortschrittsverweigerung sind dagegen eher selten ein Thema. Es gibt mittlerweile zahlreiche Opfer grüner Verhinderungspolitik, doch die werden kaum beachtet. Durch ihre Rolle der politischen Unschuld vom Lande gelingt es den Grünen, höchst erfolgreich ein Lebensgefühl zu bewirtschaften. Sie sind die Stimme der Generation Angst, die in den späten siebziger Jahren herangewachsen ist und in den Achtzigern zur Massenbewegung wurde. Die Realitätswahrnehmung dieser Generation hat der damalige Chefredakteur des Stern Rolf Winter in einem an Helmut Kohl gerichteten Satz zusammengefasst: „Ist dem Bundeskanzler wirklich nicht klar, dass sein Vaterland in Gefahr ist, zu einer Pershing-geschützten Dioxinsteppe zu verkommen?“ Alles kam anders, nur das grüne Weltbild blieb wie es war.
Als Reflex auf die Luft- und Gewässerverschmutzung, die Chemiekatastrophen und Atomunfälle der sechziger, siebziger und achtziger Jahre waren Technikfeindlichkeit und der Fortschrittspessimismus der Grünen durchaus verständlich. Doch je reiner Luft und Wasser wurden, je sauberer die Industrie, je mehr Tierarten zurückkehrten, je mehr Giftstoffe aus dem Verkehr gezogen wurden, je sparsamer der Energieverbrauch wurde, je mehr Naturschutzgebiete es gab und je stärker die Waldfläche wuchs – desto heftiger verwandelte sich berechtigte Kritik in Ideologie. Der Umwelt ging es besser, doch die Untergangsszenarien wurden immer apokalyptischer. Um sicherzugehen, dass die Realität nicht wieder stört, retten die heutigen Grünen das Klima einer fernen Zukunft, die sie selbst nicht mehr erleben werden. Angst zu machen ist ihr Geschäft.
Heute kämpfen sie gegen Pflanzengentechnik und immer noch gegen den Erzfeind Atomkraft. In der Zwischenzeit auch gegen Straßenausbau, Kohlekraftwerke, Computer, PET-Flaschen, Mobiltelefone, den Transrapid, Stammzellenforschung, Flughäfen, PVC-Fensterrahmen, medizinische Gentechnik, ICE-Trassen und eigentlich jeden technischen Fortschritt außer Windrädern und Solaranlagen. Grünes Denken skandalisiert erfolgreich die Risiken neuer Technologien. Die Kosten ihrer Nichtanwendung sind kein Thema. Wenn etwa Tierversuchsgegner die Entwicklung eines Krebsmedikamentes um nur ein Jahr verzögern, müssen dafür Menschen sterben, die sonst hätten weiterleben können. Längst ist vergessen, dass Joschka Fischer in den achtziger Jahren als hessischer Umweltminister die Produktion eines besser verträglichen Insulins für Diabetiker jahrelang verhinderte, weil es gentechnisch hergestellt wurde. Erst 1999 ging die erste Anlage in Deutschland in Betrieb.
Ein anderes Beispiel für Menschenfeindlichkeit im Gewand sanfter Ökoträume ist die wachsende Zahl der Maserntoten. 2007 starben weltweit 197000 Menschen an der Virusinfektion. Während die Opferzahl in den Entwicklungsländern sinkt, nimmt sie in einigen Industrieländern wieder zu. Die Veranstalter der Ersten Nationalen Impfkonferenz, die dieses Jahr in Mainz stattfand, kritisierten „schleichende Impfmüdigkeit“. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bemängelt den sinkenden Impfschutz. In Deutschland und der Schweiz wird das Impfen von besonders vielen Eltern abgelehnt. Vordergründig betrachtet können die Grünen nichts dafür, denn die führenden Köpfe der Partei gehören nicht zu den Impfgegnern. Doch an der Basis überschneiden sich die Milieus. Die von Anthroposophen geführte Bewegung gedeiht in den gleichen bürgerlichen Wohnvierteln, im gleichen geistigen Biotop, dessen ideeller Nährboden aus Technikfeindlichkeit, Aberglauben, Zukunftspessimismus und Naturromantik besteht. Eine Mischung, die der holländische Umwelthistoriker Wybren Verstegen „Green Thinking“ (Grünes Denken) nennt. Renate Künast und Bärbel Höhn propagieren die esoterischen Bauernregeln des Rudolf Steiner. Da liegt es ziemlich nahe, auch den medizinischen Teil der Steiner’schen Anthroposophie zu glauben.
Für Renate Künast ist der Kampf gegen grüne Gentechnik „eine Machtfrage“. Sie behauptet – und es wird ihr von vielen geglaubt –, gentechnisch verbesserter Mais habe keinen Vorteil. Die Pflanzen sind jedoch unter anderem deutlich weniger mit Schimmelpilzgiften belastet. Das könnte man durchaus einen Vorteil nennen. Denn in Ländern, in denen Mais Grundnahrungsmittel ist, werden durch diese Gifte Kinder mit offenem Rücken geboren. Anders als die Bewegungen gegen Impfen oder Tierversuche gehörte der Kampf gegen Pflanzengentechnik nicht zum extremistischen Rand des grünen Denkens, sondern zum Kernbestand. Dass die Regierung Sambias im Jahr 2002 keine amerikanischen Maishilfslieferungen an ihre hungernde Bevölkerung verteilte, weil US-Mais gentechnisch verändert ist, wurde aus der Mitte der grünen Bewegung ermuntert und unterstützt.
Fortschritt hat einen Preis, heißt es. Doch der Preis für die Verhinderung des Fortschritts ist meistens wesentlich höher. Am besten haben Gesundheits- und Entwicklungsfachleute dies am Beispiel des DDT dokumentiert, eines Pestizids, das auf Druck europäischer und nordamerikanischer Gründenker in Entwicklungsländern nicht mehr eingesetzt wurde, um die Malaria übertragenden Mücken zu bekämpfen. Durch den Einsatz von DDT sank die Zahl der Malariatoten in vielen Ländern von einigen Tausend auf einige Dutzend. Dann wurde es verbannt. Heute sterben wieder mehr als 1,5 Millionen Menschen pro Jahr an der Tropenkrankheit. Wer zählt eigentlich die Öko-Toten?
Einige Strömungen innerhalb der grünen Bewegung argumentieren sogar bewusst und offen antihuman. Zum Beispiel Vertreter der sogenannten Tiefenökologie („Deep Ecology“), eine philosophische Strömung, die auf den im Januar verstorbenen norwegischen Philosophen Arne Naess zurückgeht. Tiefenökologen fordern eine drastische Verminderung der Weltbevölkerung, die durch strenge Gesetze zur Empfängnisverhütung erreicht werden soll. Manche bekennen, dass sie für Aids und andere Seuchen Sympathie empfinden, weil sie die Zahl der Menschen verringern helfen. Nicht nur bei Tiefenökologen, sondern auch im Hauptstrom des grünen Denkens wird die Spezies Mensch als Krankheit des Planeten betrachtet. „Offen gesagt, wir könnten zu dem Punkt gelangen, an dem der einzige Weg, die Erde zu retten, der Kollaps der industriellen Zivilisation wäre“, erklärte Maurice Strong, erster Chef des UN-Umweltprogramms UNEP und Organisator der Rio-Konferenz.
Grünes Denken ist vielfältig, oft widersprüchlich und zerfranst an den Rändern. Diese politische Unschärfe führt unter anderem dazu, dass das grüne Establishment es selten für notwendig hält, sich klar von Tiefenökologen, Tierrechtlern, Impfgegnern und anderen Extremisten zu distanzieren. Man hält sie sich gewogen, weil sie einen nicht unerheblichen Teil der Wählerschaft repräsentieren und im Mittelbau der Partei reichlich vertreten sind. Die humanitäre Katastrophe des DDT-Verbots wird von den Grünen bis heute nicht zur Kenntnis genommen. Cem Özdemir spricht derzeit auffallend oft von der „Bewahrung der Schöpfung“. Man sollte ihn mal fragen, ob Malariakranke, Hungernde oder Diabetiker eigentlich auch zur Schöpfung gehören.
Foto: Picture Alliance
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