- „Die Debatte wird auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen“
Vom Theatertreffen in Berlin bleibt besonders die Eröffnungsvorstellung von Nicolas Stemanns „Die Schutzbefohlenen“ in Erinnerung. Diese verließ der künstlerische Leiter des Ballhaus Naunynstraße frühzeitig, weil er die Inszenierung aufgrund des praktizierten Blackfacing als rassistisch empfand. Der Regisseur äußert sich in Cicero zum ersten Mal zu den Vorwürfen
Cicero: Können Sie die Kritik von Wagner Carvalho am Blackfacing in Ihrer Inszenierung nachvollziehen?
Stemann: Es gibt hier ein fundamentales Missverständnis. Denn: wir „machen“ nicht Blackfacing, wir zeigen es. Das mag wie ein lässlicher Unterschied wirken, ist aber doch wesentlich, vergleichbar dem Unterschied zwischen einem realen Mord und einem, der auf einer Bühne nur gespielt wird. Der Schauspieler, der sich in meiner Inszenierung das Gesicht anmalt, spielt keinen schwarzen Menschen, sondern einen weißen, der sich das Gesicht anmalt. Wir führen damit das Blackfacing vor. Beim Blackfacing wird ein Schwarzer der Lächerlichkeit preisgegeben – bei uns wird das Blackfacing der Lächerlichkeit preisgegeben – was eigentlich im Sinne Herrn Carvalhos sein sollte. Der kurze Moment der Irritation („meinen die das etwa ernst?“) ist gewollt, wird aber sofort aufgelöst. Natürlich kenne ich die Debatte, die seit ein paar Jahren um Blackfacing und unsichtbaren und strukturellen Rassismus im Theater geführt wird und ich begrüße sie. Es ging genau darum, diese Debatte in die Inszenierung einzulagern.
Das, was Carvalho in seinem Statement kritisiert, hat in dieser Inszenierung nicht stattgefunden. Das hätte er vielleicht auch gemerkt, wenn er nicht sofort den Saal verlassen hätte. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, einen Film über die Shoah nur deshalb als rassistisch zu empfinden, weil darin ein Hakenkreuz gezeigt wird. Wir haben dieses Stück schon an vielen verschiedenen Orten gespielt und hatten mit dieser Szene nie irgendwelche Probleme – ob in Amsterdam, Mannheim oder Hamburg. Dort stand das Leid Flüchtlinge im Mittelpunkt der Debatten, nicht das Beharren auf einem Regelkanon.
Warum sind einige Schauspieler in dem Stück derart angemalt?
In der ersten Hälfte des Stücks zeigen wir, wie ein eigentlich wohlmeinendes Theaterensemble sich zunehmend in den eigenen Widersprüchen verhakt. Später treten dann die Flüchtlinge auf, gewissermaßen als Rettung. Dabei ging es mir nicht darum, eine theaterinterne Debatte zu reflektieren, sondern darum, die grundsätzliche Verkrampfung und Heuchelei einer sich offen gerierenden Gesellschaft abzubilden, die verborgenen Rassismen auszuloten – übrigens auch die der Political Correctness (indem z.B. ein schwarzer Schauspieler permanent auf Englisch angesprochen wird, obwohl er Deutscher ist). Genau das, worum es etwa in der Debatte um „Critical Whiteness“ geht. Das mache ich mit meinen Theatermitteln, wozu auch Ironie und Uneigentlichkeit gehören, Überlagerung verschiedener Diskurse, auch Unschärfe. Anders als in einem Leitartikel oder einem theaterwissenschaftlichen Text geht es hier ja um Kunst – das ist einfach ein anderes Zeichensystem, in dem die Dinge bewusst auch in eine gewisse Gefährdung getrieben werden. So blenden wir bestimmte Bilder ein, die für sich gesehen durchaus rassistisch sind – aber doch nicht, um das gutzuheißen! Sondern um uns und die Zuschauer aus der Komfortzone der sicheren Gewissheiten rauszuführen.
Weiß-Sein ist in unserer Gesellschaft weiterhin die Norm. Ist es nicht wichtig, das im Theater zu verhandeln?
Natürlich. Es wird in der Inszenierung aber an keiner Stelle ein schwarzer Mensch karikiert – dabei ständig irgendwelche verkrampft um ihr eigenes Gut-Sein bemühte Weiße. In Berlin gibt es eine Gruppe von Menschen, die seit ein paar Jahren einen durchaus begrüßenswerten Kampf gegen Rassismus im Theater führen. Das Blackfacing ist in diesem Kampf zu einem Symbol geworden – und hat sich gewissermaßen verselbstständigt: Wo sich jemand das Gesicht anmalt, muss dagegen angekämpft werden, egal, wie das kontextualisiert ist. Bis zu einem bestimmten Punkt kann ich das verstehen und ich stelle mich auch gern der Diskussion. Was ich bei allem Verständnis allerdings bedenklich finde, ist, dass die Debatte, die sich in diesem Fall auf eine einzige Minute eines zweistündigen Abends bezieht, das eigentliche Thema, das an diesem Abend verhandelt wird, völlig verdrängt: nämlich das Leid und den Kampf der Flüchtlinge, ihre prekäre Situation, dass ihnen die grundlegenden Rechte verweigert werden. Stattdessen führt man, als durchaus etablierter Theaterleiter, lieber eine theaterinterne Diskussion. Diese Debatte wird letztlich auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen.
Ihnen wurde von Seiten der AfD vorgeworfen, sich über Gesetze erheben zu wollen und „zu links“ zu sein. Nun verlässt sie mit dem Ballhaus Naunynstraße die (post-)migrantische Community. Wie erleben Sie das?
Ganz ohne AfD und Blackfacing-Aktivisten ist man natürlich irgendwann ganz schön einsam. Aber Spaß beiseite: Natürlich schmerzt es, wenn mir nach den Angriffen von Rechtsaußen jetzt Rassismus vorgeworfen wird, vor allem, wenn es so schablonenartig und ohne weitere Auseinandersetzung passiert. Aber man muss die Kirche auch mal im Dorf lassen: Mit Herrn Carvalho hat genau ein Mensch den Saal verlassen – das ist vergleichsweise wenig für eine Theatertreffeninszenierung. Auch ist die „(post-)migrantische Community“, wenn es so was gibt, kein einheitlicher Block, der uns jetzt verdammt. Wir haben viel Zuspruch bekommen, gerade auch in der Debatte um das vermeintliche Blackfacing. Einige Schauspieler, die bei den „Schutzbefohlenen” dabei sind, haben viel in der Naunynstraße gespielt. Ich werde da wohl auch mal wieder hingehen, wenn was Interessantes läuft, und ansonsten weiter in diesem Feld und mit dieser Thematik arbeiten (etwa mit dem Projekt „Labyrinth”, das mit der Amsterdamer Flüchtlingsgruppe „We are here” entstanden ist). Die Inszenierung wird kontrovers diskutiert, das ist ja erst mal in Ordnung. Ich hoffe nur, dass sich die Diskussion bald wieder aufs Wesentliche verlagert.
Wo verläuft für Sie die Grenze der politischen Korrektheit im Theater?
Grundsätzlich begrüße ich die Forderungen und Errungenschaften von politischer Korrektheit. Ich möchte nicht, dass meiner Tochter Kinderbücher vorgelesen werden, in denen das N-Wort vorkommt. Das ist diskriminierend, hässlich, beleidigend. Man kann es einfach ersetzen, dann heißt es bei Pippi Langstrumpf etwa „Südseekönig”, das tut niemandem weh, ist viel schöner und entspricht überdies der Intention des Textes. Wenn Leute damit ein Problem haben, muss man sich wirklich fragen, an welcher Welt und welchem Menschenbild die festhalten wollen. Ähnliches gilt fürs Theater: Warum soll man vorsätzlich Menschen beleidigen bzw. ausschließen, etwa indem man Witze macht, die sie als diskriminierend empfinden?
Andererseits wohnt PC-Debatten – wie im Falle des Berliner Gastspiels – die Gefahr inne, die eigentlichen Probleme nicht zu benennen, sondern zu überdecken. Nicht nur in den USA, dem Mutterland von PC, geht die kluge Strategie, über Problematisierung von Sprache auf bestimmte Missstände aufmerksam zu machen, gerne eine zweifelhafte Phalanx ein mit dem puritanischen Wunsch nach so etwas es wie geistiger Sauberkeit: „Scheiße” sagt man nicht, „explicit language“ ist des Teufels. Man doktert am Überbau rum während an der Basis im höflichen Schatten der „richtigen Begriffe” unverändert diskriminiert wird. Menschen schwarzer Hautfarbe werden erschossen, in Gefängnisse zusammengepfercht und hingerichtet – während man peinlich darauf achtet, sie höflich anzusprechen und das N-Wort zu vermeiden. Reale Diskriminierung, die sich in Sprache ablagert (oder, wie mit dem Blackfacing, in Bühnensprache), ist sicher darüber kenntlich zu machen, dass man diese Ablagerungen benennt und bekämpft. Sie ist aber noch längst nicht aus der Welt, nur weil sie in der Sprache eliminiert ist. Wenn keiner mehr das N-Wort oder im Theater Blackfacing verwendet, heißt das noch lange nicht, dass die dazugehörige Diskriminierung verschwunden ist. Vielleicht ist sie nur etwas höflicher ummantelt worden.
Das Theater soll also nicht dieselben Fehler machen wie die Politik?
Theater kann einfach viel mehr. Es sollte die Abgründe hinter der vermeintlichen Korrektheit ausloten. Anhänger einer Art Vulgär-PC, denen es ausschließlich um das Einhalten eines gewissen Regel-Kanons geht, verkennen leider oft diese Dialektik – wie sie das dialektische Wesen des Theater verkennen: Soll im Theater eigentlich die Welt gezeigt werden, wie sie idealerweise sein würde? Als paradiesischer Zustand, in dem alle Konflikte gelöst sind? Natürlich nicht! Bei Aristoteles sind es die schockierenden, abstoßenden Dinge, die zur Katharsis, der inneren Reinigung, führen. Ähnlich Brecht: Nicht die Lösung aller Probleme, sondern deren Ungelöstheit soll gezeigt werden. Das heißt: Nur, weil etwas hässlich oder falsch ist, kann man es nicht kategorisch aus dem Theater verbannen. Das ist zutiefst unkünstlerisch gedacht. Dann hat man eben den Bereich der Kunst verlassen und macht nur noch Politik. Das ist nicht verkehrt, man muss aber wissen, dass es ein völlig anderes Zeichensystem ist. Die Maßstäbe des einen kann man nicht einfach auf das andere übertragen – genau das passiert mit diesen Vorwürfen.
Ein anderer Kritikpunkt richtet sich auf das Repräsentationstheater, welches Sie durch den Flüchtlingschor auch bedienen. Werden diese Menschen dort nicht ausgestellt?
Ich wollte auf gar keinen Fall dieses Thema im Theater behandeln und dabei diejenigen, um die es geht, erneut ausschließen. Es geht den Menschen bei den neueren Flüchtlingsprotesten ja zunächst einmal um Sichtbarkeit, darum, sich zu zeigen und auf die Probleme hinzuweisen, die ja keine individuellen, sondern politische sind und deshalb auch eine politische Lösung brauchen: raus aus den Lagern, rein in die Innenstädte, die Kirchen, die Plätze. Ich wollte mit der Inszenierung einen Rahmen bieten, in dem Flüchtlingsaktivisten sich zeigen und auf ihre Anliegen aufmerksam machen können. Natürlich besteht die Gefahr, dass es ausgestellt wirkt – hätte ich es deswegen lassen sollen? Stattdessen thematisieren wir genau das: Die Flüchtlinge zeigen, wie sie in die Rolle des Flüchtlings gezwungen werden, und zwar nicht auf der Bühne, sondern im täglichen Leben. Andererseits agieren sie eigenständig und überzeugend, zeigen sich, machen auf ihre Situation und ihr Anliegen aufmerksam. Außerdem sprechen sie den Jelinek-Text großartig und stehlen damit den Schauspielern die Show. Das ist doch alles wunderbar und alles andere als ein Ausstellen.
Dennoch bleibt die Partizipation der Flüchtlinge am Theater bzw. der Gesellschaft auf eine recht kurze Zeit der Zusammenarbeit mit Ihnen beschränkt und sie bleiben auf dem Programmzettel auch namenlos.
Dass die Arbeit angeblich nicht nachhaltig genug ist, ist ein Totschlagargument und ich werde immer sehr skeptisch, wenn es fällt – weil es so sehr darauf zielt, dass man es dann besser gleich lassen sollte. Dabei stimmt es nicht: Aus der Zusammenarbeit mit den Amsterdamer Flüchtlingen ist bereits ein weiteres Projekt entstanden, in Hamburg wird das Stück hoffentlich noch lange gespielt. Auch ist die Erfahrung, die die einzelnen Leute auf der Bühne machen, nicht zu unterschätzen. Sie werden darin bestätigt, sich zu zeigen und für sich zu sprechen. Die kriegen ja jeden Abend einen Riesenapplaus. Die Gruppen brauchen immer wieder Sprecher – die Erfahrung auf der Bühne ist hier eine Art Ausbildung.
Dass sie nicht im Programmheft namentlich erwähnt werden, hatte damit zu tun, dass einige das zum Zeitpunkt der Premiere nicht wollten, weil sie aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis Konsequenzen für ihre Verfahren befürchteten. Das ist mittlerweile anders, weshalb sie z.B. bei der Preisübergabe in Berlin alle namentlich aufgerufen wurden und bei zukünftigen Vorstellungen ein Abendzettel nachgereicht wird.
Was mich allerdings wirklich fertig macht, ist die Tatsache, dass sich die Situation der Flüchtlinge trotz aller Kämpfe kaum verbessert. Die Amsterdamer Gruppe ist vor drei Wochen aus der Parkgarage geflogen, die sie besetzt hatten, die Menschen stehen jetzt wieder auf der Straße. Bei den Hamburger Lampedusa-Leuten sah es zwischendurch besser aus, aber auch hier bleibt jeder kleine Schritt ein riesiger Kampf und noch immer ist deren Status völlig unsicher und permanent von Abschiebung bedroht. Diese Umstände gehören in der Tat ausgestellt und genau das passiert, wenn die Flüchtlinge auf der Bühne davon berichten.
Sie werfen in „Die Schutzbefohlenen“ viele Fragen auf. Haben Sie persönlich auch konkrete politische Forderungen bezüglich des Umgangs mit Flüchtlingen?
Die EU-Politik der Abschottung ist gescheitert – das sieht man nicht zuletzt an den Toten an der Außengrenze. Flucht und Vertreibung sind eine Tatsache, die man nicht einfach ignorieren kann. Einwanderung ist grundsätzlich gut für eine alternde Gesellschaft. Außerdem sind in unserer Verfassung Menschenrechte postuliert, die angeblich unveräußerlich sind – jetzt sollen sie nur so lange gelten, wie die Anzahl der Menschen, die sie für sich in Anspruch nehmen, nicht zu groß wird? Man muss anfangen, die Menschen, die zu uns kommen, nicht als Problem zu begreifen, sondern als Chance. Es müssen legale Wege geschaffen werden, einzureisen und Aufenthalt zu beantragen – die gibt es nämlich im Moment gar nicht. Die bürokratischen Hürden, die teils absurd sind und massenweise Leid verursachen, müssen abgebaut, der Prozess vereinfacht werden. Generell läuft eine Lösung auf eine Veränderung unseres Wirtschaftssystems hinaus, das Ungerechtigkeit braucht und produziert – da will sich aber keiner mit beschäftigen. Also doktert man weiter lieber an den Symptomen rum und redet über Schlepperbanden. Dabei haben die Umstände, die Menschen zur Flucht zwingen, immer auch mit der globalen Wirtschaftsordnung und der sie flankierenden Politik zu tun. Hier müsste man ansetzen, um zu einer wirklichen Lösung beizutragen.
Das Interview wurde per Mail geführt.
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