Fremde. Leben in anderen Welten - "Ich bin ein Teil der deutschen Literatur, so deutsch wie Kafka"

Ist Fremd-Sein ein Problem, ein Thema oder ein Markt-Vorteil? Vier nicht ganz deutsche Autoren – Terézia Mora, Imran Ayata, Wladimir Kaminer und Navid Kermani – im „Literaturen”-Gespräch

 

Literaturen Als wir Sie zu diesem Gespräch über «Fremde» – die Fremde, das Fremde, die Fremden – einluden, reagierten Sie alle spon­tan abwehrend. Was für Befürchtungen oder Verdachtsmomente waren da im Spiel? Warum sind Sie zurückgezuckt?
Terézia Mora Die Gegenfrage wäre: Fremd – verglichen womit? Wer oder was ist da der Maßstab? Ich habe nichts dagegen, Ungarin zu sein – zur Hälfte –, aber ich habe etwas dagegen, in Deutschland bis ans Ende meines Lebens die Berufs-Fremde geben zu müssen. Weil das nicht mich als Person, aber schon gar nicht das beschreibt, was ich mache – meine Arbeit.

Literaturen Sie wollen nicht als Fachfrau fürs Fremde angesprochen werden.
Mora Ich bin unendlich genervt von dieser Fragestellung. Ich nehme an diesem Gespräch nur teil, um mich ein allerletztes Mal zu diesem Thema zu äußern.

Literaturen Geht das den anderen auch so?
Wladimir Kaminer Die Angst vor der Fremde hat doch etwas Provinzielles. Klar, dass Autoren als weltgewandte Menschen mit diesem Thema nichts zu tun haben wollen. Ich komme aus Moskau, einer Millionenstadt. In meiner Schule waren Georgier, Koreaner, Usbeken, sogar Kambodschaner, ich habe deswegen die Welt nie in Eigene und Fremde aufgeteilt. Andererseits sehe ich, dass Leute, die in einer sehr abgeschotteten Kulturtradition aufgewachsen sind, Probleme damit haben, wenn sie in einer anderen Welt ankommen. Wenn beispielsweise ein Spätaussiedler aus dem ländlichsten Kasachstan zu uns in die «Russendisko» kommt, dann kann ich sehen, dass er richtig große Angst hat. Eine Angst, die ein Russe oder Ukrainer, die zum Studieren nach Deutschland kommen, gar nicht nachvollziehen könnten, weil alle Großstädte dieser Welt einander ähneln.
Navid Kermani Ich bin zurückgezuckt, weil man ständig von ethnisch-deutscher Seite in die Fremden-Ecke geschoben wird. Es ist mir egal, ob die Deutschen mich für einen Iraner, einen Muslim oder sonst was halten. Sollen sie mich halten, wofür sie wollen. Aber in einem Punkt muss ich darauf beharren dazuzugehören: bei der Literatur. Ich bin ein Teil der deutschen Literatur.
Kaminer Das Russland, das ich beschreibe, ist auch ein Teil der deutschen Literatur. Auf jeden Fall. So deutsch wie Günter Grass mit seinem Danzigdanzig.
Kermani Wenn ich in einer Buchhandlung meine Bücher bei der persischen Literatur sehe, dann gehe ich zum Buchhändler und sage ihm: Entschuldigung, das ist ein Irrtum. Die deutsche Literaturtradition ist doch voll von Leuten mit anderen Herkünf­ten, gemischten Kulturen, nicht eindeutigen Identitäten, deren Heimat nicht Deutschland als Nation, sondern Deutschland als Sprache ist. Und aus der deutschen Sprache lasse ich mich absolut nicht rausdrängen. Aus Deutschland vielleicht, aber nicht aus der deutschen Literatur, die ich verehre; die persische habe ich erst viel später kennen gelernt.
Imran Ayata Mein erster Reflex war genauso. Für solche Fragen hatte ich mal ein ganzes Repertoire unterschiedlicher Antworten, mal zynisch, mal witzig. Woher kommen Sie? Aus dem Bauch meiner Mutter, aus Ulm, aus der Türkei. Man wird hier ja immer biografisiert.
Kermani Das Problem mit dem Fremdsein habt ihr, nicht wir.
Ayata Doch, ich hab’s aber auch.
Kermani Ich fühle mich nicht fremd, jedenfalls nicht in einem nationalstaatlichen Sinne. Einfach weil mir solche nationalen Zuschreibungen nicht besonders wichtig sind.

Literaturen Nicht? Sie haben doch gerade geschildert, dass Sie ständig mit solchen Zuschreibungen zu tun haben.
Kermani Aber die Zuschreibungen kommen doch von außen; ich selbst fühle mich wohl, wo ich lebe, also in Köln. Ich muss mich nicht als Deutscher fühlen, um nicht fremd zu sein.
Mora Seit ich fünf war, wollte ich aus meinem ungarischen Dorf weggehen. Ich wollte den Ort und die Lebensweise finden, in denen ich nicht fremd bin – nämlich hier in Berlin und als Schriftstellerin. Ich habe hier keine Fremdheitsgefühle. Fremd war ich in dem ungarischen Dorf. Ich habe die Sprache nicht gewechselt. Ungarisch und Deutsch sind beides meine Muttersprachen. Ich konnte mich für eine der beiden entscheiden, und das habe ich auch getan.
Kaminer In Moskau habe ich mich auch fremd gefühlt. In meiner Clique waren wir alle große Dissidenten und wollten nichts als weg. Mit vierzehn, fünfzehn trugen wir englische Fahnen, denn wir sahen uns als Kinder der britischen Kultur. Wir hatten ja keine Ahnung.

Literaturen Ist es dann ein Zufall, dass Sie nach Deutschland gingen und Deutsch schreiben? Hätten Sie ebensogut nach England gehen können und Englisch schreiben?
Kaminer Die Gleise führten eben nach Deutschland, es gab keine Zugverbindung nach England.
Ayata Meine Erfahrung mit dem so genannten Fremdsein ist anders. In Ulm, wo ich aufs Gymnasium ging, war das nicht lustig. Ich war in der Schule schon «der Ali», an der Universität in Frankfurt war ich manchmal «der Ali», und ich werde in der Wahrnehmung der Leute immer wieder «der Ali» sein.

Literaturen So unterschiedlich Ihre Herkünfte, Ihre Biografien und Ihre Brotbe­rufe sind – als Übersetzerin, Werbeagent, Betrei­ber einer Disco, politischer Journalist –, so haben Sie in Ihrem zweiten Beruf als Autoren doch eines gemeinsam: dass Sie eben nicht deutsche Autoren sind im Sinne von Goethe oder Thomas Mann.
Kermani Aber vielleicht deutsch eher im Sinne von Kafka.
Mora Ja, eben. Ich bin genauso deutsch wie Kafka. Ich komme ungefähr aus derselben Gegend.
Kermani Das finden Sie bei vielen großen Autoren genauso – dass sie nicht im Klischee-Sinne deutsch sind. Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Natürlich schreibe ich über meine Welt, die anders ist als Ihre Welt. Aber ist das so sehr anders, als wenn ein Arnold Stadler über die Welt schreibt, aus der er stammt, aus Meßkirch, und nicht über Norddeutschland?

Literaturen Liegt der Unterschied nicht vielleicht darin, dass Sie eben nicht nur Meßkirch, sondern Russland, Ungarn und den Balkan, Ihre türkischen oder iranischen Wurzeln in die deutsche Literatur einbringen? Das kann man doch als eine große Durchlüftung der deutschen Literatur sehen, als eine Anreicherung mit anderen Welterfahrungen?
Kaminer In meinem Leben gehört das biografisch zusammen: der Fall des Sozialis­mus, das Ende der Sowjetunion, der große Umzug nach Deutschland, und alles Neue, das daraus entstanden ist. Aber auch Deutsch­land hat sich in den letzten fünfzehn Jahren sehr stark verändert – beinahe stärker als meine Heimat. Ich bin viel auf Lesereise in den so genannten neuen Bun­desländern. Die Menschen dort sind mit einer Gegenwart konfrontiert, die ihnen ziemlich fremd ist und auch Angst macht. Weil sie selber fremdeln in der Welt, haben sie Angst vor Fremden.

Literaturen Das haben Sie, Herr Kaminer, mit Terézia Mora biografisch gemeinsam: dass bei Ihnen das Erwachsenwerden und Von-Zuhause-Fortgehen zeitlich zusam­menfällt mit dem Ende des Eisernen Vorhangs und der Öffnung der europäischen Grenzen. Sie hatten plötzlich die Freiheit, wegzugehen und sich überall umzusehen, wo Sie wollten.
Mora Wir alle sind um 1970 herum geboren. Für uns war der Mauerfall tatsächlich auch biografisch die historische Zäsur. Seither leben wir alle in einer anderen Welt. Als ich diese These neulich an einem Tisch mit einem West-Autor von mir gab, da schnippte der die Asche von seiner Zigarette und sagte: Ich nicht. Demzufolge wäre westdeutsch der Normalzustand: Nur der Kern-Wessi muss sich nicht rechtfertigen. Was der Kern-Wessi schreibt, ist demnach die Norm, alles andere kommt halt so dazu. Das regt mich auf.
Kermani Es stimmt natürlich, dass Leute, die biografisch aus nahöstlichen, osteuropäischen, eben anderen kulturellen Kontexten kommen, auch andere kulturelle Erfahrungen mitbringen, die ein rein westdeutsches Mittelstandsleben nicht bieten kann.
Mora Entschuldigung, wir reden von Literatur, wir reden nicht von Lieschen Müller.
Kermani Aber die Welt muss es schon sein. Das mag jetzt abfällig klingen, aber es gibt in Deutschland eine Menge für mich völlig irrelevante Literatur, die von Lieschen Müller geschrieben ist.
Kaminer Von wem?
Mora Von Lieschen Müller. Eine Typologie.
Kaminer Ich kenne aber heutige deutsche Autoren mit reiner West-Problematik, die trotzdem sehr spannende Bücher schreiben. Sven Regener zum Beispiel.
Kermani Der Punkt ist nicht die Herkunft, oder wo man wohnt. Es ist der Blick. Man findet die ganze Welt in Meßkirch. Aber es darf eben auch nicht weniger sein als die Welt. Ein Arnold Stadler ist für mich in diesem Sinne weltläufiger als das meiste, was unter dem Label «Multikulti» firmiert. Andererseits kann es schon sein: Die Welt, die in den Büchern der hier versammelten Autoren auftaucht, die politischen Erfahrungen dahinter – Revolutionen, Kriegsgefangene, Kriegsgefallene in der eigenen Familie – all dies macht aber unsere politischen oder literarischen Biografien vielleicht reicher. Zumindest könnten wir aus einem größeren Archiv schöpfen als andere deutsche Autoren unserer Generation. Und diese Literatur mit einem anderen kulturellen Blick, geschrieben von Autoren, die keine rein deutschen Biografien haben, interessiert mich auch als Leser mehr als vieles, was an jüngerer Literatur aus rein westdeutscher Sicht geschrieben wird.

Literaturen Dann wäre die Unterscheidung zwischen Ihrer Literatur und der sozusagen kern-westdeutschen Lieschen-Müller-Literatur keine Ausgrenzung mit negativen Vorzeichen, sondern vielmehr eine positive Abgrenzung, ein literarischer Bonus. Das war vor zwanzig Jahren noch nicht so. Dass die Literatur von den Rändern heute eine richtige Konjunktur erlebt – hat das mit einem veränderten Europa zu tun? Einem migran­tischen Europa des Unterwegs-Seins und der Veränderungen, wo frühere Determinierungen keine Gültigkeit mehr haben und feste Verortungen überholt sind?
Ayata Wenn man ehrlich ist, dann gibt es tatsächlich hin und wieder so etwas wie den Ka­naken-Bonus. Im Mainstream gibt es manchmal eine Sehnsucht nach migrantischer Bereicherung. So kann es schon sein, dass man eigentlich keine spannenden Sachen macht, aber eine Rolle bedient. Und
so kann man dann durchaus eine gute Zeit haben.
Kaminer Es gibt viele Russen, die schreiben und keinen Erfolg haben. Die haben keinen Bonus.
Ayata Logo. Ich will es nicht schönreden. Im Gegenteil. Aber ich habe mich jahrelang mit HipHop beschäftigt und auch darüber geschrieben. Da gab es grottenschlechte Kanak-Rapper, die der deutsche Mainstream aber plötzlich spannend fand, nach dem Motto: Toll, diese Wut aus den sozialen Brennpunkten und dieses real-existierende Multikulti! Die Jungs waren klug genug, diese Mode auszunutzen. So kamen sie an Plattenverträge, die sie sonst nie bekommen hätten. Ich nenne das Differenz-Boutique: Es gibt im kulturellen Bereich eine unbeschreibliche Gier des deutschen Main­stream nach Differenz – wie in einem Laden, wo man sich die schönen Teile raussucht, die schönen Teile der Differenz.

Literaturen Es muss aber schon die richtige Differenz sein.
Ayata Sie darf den Konsens nicht substanziell in Frage stellen, sie muss immer ein biss­chen bereichernd sein – exotisch, eben anders, aber auch irgendwie klug. Ich finde das nicht falsch, damit zu spielen. Ich habe das schon knallhart getan. Ob meine Figuren aus meinem Erzählungsband «Hürriyet Love Express» solche Typen sind, da habe ich Zwei­fel. Es tauchen viele mit türkischen Namen auf. Aber sie sind anders als die Türken, die die meisten Deutschen so im Kopf haben. Ich habe sozusagen Polaroids vom Leben im Hier und Jetzt junger Kanakster geschossen.
Kaminer Auf einen Ausländer-Boom, eine Multikulti-Welle zu bauen, halte ich für gefährlichen Selbstbetrug. Wenn du nichts Solides anzubieten hast, wird kein Mensch deine Bücher kaufen, allen cleveren PR-­Strategien zum Trotz. Kein Mensch geht zu einer Lesung, nur weil der Autor eben aus irgendeinem Zoo gekommen ist.
Ayata Aber das sage ich doch! Multikulti ist kein Freischein für andauernden Erfolg. Die Differenz-Boutique funktioniert nur für den Moment. Wenn deine Bücher langweilig sind, dann hilft auf Dauer die Multikulti-Werbesendung auch nicht.
Kermani Es gibt diesen Bonus. Aber nicht auf der Ebene der ernsthaften Literatur.
Ayata Was ist denn das – ernsthafte Literatur?
Kermani Das, was Bestand hat, was man auch in zehn, zwanzig Jahren noch lesen wird. Das läuft jenseits der Mode-Mechanismen. Zur Differenz-Boutique hingegen gehört, wenn die ZDF-«Aspekte» einen Beitrag groß aufmachen: «Der erste Porno-Roman einer Muslimin».
Mora Die schreibt über Tausendundeine Nacht?
Kermani Wer jetzt einen Schleiereulen-Roman schreibt – «Wie ich mich aus der Muslimsklaverei befreite» oder so ähnlich –, der wird heute schnell einen Verlag finden, vielleicht auch hohe Auflagen erreichen und im Fernsehen gehyped werden. Das hat aber keinen Bestand. Die ernsthafte Literaturkritik befasst sich damit kaum. Mein eigenes neues Buch ist sexuell sehr explizit; trotzdem wäre weder mein Verlag noch sonst wer auf die Idee gekommen, ihn mit dem Slogan «Muslim schreibt Sex-Roman» zu vermarkten. Das wäre absurd gewesen.

Literaturen Wenn wir Imran Ayata richtig verstanden haben, unterscheidet er zwischen literarischer Qualität einerseits und Modekonjunktur andererseits. Schlechte Qualität wird die Mode nicht überleben, aber gute Qualität kann sich die Konjunktur zunutze machen, ohne Schaden zu nehmen.
Mora Ich hatte vor solcher Etikettierung von Anfang an Angst. Ich kam unter meinem Ehe-Namen, einem kerndeutschen Namen, zum Verlag, aber ich wollte nicht unter dem Namen meiner Schwiegermutter veröffentlichen. Dann hat der Verlag heraus­gefunden: Oh Gott, Sie sind ja Ungarin!
Mora ist übrigens auch nicht mein richtiger Name. Ich wollte einen Namen wählen, dem man nicht sofort anhört, wo er herkommt. Ich wollte mich maskieren. Ich bin zu hochnäsig, um einen Trend auszunutzen. Ich wollte die Wahrheit erfahren: Man sollte nicht wissen, wer diesen Text geschrieben hat, aber diesen Text dennoch als gültig erkennen. Ich sagte mir: Das zweite Buch muss so sein, dass danach praktisch nicht mehr wichtig ist, wer es geschrieben hat.

Literaturen In Ihrem Erzählungsband «Selt­same Materie» und Ihrem Roman «Alle Tage» ist das Thema Fremdheit aber ganz zentral.
Mora Ja, natürlich. Mein Held Abel Nema ist sozusagen von Anfang an und grundsätzlich fremd. Er hat das Büchner-Problem – «jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht». Der Mensch als Fremder an sich.
Kermani Für mich ist Fremdheit erst mal ein hoch positiver Begriff, ohne den könnte ich gar nicht arbeiten. Fremdsein ist eines der Grundmotive meines Lebens und Schreibens, aber eben nicht auf der Ebene einer Moschee in Kreuzberg. Fremd ist für mich zunächst einmal ein weiblicher Körper.
Mora Für mich auch!
Kermani Mich interessiert nicht, ob meine Themen multikulturell sind. Es ist einfach nur so, dass in der Welt, in der ich lebe, viele Kulturen sind, nebeneinander oder inei­nan­der verwoben. Damit meine ich auch, aber nicht primär, mein unmittelbares privates Umfeld. Das gilt für meine Reisen, aber
vor allem für die Literatur, die ich lese. Im Wort Weltliteratur steckt ja immerhin das Wort Welt.
Ayata Mag sein. Fakt ist, dieses Land verändert sich. In der Generation meiner Eltern haben sich nur wenige mit dem befasst, was viele in meiner Generation beschäftigt. Und diese Menschen sind auch potenzielle Käufer, Musikhörer und Club-Besucher. Das beeinflusst dieses Land und weckt Begehrlichkeiten seitens der Kulturindustrie. Und langsam erkämpfen sich Leute mit migranti­schem Hintergrund Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und kultureller Repräsentation. Sie sind aber noch lange nicht ausreichend sichtbar. Verglichen mit England oder Frankreich ist das Oberliga.
Kaminer Weil Deutschland keine koloniale Vergangenheit hat. In Frankreich oder England hat man sich eine dermaßen bunte Gesellschaft ins Land geholt, dass dort all diese Fremden-Diskussionen total überholt wirken. Dass eine Buchhandlung Salman Rushdie auf das Regal mit orientalischer Lite­ratur stellt, wäre in England unvorstellbar.

Literaturen Meinen Sie denn, ein Gespräch wie dieses könnte nur in Deutschland geführt werden, mit seiner mangelnden kolonialen Geschichte und seiner daraus resultierenden mangelnden Weltläufigkeit?
Ayata In Österreich könnte man ein solches Gespräch schon auch führen.
Kaminer In Sankt Pölten gibt es große Angst vor Fremden! Da kommen die Fremden immer mit ihrer Ski-Ausrüstung!

Literaturen Werden nicht umgekehrt gerade in postkolonialen Gesellschaften wie Großbritannien, Frankreich oder Holland diese Fragen ständig diskutiert? Geht es dort nicht in Institutionen, die «Postcolonial Studies» betreiben, unentwegt um das Thema Differenz, unter Stichworten wie Hybridität, Kreolisierung der Sprache, «White, but not quite»?
Ayata Hybridität ist hier nur Abfallprodukt einer Debatte, die originär anderswo geführt wird. Der postkoloniale Diskurs ist in Deutsch­land ein belächeltes universitäres Nebenfach, wo eifrig nachgelesen wird, was Homi Bhabha und andere postkolonia­le Denker entwickeln. Natürlich merkt man dem, was wir schreiben und wie wir schreiben, an, dass etwa die Eltern aus der Türkei oder dem Iran kommen, oder dass Kaminer in Moskau in den Zug gestiegen und in Berlin ausgestiegen ist. Hätte es ihn nach Schwäbisch Gmünd verschlagen, würde er anders schreiben. Man kann das Anderssein nicht allein auf Ethnizität reduzieren.
Kermani Diese Erfahrungen gehören doch eigentlich zum selbstverständlichen Archiv eines Autors, egal, ob er in München groß geworden ist oder anderswo. Alle großen Autoren, die ich kenne, waren vor allem lese­besessen, haben sich also ganze Welten erlesen, und viele waren Reisende. Wer als
Autor das eigene Blickfeld nicht ständig erweitert, erschöpft sich sehr schnell. Was mir am Großteil der deutschen Gegenwartsliteratur missfällt, ist, dass sich die Welterfahrung auf Literatur-Stipendien und Einladungen an Goethe-Institute beschränkt. Das merkt man ihr an, zu ihrem Schaden.

Literaturen In ganz Europa gibt es doch eine ähnliche Migranten-Thematik. Bietet die Fremdheit als literarisches Thema auch politische Anknüpfungspunkte? Können Sie mit dem, was Sie schreiben, an die Politik anschließen?
Kaminer Mich hat Deutschland politisiert. Man kann hier der Politik gar nicht entkom­men, denn Deutschland ist wie eine Kolchose aufgebaut: Jeder geht jeden an. Jeder Penner fühlt sich als Teil des Systems und für alles verantwortlich. Ich schreibe aber nicht journalistisch über politische Tagesfragen, ich versuche das in meine literarische Arbeit einzubauen.
Mora Die Literatur, die ich schreibe, kann mit der Tagespolitik nicht Schritt halten und sollte das auch überhaupt nicht versuchen. Ich bin froh, nicht in Ungarn zu leben, wo die Schriftsteller gleichzeitig auch die Journalistenrolle spielen. Dort wird von ihnen erwartet, dass sie sich unentwegt tagespolitisch äußern. Ich bin sehr froh, daran hier nicht teilhaben zu müssen.

Literaturen Ihre Erzählungen, Herr Ayata, handeln alle von deutsch-türkischen kulturellen Grenzgängern, von halb-integrierten jüngeren Leuten der zweiten Migranten-Generation. Jedenfalls sind Ihre Helden offen für Integration, sprechen längst besser Deutsch als Türkisch und bewegen sich locker und selbstverständlich innerhalb der deutschen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu wird der türkischen Minderheit in Deutschland neuerdings sogar von türkischer Seite der Vorwurf gemacht, sie verweigere die Integration und grenze sich bewusst ab, Stichwort: Parallelgesellschaft.
Ayata Es gibt bekloppte Muslime, die organisieren auch Politik über ihre Beklopptheit. Ich habe nichts für sie übrig und könnte so nicht leben, wie viele Muslime hier leben. Warum manche sich nicht integrieren und nicht teilhaben wollen, hat natürlich auch mit deren Ideologie zu tun, die nicht die meine ist.
Kermani Klar gibt es in der dritten Generation gefährliche Entwicklungen, da gibt es Leute, die in den Radikalismus abdriften. Aber solche politischen Phänomene diskreditieren für mich nicht das Fremde als solches.

Literaturen Nimmt die Neigung zur Abschottung in der muslimischen Minderheit zu, wie neuerdings oft behauptet wird?
Ayata Ich weiß es nicht, ich bin nicht der Türkenminister. «Parallelgesellschaft» ist auf jeden Fall nicht eine Erfindung dieser Minderheit.

Literaturen Eine Abschlussfrage. Seit zwanzig Jahren wird von der Robert-Bosch-Stiftung der Chamisso-Preis zur Förderung der so genannten Migrationsliteratur verliehen. Ausgezeichnet werden Autoren nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache für wichtige Beiträge zur deutschen Literatur. Würden Sie den Chamisso-Preis annehmen oder ablehnen?
Kermani 15.000 Euro!
Mora Das ist auch mein Kommentar. Als ich den Förderpreis zum Chamisso-Preis bekam, bin ich zuerst erschrocken, aber dann habe ich ihn angenommen. Es ist ja keine Schande, diesen Preis zu bekommen.

 

Imran Ayata, 1969 in Ulm geboren, lebt in Berlin, ist Geschäftsführer einer Kommu­nikations­agentur, Autor und DJ. Er studierte Po­lito­logie in Frankfurt a. M., war Redak­teur der Zeitschrift «Die Beute. Politik und Ver­brechen» und Mitbegründer der Initiative «Kanak Attak». Soeben veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Hürriyet Love Express».

 

Terézia Mora, 1971 im ungarischen Sopron geboren, übersiedelte 1989 nach Berlin. Sie arbeitet als Übersetzerin aus dem Ungarischen, vor allem der Romane Péter Esterházys, und als Autorin. Für ihren ersten Erzählungsband «Seltsame Materie» erhielt sie 1999 den Bachmann-Preis. 2004 erschien ihr
erster Roman «Alle Tage».

 

Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, studierte Theaterwissenschaften, bevor er 1990 nach Berlin übersiedelte. Er arbeitet als Kolumnist für Tageszeitun­gen, hat eine Radiosendung, organisiert die «Russen­disko» und veröffentlichte Erzählungsbände wie «Russendisko» und «Mein deutsches Dschungelbuch» sowie den Roman «Militärmusik».

 

Navid Kermani, 1967 in Siegen geboren, ist deutscher und iranischer Staatsbürger, promovierter Orientalist, politischer Publizist und Schriftsteller und lebt in Köln. Er veröffentlichte «Gott ist schön»,
«Das Buch der von Neil Young Getöteten» und «Vierzig Leben». Soeben erschien sein Erzählungs­band «Du sollst».

 

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