- Nichtwählen ist ein Grundrecht
Seit Sonntag wird wieder über die wahlfaulen Bürger geschimpft. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass in einer Demokratie jeder das Recht hat, nicht zu wählen
Seit ich wählen darf, habe ich bei jeder Wahl meine Stimme abgegeben, bei Bundestagswahlen wie bei Kommunalwahlen, bei Bürgerentscheiden und selbst bei der Direktwahl von Landräten. Schon deshalb, weil ich ein „Polit-Junkie“ bin. Und weil das demokratische Wahlrecht für mich eine staatsbürgerliche Verpflichtung bedeutet, wohlgemerkt eine moralische Pflicht.
Viele Mitbürger sind da anderer Meinung. Deshalb sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich. In Brandenburg gingen jetzt nur 48 Prozent zur Wahl. In Sachsen vor zwei Wochen waren es 49 Prozent. Damit haben sich diese beiden Länder in der Rangliste der wahlfaulsten auf die Plätze zwei und drei vorgearbeitet. Spitzenreiter bei den Landtagswahlen mit der niedrigsten Wahlbeteiligung bleibt Sachsen-Anhalt mit seinen 44,4 Prozent im Jahr 2006.
Seit Sonntag wird nun über die wahlmüden und wahlfaulen Bürger gejammert und geklagt, über diejenigen, die sich aus dem politischen System ausgeklinkt hätten, die für die demokratische Gesellschaft verloren wären. Sofort fühlen sich viele berufen, Vorschläge zu machen, wie man die Wähler zu ihrem Wahlglück verleiten könnte: Wählen per Internet, Wahl an mehreren Tagen, Wahlurnen in Supermärkten. Der „Tagesspiegel“, nicht gerade als Satireblatt bekannt, schlug gar vor, die Wähler mit einer „Wahlgabe“ zu ködern: etwa Gutscheine für staatliche Museen als Gegenleistung für die Stimmabgabe. Wäre da nicht „Freibier für Wähler“ konsequenter? Oder noch besser: ein Freilos für die staatliche Klassenlotterie!
Vom Recht, unpolitisch zu sein
Die ganze Diskussion missachtet sträflich ein Grundprinzip einer freiheitlichen Gesellschaft: Das Recht, unpolitisch zu sein, das Recht, das Wählen den anderen zu überlassen, das Recht, sich um die „res publica“ nicht zu kümmern, das Recht, sich als Trittbrettfahrer unseres demokratischen Gemeinwesens wohl zu fühlen. Ich finde solche Zeitgenossen weder vorbildlich noch sonderlich klug, aber ich respektiere ihre freie Entscheidung. Das unterscheidet nämlich die freiheitliche von der totalitären Gesellschaft.
Manche Bürger wählen nicht mehr, weil sie „denen da oben“ ohnehin nichts zutrauen. Andere Nichtwähler verstehen gar nicht, was die Parteien unterscheidet. Eine dritte Gruppe wiederum vertritt die Ansicht, die Sonne werde auch am Morgen nach dem Wahltag aufgehen, ganz gleich, wer am Tag zuvor wie viele Stimmen bekommen hat. Wahlabstinenz kann durchaus auch ein Zeichen eines diffusen Grundvertrauens sein: Es ist noch immer gut gegangen.
Eine niedrige Wahlbeteiligung ist unter dem Aspekt der Legitimation der Gewählten zweifellos unerfreulich. Schlimmer noch: Eine niedrige Wahlbeteiligung hilft den Populisten von rechts und links, weil die ihre „Wutwähler“ meist besser zu mobilisieren verstehen als die Volksparteien mit ihrer eher satten Wählerschaft. Aber soll man deshalb eine Wahlpflicht einführen, etwa die Wahlabstinenz mit Geldbußen bekämpfen wie in Belgien? Oder gar mit Gefängnis wie in Ägypten?
Wir Deutsche haben ja Erfahrung mit Zeiten, in denen sich „das ganze Volk“ angeblich freudig erregt aufmachte, mit seiner Stimme dem „Führer“ zu huldigen oder zum Sieg des Sozialismus beizutragen. Im Dritten Reich wie im real existierenden Sozialismus machte sich verdächtig, wer sich am Wahltag abseits stellte. Heute muss niemand irgendwelche Nachteile befürchten, wenn ihm das Faulenzen zu Hause oder der Ausflug ins Grüne wichtiger ist als die Stimmabgabe. Und genau das macht eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft aus: dass sie jeden nach seiner Facon selig werden lässt, auch den Wahlverweigerer.
Rüstet also ab, ihr „Wahlrecht-ist-Wahlpflicht“-Prediger. An einer niedrigen Wahlbeteiligung ist noch keine Demokratie zerbrochen.
Lesen Sie hier, warum Nichtwählen die Demokratie gefährdet. Von Christoph Seils.
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Ich habe bis jetzt auch immer von meinem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Sehe das "nicht Wählen" aber dennoch legitim. Bürger mit Gegenleistungen zum Wählen zu animieren sehe ich ebenfalls kritisch. Staatskassen plündern um Politikverdrossenheit zu mindern? Sehr fraglich. Auch Wahlurnen in Supermärkten zu platzieren oder den Wahlzeitraum auf mehrere Tage auszuweiten würde Kosten verursachen, die meiner Meinung nach verschwendet wären. Obwohl eine niedrige Wahlbeteiligung Extremisten hilft, gibt es noch genug andere Wähler, die einseitige Wahlergebnisse verhindern. Abschließend lässt sich sagen, dass das Wahlrecht weiterhin ein Recht bleiben sollte und niemand direkt oder indirekt durch Gegenleistungen usw dazu gezwungen werden sollte.