- Mit sanfter Macht
Nachdem der türkische Expansionsdrang im östlichen Mittelmeer, in Libyen und Syrien wegen der Wirtschaftskrise nachgelassen hat, wendet sich Ankara verstärkt dem Balkan zu. Und zwar, indem die Türkei versucht, ihren kulturellen Einfluss in der Region auszubauen. Jetzt bietet sie sich sogar als Vermittlerin in der Bosnienkrise an.
Spannende Zeiten für die Türkei – historisch gesehen ein kraftvolles Land, das aber den aktuellen Erwartungen nicht ganz gerecht werden kann. Was nicht daran liegt, dass es dies nicht versucht. Die Türkei möchte ihren Einfluss in den Ländern, die einst zum Osmanischen Reich gehörten, ausweiten, und in dieser Hinsicht ist sie in letzter Zeit recht aktiv gewesen. Nach einem starken, aber erfolglosen Expansionsdrang im Mittelmeerraum, in Libyen und – in geringerem Maße – in Syrien nimmt Ankara nun eine kleinere, anfälligere Region ins Visier: den Balkan. Die derzeitige politische Krise in Bosnien-Herzegowina – wo die Regierung eines mehrheitlich serbischen Gebiets kürzlich eine nicht bindende Resolution verabschiedet hat, die zu ihrem Rückzug aus wichtigen staatlichen Institutionen führen könnte – ist für die Türkei eine ideale Gelegenheit.
Das Interesse der Türkei am Balkan erklärt sich durch dessen relative Nähe zu Istanbul, einem strategisch günstig gelegenen Wirtschaftsmotor, der auch als Tor der Türkei zum Rest der Welt dient. Die Stadt liegt am Marmarameer, das über den Bosporus und die Dardanellen das Schwarze Meer mit der Ägäis – und damit mit dem Mittelmeer – verbindet. Der Bosporus ist ein wichtiger maritimer Engpass für den Öltransit und die Getreideschifffahrt, insbesondere für Binnenländer mit Schwarzmeerküsten wie die Ukraine und Russland.
Die Kontrolle über den Bosporus ist eine wesentliche Quelle türkischer Macht. Allerdings grenzt die Marmara auch an die Balkanhalbinsel, so dass jede Destabilisierung des Balkans eine direkte Bedrohung für die türkische Macht darstellt. Genau aus diesem Grund hat Ankara ein großes Interesse daran, die Stabilität der Region zu erhalten – und zwar ohne die Hilfe anderer Mächte von außen.
Strategisch wichtige Lage
Und viele dieser Mächte sind seit langem an der Region interessiert. Der Balkan liegt am Schnittpunkt von Christentum und Islam, und seine strategische Lage an der Adria, dem Mittelmeer, der Ägäis und dem Schwarzen Meer hat ihn schon immer zu einem attraktiven Knotenpunkt für die Ausübung von Macht in noch weiterer Ferne gemacht. Das osmanische Erbe, das für die Gründung und Verbreitung islamischer Gemeinschaften in diesem Gebiet verantwortlich ist, stellt für Ankara ein Instrument dar, um die regionale Dynamik zu beeinflussen. Vor allem Bosnien, Albanien und der Kosovo sind die Länder, die historisch gesehen engere Beziehungen zu Ankara unterhalten.
Das Osmanische Reich, das zunächst den Islam auf dem Balkan verbreitete, übernahm im 14. Jahrhundert die Kontrolle über die Region und behielt diese mit dem so genannten „Millet“-System bei. Dieses System bestand aus dezentralisierten Verwaltungseinheiten auf der Grundlage religiöser Bekenntnisse, wobei die religiösen Oberhäupter an der Spitze der einzelnen Milizen standen. Auf diese Weise wurde die Religionsfreiheit relativ gewahrt, auch wenn den Muslimen mehr Freiheiten eingeräumt wurden als ihren christlichen Mitbürgern. Das System ermöglichte auch die Existenz verschiedener Identitäten in einem relativ kleinen Gebiet – was bis heute anhält.
Obwohl die Türkei gut positioniert ist, um ihre Macht auf den Balkan auszudehnen, gibt es mehrere Faktoren, die ihre Möglichkeiten dazu einschränken. Ankara hat zwar Freihandelsabkommen mit mehreren Balkanländern geschlossen, darunter Albanien, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien, aber in Wirklichkeit ist es ihr nicht gelungen, wirtschaftlich so weit vorzudringen, wie sie es wollte. Sie ist kein führender Handelspartner irgendeines Landes in der Region – nicht einmal für die Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, die nicht zur EU gehören. Die Türkei mag der zweitgrößte Investor im Kosovo und der fünftgrößte in Albanien sein, aber in Bosnien liegt sie nur auf Platz 13 und wird von Ländern wie Deutschland, Italien und Österreich übertroffen. In EU-Mitgliedsländern des Balkans wie Kroatien oder in Ländern mit nicht-muslimischer Mehrheit wie Serbien und Nordmazedonien ist die Position der Türkei noch ungünstiger. Staaten wie Deutschland und Russland haben tendenziell mehr wirtschaftlichen Einfluss.
Darüber hinaus haben die wirtschaftlichen Probleme der Türkei sie daran gehindert, im Ausland aktiv zu werden. Im Dezember erreichte die Inflation 36 Prozent. Infolgedessen ist der Wert der Lira in den vergangenen Monaten gefallen, was die Kaufkraft der Verbraucher schmälerte und Proteste der Bevölkerung gegen die Regierung auslöste. Einfach ausgedrückt: Die wirtschaftlichen Ressourcen, über die Ankara verfügt, sind auf die Lösung inländischer Probleme ausgerichtet. Die Türkei kann nicht mit anderen Ländern konkurrieren, die günstigere Bedingungen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit bieten.
Wirtschaftliche Zwänge
Die wirtschaftlichen Zwänge der Türkei haben auch türkische Sicherheits- und Militäroperationen behindert, die es ihr ansonsten ermöglichen würden, ihren Einflussbereich auszuweiten. In den Jahren 2018/19 war die Türkei auf Schauplätzen wie dem östlichen Mittelmeer, Libyen und Syrien äußerst aktiv. Doch als ihre Wirtschaft in Straucheln geriet, war sie gezwungen, ihre Operationen zurückzufahren.
Angesichts ihrer wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beschränkungen muss sich die Türkei seit einiger Zeit also auf eine weichere Macht verlassen – nämlich auf ihre kulturellen Bindungen zum Balkan. Seit dem Zerfall Jugoslawiens hat sich die Türkei als Schirmherrin der muslimischen Gemeinschaften auf dem Balkan positioniert. So sind beispielsweise mehrere Zweigstellen des Yunus-Emre-Instituts, das die türkische Sprache und Kultur im Ausland fördern will, auf dem Balkan vertreten, insbesondere in den Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit.
Ein weiteres mächtiges Instrument zur Stärkung des kulturellen Einflusses ist die „Türkische Agentur für Zusammenarbeit und Koordinierung“ (TIKA), eine vom türkischen Kulturministerium verwaltete Organisation, die kulturelle und bildungspolitische Bemühungen in türkischen Gemeinschaften finanziert. Es überrascht nicht, dass die TIKA auch auf dem Balkan präsent ist und sich besonders für die Restaurierung religiöser und kultureller Denkmäler aus der osmanischen Zeit einsetzt. Soft Power hat natürlich ihre Grenzen, und kultureller Einfluss führt nicht automatisch zu einer insgesamt stärkeren Machtausübung. Dennoch bleiben kulturelle Beziehungen das wirksamste Instrument, das der Türkei zur Verfügung steht, um zu versuchen, die Zukunft der Region zu gestalten.
Die aktuelle politische Krise in Bosnien bietet der Türkei jedoch die Möglichkeit, ihren politischen Einfluss auf dem Balkan auszubauen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte, Ankara werde darauf drängen, Gespräche zwischen Vertretern der drei konstituierenden Gemeinschaften – Serben, Kroaten und Bosniaken – zu führen, um der politische Sackgasse zu entkommen und einen Zerfall Bosniens zu verhindern. Angesichts des gemeinsamen kulturellen Erbes von Bosniaken und Türken – beispielsweise wanderten viele Bosniaken während der osmanischen Ära in die Türkei ein, so dass viele türkische Bürger heute bosniakischer Herkunft sind – befindet sich die Türkei in einer guten Position, um zu vermitteln.
Hinzu kommt, dass die traditionellen außerregionalen Machtmakler wie Russland, die USA und die EU, die die Türkei herausfordern könnten, desinteressiert oder abgelenkt sind. Die EU-Erweiterung auf dem Balkan ist ins Stocken geraten. Die USA haben zwar Sanktionen gegen den bosnischen Serbenführer auf den Tisch gelegt, sonst aber nicht viel mehr. Und die Aufmerksamkeit Russlands konzentriert sich auf sein Grenzgebiet. Wenn es der Türkei gelänge, das Vakuum zu füllen und sich als effektiver politischer Vermittler zu präsentieren, könnte sie ihr politisches Gewicht in der Region wiederherstellen und es in größeren Einfluss ummünzen.
Ankara und Belgrad auf einer Linie
Das Potenzial der Türkei als Vermittler wird auch dadurch begünstigt, dass die lokalen Akteure, insbesondere Serbien, nicht dagegen sind. Erdogan hat das Thema kürzlich mit seinem serbischen Amtskollegen Aleksandar Vucic erörtert, und beide kündigten an, die diplomatischen Gespräche zur Lösung der Krise zu intensivieren. Dies ist insofern überraschend, als Ankara und Belgrad in diesen Fragen normalerweise auf entgegengesetzten Seiten stehen. Serbien ist aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit ein entschiedener Unterstützer der bosnischen Serben, die versuchen, ihre Unabhängigkeit von den staatlichen Institutionen zu erlangen. Die Türkei hingegen ist der Schutzherr der muslimischen Bosniaken und stellt sich gegen die sezessionistischen Kräfte.
Im Moment jedoch begrüßt Serbien das Vermittlungsangebot der Türkei, da Belgrad nicht gewillt scheint, die sezessionistischen Bestrebungen der Republik Srpska zu unterstützen. Jede Änderung des Status quo in Bosnien und der Republik Srpska könnte eine massive Instabilität in der Region auslösen, die Serbien schaden würde. Belgrad will auch nicht die finanzielle Verantwortung für die bosnisch-serbische Unabhängigkeit tragen, selbst wenn diese ohne größere Unruhen vollzogen werden könnte. Um wirtschaftlich lebensfähig zu sein, müsste sich die Republik Srpska in Serbien integrieren. Die Annexion der Republik wäre eine wirtschaftliche Belastung, die sich Belgrad angesichts der prekären Wirtschaftslage derzeit nicht leisten kann. Schließlich birgt die ausdrückliche Unterstützung der abtrünnigen Serben in Bosnien das Risiko, Serbiens andere regionale und europäische Partner zu verprellen, was mit hohen Kosten für die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen verbunden sein könnte. Aus diesem Grund begrüßte Serbien das Angebot der Türkei, zu vermitteln. Die bosnischen Serben ihrerseits haben keine andere Wahl, als der Führung Belgrads, ihres einzigen Schutzherren, zu folgen.
Auch die muslimischen Bosniaken werden wahrscheinlich die türkische Vermittlung akzeptieren, um eine Zersplitterung Bosniens zu verhindern. Sie wissen, dass sie im Falle eines Auseinanderbrechens Bosniens von der neuen unabhängigen Republik Srpska und von Kroatien eingekreist würden, wodurch sich das Sicherheitsdilemma wiederholen würde, das die ersten Phasen des Bosnienkriegs in den 1990er Jahren bestimmte, als die Bosniaken erleben mussten, wie Serben und Kroaten versuchten, das Land aufzuteilen. Die türkische Vermittlung ist daher ihre offensichtlichste Versicherung gegen ein solches Szenario.
Für die Türkei ist der Ausbau ihres kulturellen und politischen Einflusses auf dem Balkan ein notwendiger, aber unzureichender erster Schritt zur vollständigen Wiederherstellung des Einflusses, den Ankara während des Osmanischen Reiches hatte. Solange Ankaras wirtschaftlicher Fußabdruck auf dem Balkan bescheiden bleibt und seine militärischen Kräfte begrenzt sind, wird die Türkei ihr Endziel verfehlen. Doch im Moment sind kultureller und politischer Einfluss die einzigen Instrumente, die der Türkei zur Verfügung stehen, um die Region zu gestalten.
Das alles bedeutet jedoch nicht, dass die Türkei ihr Interesse am Balkan verloren hat. Im Gegenteil: Die Türkei dürfte künftig ihre Anstrengungen intensivieren, um die Zukunft der Region zu gestalten.
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Wieso taucht in dem Artikel nicht Saudi-Arabien auf?
Die Saudis greifen zunehmend auf den Balkan zu, insbesondere in Bosnien-Herzegowina.
Man kann dies ab und an in österreichischen Zeitungen nachlesen, etwa im Standard.
Die wahhabitischen Saudis finanzieren Moscheen und verteilen kostenlos den wahhabitischen Koran.
Übrigens auch in Deutschland.
Aber das interessiert unsere Politiker ja nicht.
"Der Islam gehört zu Deutschland!"
Um es mit Frau Hildegard Heim zu sagen:
"Am A.... die Waldfee!"
Schönes Wochenende.
Es muss natürlich Heidemarie Heim heißen - sorry.
Die Hildegard ist ja bekanntlich in Bingen.
Die geopolitischen und strategischen Interessen auf dem Balkan sind vielfältig und für Außenstehende kaum zu überblicken. In dem Bericht wurden die Interessen Russlands in dieser Region und die Nähe zu Serbien nur am Rande erwähnt. Russland hat kein Interesse an der Machtausweitung des Islam, wohl aber daran, eine Hinwendung Serbiens an die EU zu verhindern.
Auch das erklärt etwas das Dilemma, in dem Erdogan sich befindet. Auf der einen Seite möchte er das groß-osmanische Reich wieder errichten, und auf der anderen Seite möchte er eine Annäherung an Russland. Dagegen stehen die Interessen der NATO, deren Mitglied die Türkei immer noch ist. Man kann gespannt sein, wie diese verfahrene Situation in dem Vielvölkerstaat sich lösen soll.