- Ägyptens langer Abstieg
Das Land am Nil galt noch vor ein paar Jahren als wichtige Regionalmacht und Anführer der arabischen Welt. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben. Unter dem derzeitigen Präsidenten al-Sissi hat sich Ägyptens Abstieg sogar beschleunigt.
Im Juni 2009 hielt US-Präsident Barack Obama eine Rede an die muslimische Welt, in der er einen Neuanfang in den arabisch-amerikanischen Beziehungen vorschlug. Er entschied sich, seine potenziell bahnbrechende Ansprache an der Kairoer Universität in Ägypten zu halten, um die historische Rolle des Landes in der muslimischen Welt zu würdigen. (Spätere Entwicklungen, darunter die arabischen Aufstände und der Aufstieg des Islamischen Staates, haben die Hoffnungen auf einen Wandel auf beiden Seiten zunichte gemacht.)
Ägyptens Bedeutung als regionale Führungsmacht ist jedoch seit Jahren rückläufig. Beginnend in den frühen 1970er-Jahren, während der Präsidentschaft von Anwar Sadat, richtete sich der Fokus des Landes zunehmend auf sich selbst. Die Bekämpfung der politischen Opposition und der islamistischen Militanz im eigenen Land hatte Vorrang vor der Machtausweitung nach außen. Seit dem Putsch von Abdel-Fattah al-Sissi im Jahr 2013, der den den Muslimbrüdern nahestehenden Präsidenten Mohamed Morsi stürzte, ist Ägyptens Außenpolitik ein Spiegelbild seiner inneren Angelegenheiten. Länder, die die Muslimbruderschaft unterstützen, wie die Türkei und Katar, werden als ideologische Gegner betrachtet, während diejenigen, die sich dem politischen Islam widersetzen, wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, als taktische Verbündete angesehen werden.
Britische Besatzung
Die britische Besetzung Ägyptens im Jahr 1882 schnitt das Land von seinen traditionellen außenpolitischen Schauplätzen, insbesondere in Westasien, ab. Unter der britischen Besatzung entwickelte sich der ägyptische Nationalismus anders als die nationalistischen Bewegungen in Westasien und Nordafrika. Die meisten ägyptischen Staatsoberhäupter versuchten nicht, ihre Macht über Ägyptens Grenzen hinaus auszudehnen, obwohl es zwei bemerkenswerte Ausnahmen gab: König Farouk und Präsident Gamal Abdel Nasser.
Farouk war ein Nachfahre von Muhammad Ali, der 1805 die Macht in Ägypten ergriffen und ein arabisches Königreich anstrebt hatte. Er entschied sich, Ägypten gegen den Willen seiner eigenen Regierung und Armeeführung in den arabisch-israelischen Krieg von 1948 zu führen. Im Jahr 1950 sperrte er die Meerenge von Tiran für die israelische Schifffahrt, und im folgenden Jahr spielte er eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung des Gemeinsamen Arabischen Verteidigungsabkommens, um Israel unter Druck zu setzen.
Nasser hingegen hatte, anders als die meisten Ägypter, ausgeprägte arabische Wurzeln und stammte aus dem Gouvernement Asyut in Oberägypten. Er unterstützte militärisch und wirtschaftlich den algerischen Unabhängigkeitskrieg in den Jahren 1954–62. Im Jahr 1957 schickte er Truppen nach Syrien, um das Land gegen eine mögliche türkische Invasion zu verteidigen. Im Jahr 1960 entsandte er Armeeeinheiten nach Kuwait, nachdem der irakische Präsident Abdul Karim Qasim mit der Besetzung des Landes gedroht hatte. Zwei Jahre später beorderte er dann ein Drittel der ägyptischen Armee in den Jemen, um das junge republikanische Regime zu verteidigen, nachdem ein Putsch den König gestürzt hatte. Selbst nach Ägyptens vernichtender Niederlage im Sechstagekrieg 1967 blieb Nasser eine mächtige Figur in der arabischen Welt. Obwohl viele arabische Führer ihn als Feind betrachteten, sah die große Mehrheit der arabischen Öffentlichkeit in ihm den unangefochtenen Verfechter des arabischen Nationalismus.
Sadats Frieden mit Israel
Seit Nassers Tod im Jahr 1970 sind Ägyptens regionale Ambitionen jedoch begrenzt. Die ägyptischen Präsidenten haben erkannt, dass der schlechte Zustand der Wirtschaft des Landes es daran hindert, eine führende Rolle in der regionalen Politik zu spielen. Anwar Sadat, der Nachfolger Nassers, lehnte es ab, auch nur einen einzigen ägyptischen Soldaten in den Kampf für die Araber zu schicken. Während seiner Präsidentschaft wurde er von den meisten arabischen Führern boykottiert, weil er einseitig Frieden mit Israel schloss.
Hosni Mubarak, der 1981 nach Sadats Ermordung Präsident wurde, schickte 1990 ägyptische Truppen nach Saudi-Arabien als Teil der US-Koalition zur Befreiung Kuwaits von der irakischen Besatzung. Aber der Grund für diesen Schritt war nicht die Absicht, Ägypten wieder als eine regionale Macht aufleben zu lassen. Es ging Mubarak vielmehr darum, den Irak daran zu hindern, selbst eine zu werden.
Der derzeitige Präsident Abdel-Fattah al-Sissi hat sich größtenteils an diese Linie gehalten. Seit er Präsident ist, beschäftigt er sich mit Fragen der inneren Sicherheit. Als einziger ägyptischer Präsident, der seit 1952 mit einem Putsch die Macht ergriffen hat, war es sein Hauptanliegen, die Kontrolle zu behalten. Und nicht, Ägyptens Führungsposition in der arabischen Welt wiederherzustellen. Sein Fokus lag auf dem Schutz der ägyptischen Grenzen vor einsickernden Kämpfern und Waffen, die zur Unterstützung der einheimischen militanten Bewegungen verwendet werden könnten.
Sorgen wegen Saudi-Arabien
Al-Sissi hat keine regionalen Machtambitionen. Er möchte jedoch nicht, dass die aggressive Außenpolitik der saudischen und emiratischen Kronprinzen die historische Rolle Ägyptens in der Region überschattet. Er ist sehr besorgt über die Friedensabkommen der Golfstaaten mit Israel, die den Bedarf an Ägyptens regionaler Vermittlung zu begrenzen drohen. Kairo erlangte seinen Ruf als regionaler Friedensvermittler nach der Madrider Friedenskonferenz 1991. Aber seither haben sich die Palästinenser an die Türkei gewandt, um eine Versöhnung zwischen Hamas und Fatah zu ermöglichen, während die Hamas Katars Hilfe gesucht hat, um Israels Blockade des Gazastreifens zu lockern.
Auch wirtschaftlich ist Ägypten zunehmend isoliert. Im vergangenen Oktober unterzeichnete die Israel Pipeline Company ein Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten wegen des Transports von Öl aus Abu Dhabi nach Europa über die Eilat-Ashkelon-Pipeline. Das Abkommen reduziert effektiv die Öltransporte über den Suezkanal um 17 Prozent und gefährdet Ägyptens Sumed-Ölpipeline vom Golf von Suez nach Alexandria.
Ägypten nahm eine relativ proaktive und pro-palästinensische Haltung zu Israels jüngster Operation in Gaza ein. (Im Vergleich dazu war es während ähnlicher Gewaltausbrüche in 2009 und 2014 relativ passiv.) Im Jahr 2014 setzte Ägypten die Hamas unter Druck, Israels Bedingungen für einen Waffenstillstand zu akzeptieren. Aber dieses Mal vermittelte es ein Abkommen, das ohne Vorbedingungen in Kraft trat. Es stellte Israel als den Aggressor in dem Konflikt dar, und ein prominenter ägyptischer islamischer Gelehrter rief die Muslime dazu auf, Jerusalem einzunehmen und Israels Siedlungsbau im Westjordanland zu stoppen.
Dennoch dankte der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu al-Sissi für die Ermöglichung des Waffenstillstandes. Was die Hamas betrifft, so war sie skeptisch gegenüber Ägyptens Angebot von 500 Millionen Dollar für den Wiederaufbau des Gazastreifens, weil sie wusste, dass ägyptische Firmen, die von den Streitkräften geführt werden, die Wiederaufbaubemühungen leiten und dass diese Bemühungen den Einfluss Ägyptens auf den Gazastreifen erhöhen würden.
Schönfärberei in den Medien
Die von der ägyptischen Regierung kontrollierten Medien bezeichneten die Bemühungen Kairos, ein Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln, als Anbruch einer goldenen Ära in der ägyptischen Außenpolitik. Die Medien lobten das Verhandlungsgeschick der ägyptischen Beamten und ignorierten die Tatsache, dass US-Präsident Biden die entscheidende Rolle bei der Beendigung der Kämpfe spielte. Die Behauptung, dass Ägypten seine Relevanz als internationaler Friedensvermittler wiederhergestellt hat, klingt hohl, weil der Gazastreifen in Ägypten oft eher als innenpolitische Angelegenheit betrachtet wird. (Kairo hatte den Gazastreifen von 1948 bis 1967 besetzt.) Ohnehin macht eine erfolgreiche Vermittlung ein Land noch längst nicht zu einer regionalen Macht.
Ägyptische Medien haben al-Sissis Erfolge übertrieben. Sie behaupteten, dass seine energische Diplomatie die Palästinenser vor der israelischen Aggression geschützt hätte. Sie verbreiteten auch Propaganda über seinen Militärputsch und vermittelten den Eindruck, es sei eine Volksrevolution gewesen, die Ägypten vor der Muslimbruderschaft gerettet habe. Die Medien verherrlichten auch Ägyptens massive Truppenmobilisierung im Nordwesten – von der sie behaupteten, sie hätte die Libyen-Krise zu Ägyptens Vorteil gelöst.
Das Militär als Wirtschaftsmacht
Ägypten hat unzählige andere Probleme, mit denen es zu kämpfen hat. Es hat eine schwache Wirtschaft, hohe Schulden, ein schlechtes Bildungssystem und hohe Arbeitslosigkeit. Nach Angaben der Weltbank lag das ägyptische Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 2019 bei umgerechnet 3.000 US-Dollar – im Vergleich mit 8.000 Dollar in der Region Naher Osten und Nordafrika. Obwohl die Realeinkommen in den vergangenen Jahren bescheiden gewachsen sind, sind sie langfristig nicht nachhaltig, da Ägyptens Wirtschaftsreformen nur oberflächlich sind. Die ägyptische Wirtschaft stützt sich stark auf den öffentlichen Sektor, angeführt von den Streitkräften. Der Internationale Währungsfonds hat der Regierung deshalb dringend empfohlen, den Privatsektor zu fördern, aber stattdessen hat sie die Beteiligung des Militärs an der Wirtschaft erhöht.
Der Militärputsch von 1952 beendete ein Jahrhundert der marktwirtschaftlichen Entwicklung. Nassers Verstaatlichung der Wirtschaft hatte verheerende Folgen für Ägyptens Wirtschaftswachstum. Als Sadat Frieden mit Israel schloss, kürzte er den Militärhaushalt, erlaubte aber den Streitkräften, eine aktive Rolle in der Wirtschaft zu spielen, um Einnahmen zu generieren. Unter Mubarak dominierte das Militär faktisch die Wirtschaft – ein Trend, der sich unter al-Sissi sogar noch verstärkte, weil dieser auf die Loyalität hoher Armeeoffiziere angewiesen ist, die sich jedem Privatisierungsversuch widersetzen.
Ägypten ist auch mit einem Aufstand von geringer Intensität im nördlichen Sinai sowie einem sich verschärfenden Wasserstreit mit Äthiopien über den „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ konfrontiert. (Das Projekt, das sich noch im Bau befindet, hat Ägyptens Produktion von Grundnahrungsmitteln – Weizen, Reis und Zucker – bereits um mehr als 25 Prozent verringert.) Al-Sissi glaubt, dass der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed versucht, sein Land wirtschaftlich auf Vordermann zu bringen und Ägyptens Rolle in der Region zu marginalisieren.
Kampf um das Wasser
Ein Land, dessen Wirtschaft vom Militär kontrolliert wird und das mit einer existenziellen Bedrohung seiner Wasserversorgung konfrontiert ist, kann kaum erwarten, eine Regionalmacht zu werden. Al-Sissi hat Ägyptens Fokus vom Nahen Osten auf Afrika verlagert, zum Teil wegen des Streits um den Staudamm, aber er bleibt zu sehr mit der existenziellen Bedrohung aus dem Süden beschäftigt, um sich um die Wiederherstellung von Ägyptens regionalem Machtstatus kümmern zu können.
Ägypten genießt geostrategische Vorteile, die es dazu befähigen würden, eine führende regionale Rolle zu spielen – zumal es eine der wichtigsten Seerouten der Welt kontrolliert. Es ist zudem das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt mit der homogensten Bevölkerung. Dennoch bleibt Ägypten selbstbezüglich, und die Menschen haben wenig Interesse an nicht-ägyptischen Angelegenheiten. In Anbetracht der wirtschaftlichen Lage des Landes ist es unwahrscheinlich, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird.
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Die Handlungsfähigkeit Ägyptens wird in den nächsten Jahren durch den Konflikt mit Äthiopien beeinträchtigt sein. Momentan spielt die Türkei zusammen mit Katar eine immer wichtigere Rolle. Der neue israelische MP ist nicht zu beneiden, die Sicherheitslage für sein Land in Balance zu halten.
wg. Überbevölkerung irgendwann kollabieren wird. Äthiopien die größer ist (Land/Bevölkerung); hat strategisch, nichts vom Ägypten zu befürchten. Denn dazwischen liegt Sudan, den die Ägyptens Armee einfach nicht in einem Tagesmarsch durchqueren kann. Abgesehen davon, Äthiopien braucht ebenso große Wassermengen, um eigene Bevölkerung zu ernähren. So gesehen, hat Ägypten ganz schlechte Karten.