- „Es kommt auch darauf an, wie die Menschen sterben“
Müssen Infizierte unbedingt ins Krankenhaus? Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio erklärt, warum viele Covid-Patienten im Pflegeheim bessere Überlebenschancen haben - und warum die Anzahl der Todesfälle bei der Frage, wie wir die Krise bewältigen, nicht das einzige Kriterium sein kann.
Gian Domenico Borasio ist ein deutsch-italienischer Arzt und Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne. Sein Buch „Über das Sterben“ wurde 2011 zum Bestseller und ist in acht Sprachen erschienen. Zuletzt erschien von ihm „Selbst bestimmt sterben. Was es bedeutet. Was uns daran hindert. Wie wir es erreichen können.“
Herr Professor Borasio, Sie plädieren dafür, sich genau zu überlegen, ob man Covid-19-Patienten aus den Pflegeheimen ins Krankenhaus einweist. Was ist denn daran so falsch, kranke Patienten in die Nothilfe zu bringen?
Der Wunsch, alle Menschen unabhängig von ihrem Alter und ihrem Gesundheitszustand retten zu wollen, ist zunächst einmal verständlich. Aber wir wissen aus Daten, die lange vor der Covid-Zeit erhoben wurden, dass es in der Regel ein Fehler ist, einen hochbetagten Pflegeheimpatienten mit fortgeschrittener Demenz und einer neu aufgetretenen Lungenentzündung ins Krankenhaus zu bringen. Bei Covid-19-Patienten ist dieser Fehler noch gravierender, weil man damit weitere Menschen gefährdet.
Aber verbessert eine Krankenhauseinweisung nicht in jedem Fall die Überlebenschancen der Patienten?
Im Falle von dementen Hochbetagten leider nicht. Demenzpatienten werden durch den Umgebungswechsel destabilisiert, ihre Verwirrtheit nimmt zu und sie sind dadurch stärker gefährdet, als wenn sie in ihrer vertrauten Umgebung geblieben wären. Die Zahlen aus der Zeit vor Covid-19 zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Lungenentzündung zu überleben, für Pflegeheimpatienten deutlich größer ist, wenn sie in ihrem Heim bleiben. Die Entscheidung, Pflegeheimpatienten mit fortgeschrittener Demenz nicht ins Krankenhaus einzuweisen, ist also schlichtweg das Gebot einer guten medizinischen Betreuung. Gleichzeitig müssen allerdings in den Heimen die Voraussetzungen geschaffen werden, um andere Heimbewohner und das Personal vor Ansteckung zu schützen. Die Versorgung mit ausreichend Schutzmaterial, die Testung in Verdachtsfällen und die Einführung organisatorischer Maßnahmen zur Infektionskontrolle sollten in Pflegeheimen in gleicher Weise gewährleistet sein wie in Krankenhäusern.
Gerade die Situation in Pflegeheimen ist ja oft dramatisch, wenn es dort zu Infektionen kommt. Welche Maßnahmen haben Sie denn im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie in Ihrem Kanton getroffen?
In Lausanne haben wir seit 2016 eine Professur für geriatrische Palliativmedizin. Dadurch war es von Anfang der Pandemie an möglich, ein gemeinsames palliativ-geriatrisches Team zu bilden. Wir sind aktiv auf die über 50 Alten- und Pflegeheime in der Region zugegangen und haben sie einzeln beraten. Wir haben ihnen Medikationsprotokolle zur Verfügung gestellt, welche beschreiben, wie sie die Atemnot von Covid-19-Patienten lindern können, ohne sie ins Krankenhaus zu schicken. Und wir haben erreicht, dass das Besuchsverbot bei sterbenden Patienten aufgehoben wird. Man spricht die ganze Zeit von den Covid-19-Patienten, aber man vergisst das unermessliche Leid der Familien, die ihre sterbenden Verwandten gar nicht mehr besuchen können.
Insbesondere dann, wenn sie intensivmedizinisch behandelt werden …
In diesem Fall hat man ja zumindest noch die Hoffnung, dass sie überleben. Aber auch hier gibt es in unserem Klinikum die Möglichkeit von Ausnahmeregelungen, um noch einen Besuch der Verwandten bei einem sterbenden Patienten zu ermöglichen. Es wurde auch eine Hotline eingerichtet, wo die Familien psychologische Unterstützung bekommen können. Mitarbeiter der kantonalen Kriseninterventionsteams rufen inzwischen aktiv die Familien von Covid-19-Verstorbenen an, um zu schauen, ob es Unterstützungsbedarf gibt. Und die Kirchen haben eine ökumenische Hotline eingerichtet für die spirituelle Unterstützung der Betroffenen. Das sind wichtige Maßnahmen, um die Kollateralschäden von Covid-19 abzufedern und gute Bedingungen für die Rückkehr zur Normalität zu schaffen.
Ein wichtiges Element für die Frage, ob ein Mensch in die Intensivbehandlung geht oder palliativ behandelt wird, ist ja die Patientenverfügung. Selbst in Pflegeheimen haben aber nur 30 Prozent der Menschen in Deutschland eine solche Verfügung. Wie soll der Arzt damit umgehen, wenn jemand kommt, den man nicht mehr fragen kann und der keine Patientenverfügung hat?
Die erste Frage, die sich Ärzte vor jeder Behandlung, und auch vor jeder Diagnostik, stellen müssen, ist nicht diejenige nach dem Patientenwillen, sondern die nach der medizinischen Indikation: macht diese Therapie überhaupt medizinisch Sinn oder bringt sie dem Patienten nur Leiden, aber keinen erwartbaren Nutzen? In letzterem Fall darf der Arzt die Behandlung nicht durchführen, egal, ob der Patient oder seine Verwandten sie darum bitten. Leider werden heutzutage Patientenverfügungen vorwiegend dazu verwendet, nicht indizierte Übertherapien am Lebensende zu verhindern. Nun ist aber Übertherapie ein ärztlicher Kunstfehler, und eine Gesellschaft schützt sich vor solchen Fehlern nicht dadurch, dass sie Patientenverfügungen propagiert, sondern dadurch, dass sie Ärzte besser ausbildet.
Bessere Ärzte bedeutet in diesem Fall was?
Das sind Ärzte, denen klar ist, dass die erste Entscheidung bei ihnen liegt, auf der Basis der medizinischen Indikation. Und dieser Verantwortung müssen sie sich auch stellen. Wenn es keine medizinische Indikation für eine Krankenhauseinweisung gibt, dann gibt es auch keinen Grund, die Angehörigen zu fragen: Sollen wir den Patienten ins Krankenhaus bringen oder nicht? Denn damit drängt man ihnen ohne Not die psychische Bürde einer Entscheidung auf, mit der sie hinterher leben müssen – was für manche Menschen eine lebenslange seelische Belastung bedeuten kann. Stattdessen sollte der Arzt einfühlsam und empathisch erklären, warum eine Krankenhauseinweisung den Patienten angesichts der Gesamtsituation mehr schaden als nützen würde, und dass es seine Entscheidung als Arzt ist, dies nicht zu veranlassen. Ein solches Vorgehen kann die Angehörigen psychisch entlasten und die Gefahr von pathologischen Trauerverläufen mindern.
Eine massive Ausweitung der Patientenverfügung wäre demnach also auch keine Lösung …
Auf Covid-19-Fälle sind die meisten derzeit existierenden Patientenverfügungen ohnehin nicht anwendbar. Denn es geht dort in der Regel um unheilbare, zum Tode führende Erkrankungen – und Covid-19 ist ja nicht unheilbar. Menschen, die eine Beatmung im Falle einer Covid-19-Erkrankung für sich ausschließen möchten, sollten dies daher explizit als Zusatz auf ihrer Patientenverfügung vermerken.
Sind in Ihrem Kanton die meisten Covid-19-Infizierten in Pflegeheimen nach der Diagnose tatsächlich auch dort geblieben?
Es gab in Lausanne einzelne Fälle, bei denen Patienten trotz fehlender Indikation ins Klinikum gebracht wurden – diese sind leider auch alle gestorben. Ansonsten konnten wir im Dialog mit den Pflegeheimen und den betreuenden Hausärzten unnötige Krankenhauseinweisungen weitestgehend verhindern. Wir haben viele Patienten gesehen, die in den Pflegeheimen trotz schwerer Symptome und hohen Alters dank guter Symptomkontrolle und exzellenter Pflege überlebt haben. Und die erwähnten Daten aus der Vor-Covid-Zeit lassen vermuten: Die Wahrscheinlichkeit, eine Covid-19-Erkrankung zu überleben, ist für die meisten Pflegeheimpatienten deutlich höher, wenn sie bleiben, wo sie sind. Dafür ist es allerdings notwendig, dass die Mitarbeiter in den Pflegeheimen so gut geschützt und fachlich unterstützt werden, dass sie sich sowohl bezüglich ihrer eigenen Gesundheit als auch bezüglich der Behandlung der ihnen anvertrauten Bewohner sicher fühlen.
Von Politikern und Medien wird ja sehr genau auf die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen geschaut - daran misst man, wie erfolgreich ein Land im Kampf gegen die Pandemie ist. Ist das richtig?
Diese Zahl ist zusammen mit den Krankenhauseinweisungen wegen Covid-19 eine der aussagekräftigsten epidemiologischen Zahlen, die wir haben. Sie ist extrem wichtig, um den Verlauf der Krise und die Notwendigkeiten weiteren Maßnahmen zu beurteilen. Die Zahl der Infizierten beinhaltet bekanntlich eine hohe Dunkelziffer, weil nicht jeder getestet wurde. Auf der anderen Seite gilt aber: Auch bei bester Medizin ist nicht jeder durch Covid-19 verursachte Tod zu verhindern. Deshalb sollte man bei der Rückschau auf die Krise nicht nur darauf blicken, wie viele Menschen gestorben sind, sondern auch, wie diese Menschen gestorben sind.
Das müssen Sie erklären …
Für die Patienten und ihre Familien ist es ganz wesentlich, ob die Menschen in ihrer Sterbephase palliativmedizinisch gut versorgt waren oder ob sie an Atemnot gelitten haben. Konnten ihre Verwandten sie besuchen? Waren ihre Familien nach dem Tod der Patienten gut betreut? Wurde eine unnötige Einweisung ins Krankenhaus verhindert? Es ist durchaus ein ärztlicher Erfolg, wenn man einem Menschen einen qualvollen Todesverlauf auf einer Intensivstation bei fehlender Aussicht auf Besserung ersparen kann. Dass ein Patient stirbt, ist nicht unbedingt eine Niederlage für das Gesundheitssystem. Es kann aber sehr wohl eine schwere Niederlage sein, wie ein Patient stirbt.
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Vielen Dank für diese Einblicke! Ein schweres Thema werter Herr Gathmann! Nichts desto trotz eines, mit dem wir uns alle einmal beschäftigen müssen und sollten. Die Erkenntnisse Prof. Borasios so wichtig und richtig sie sind, bei uns leider in den meisten Fällen fern der Alltagsrealität deutscher Pflegebereiche. Im Zuge der Corona-Krise hat man u.a. nämlich einen dafür wichtigen Aktivposten sozusagen ausgeschaltet in etlichen Pflegeheimen. Nämlich die für die individuelle Behandlung zuständigen Hausärzte der Heimbewohner, denen vielfach der sonst regelmäßige Hausbesuch ihres ihnen gut bekannten langjährigen Patienten nun verwehrt bleibt. Man hat sich in vielen Pflegeeinrichtungen darauf verständigt, das nur 1-2 Fachkollegen die ärztliche Betreuung aller Bewohner übernehmen, um Infektionen von außen zu minimieren. Diese werden dann mitunter Entscheidungen treffen bzw. verantworten müssen, die der vertraute Arzt wahrscheinlich so nicht getroffen hätte aus näherer Kenntnis heraus.MfG
Im Zuge einer TV-Berichterstattung über die Quarantänestation einer deutschen Klinik, kam auch ein persönlich sichtlich angegriffener leitender Mediziner zu Wort, der die Schwierigkeiten der Behandlung und den Umgang mit demenziellen Patienten anschaulich schilderte. Gerade noch nicht intensivmedizinisch behandelte Patienten in der für sie völlig fremden und beängstigenden Umgebung, sind u.U. noch derart mobil, das eine Sedierung plus freiheitseinschränkende Maßnahmen wie Fixierungen, normal nur mit richterlicher Anordnung, unumgänglich werden. Einer seiner
Patienten schaffte es von der Quarantäne-Station zu Fuß über mehrere! Normal-Stationen bis zum Empfang bevor er von den Männern in Raumanzügen eingefangen und zurück gebracht werden konnte. Man stelle sich vor man muss mehrere solcher Patienten auf einer sowieso schon am Limit arbeitenden Station umsorgen. Prof. Borasio sagt auch deshalb zurecht, das diese Patienten besser in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben und versorgt werden!
Vielen Dank, Herr Gathmann, ganz wichtiges Interview. Ob Beatmung die richtige Wahl ist, wird sich noch herausstellen.
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-covid-19-tote-1.4884154
Danke für diesen schon längst überfälligen Artikel.
Ein sehr wichtiger Artikel. Nicht nur wegen Corona, sondern überhaupt. Alte, kranke Menschen mit brutaler Gewalt am Leben zu erhalten ist menschenverachtend. Unsere Kultur hat vergessen, dass der Tod zum Leben gehört. (Besonders die Aussage über den Entscheidungszwang der Angehörigen, die mit diesem u.U. maßlos überfordert sind, ist sehr wichtig!)
Dieser Artikel erinnert uns daran. Vielen Dank!
und nicht um Geld oder Zahlen oder Gesundheitsysteme.
Ein erstklassiger Artikel. Solche Gedanken und Konsequenzen, die sich generell aus der Palleativmedinzin ergeben und in dem Zusammenhang speziell jetzt während der Corona Zeit erheblich in den Vorfdergrund gerückt sind, hätte man mit einer ausreichenden und gescheiten Pandemievorplanung längst berücksichtigen können,
Neben politische Entscheidungen, sind es vor allem die persönlichen Entscheidungen, die Betroffene selbst, wenn es sie es noch können, Angehörige und natürlich im medizinischen Vorfeld durch den Arzt entschieden werden müssen.
"Dass ein Patient stirbt, ist nicht unbedingt eine Niederlage für das Gesundheitssystem. Es kann aber sehr wohl eine schwere Niederlage sein, wie ein Patient stirbt."
Eine wirklich wahre Aussage. Die Würde des Menschen ist unantastbar, das gilt gerade auch beim Übergang in den Tod. Richtiger Schutz für alle im Pflegeheim, würde manches Schicksal erträglicher und menschlicher machen. Danke
Es scheint offenbar noch viele zu geben die denken,lasst die Alten in den Pflegeheimen an Corona Sterben.Das die Schweiz schon immer dazu gut war Alte und Kranke sterben zu lassen..Wenn man mögliche infizierte als Besucher in die Pflegeheime lässt dann ist das Aktive Sterbehilfe.
Werter Herr Kessler! Da Sie eine Überschrift von mir verwenden für Ihren Kommentar, fühle ich mich angesprochen. Was wohl auch Ihr Ansinnen war. Das Sie die aktive Sterbehilfe der Schweizer ablehnen ist offensichtlich und habe ich nicht zu kommentieren, geschweige denn zu beurteilen. Nur scheinen Sie der Meinung zu sein, das jede Überlegung und das Abwägen, in welcher Einrichtung ein schwer bis schwerst pflegebedürftiger Mensch mit meist multimorbiden Risiken besser gepflegt und medikamentös versorgt werden kann, nicht angebracht sei. Ich kann Ihnen versichern, das ich meine oben stehenden Kommentare mit dem Wissen langjähriger Berufstätigkeit in den verschiedenen medizinischen Bereichen verfasst habe, sowie was auch das Thema würdiges Altern, Pflegebedürftigkeit und selbst bestimmtes Sterben betrifft aus eigener persönlicher Erfahrung spreche. Bleiben Sie bitte gesund und alles Gute für Sie! MfG