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Diyar se/Wikimedia

Türkei - Dieser Mann ist Erdogans Staatsfeind Nummer eins

Der Korruptionsskandal um den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan hängt vor allem mit einem Mann zusammen: dessen Widersacher Fethullah Gülen. Der islamische Imam hat mit seinen Jüngern den Justiz- und Polizeiapparat unterwandert

Autoreninfo

Frank Nordhausen schreibt seit 20 Jahren über Sekten. Zuletzt erschien von ihm: „Scientology. Wie der Sekten­konzern die Welt erobern will“

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Es kommt nicht oft vor, dass Nachhilfeschulen eine Schlüsselrolle in der Politik spielen. Doch als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Ende November 2013 ankündigte, alle rund 4000 Repetitorien im Land, die Dershanes, in Kürze schließen zu lassen, tönte dies wie Donnerhall. Sein Wort wurde in der Türkei verstanden, wie es gemeint war – als Kriegserklärung an einen Mann, der Tausende Kilometer weit entfernt im ländlichen Pennsylvania lebt: Fethullah Gülen. Von dort aus dirigiert der islamische Prediger ein weltweites Imperium von Nachhilfeschulen. Der 72-jährige frühere Imam lebt seit 1999 im amerikanischen Exil und verkehrt per Boten mit seiner Millionen zählenden Gemeinde. Im aktuellen innenpolitischen Konflikt ist Gülen ein mächtiger Gegenspieler des Premiers.

Erdogans Angriff auf die Dershanes, von denen etwa 1000 mit dem Prediger verbunden sind, traf die Gülen-Bewegung schwer. Nimmt man ihr die Schulen, nimmt man ihr die Möglichkeit, mit Millionen Kindern zu arbeiten und rund 100.000 Menschen zu beschäftigen, aber auch eine wichtige Einnahmequelle. „Für uns wäre das die Katastrophe schlechthin“, sagt Kamil Bayar, Leiter der „Anafen“-Dershane im Istanbuler Kleineleuteviertel Sirinevler auf der europäischen Stadtseite. Sein Institut belegt fünf Etagen in einem unscheinbaren Zweckbau.

„Baut Schulen, keine Moscheen!“


Fast die Hälfte aller türkischen Schüler benötige die Nachhilfe, um eine Chance zu haben, nach der achten Klasse aufs Gymnasium zu wechseln. „Sie zielen auf Gülen, aber sie treffen die Kinder.“ Man halte sich streng an das staatliche Curriculum, erklärt der Schulleiter, der aber einräumt, dass die Kinder außerhalb des Unterrichts über die Lehrer mit dem Gedankengut Gülens in Verbindung kommen.

„Baut Schulen, keine Moscheen!“, lautete Gülens tausendfach verbreitetes Credo, mit dem er über die Landesgrenzen der Türkei hinaus bekannt wurde. Der charismatische Redner gehörte zu jenen Köpfen im Land, die der von Atatürk zurückgedrängten Religion wieder zu einem stärkeren Platz im öffentlichen Leben verhelfen wollten. Während aber die Bewegung des Islamisten Necmettin Erbakan, des politischen Ziehvaters Erdogans, auf die Wahlurne setzte, lehnte es Gülen ab, sich direkt in die Politik einzumischen. Er wollte die Gesellschaft nachhaltig von innen verändern. Dafür schickte er seine Jünger nach dem Militärputsch von 1980 – den er ausdrücklich begrüßte – auf den Marsch durch die Institutionen. Der Weg an die Spitze der Verwaltungen und Unternehmen sollte über die Gymnasien und Universitäten führen.

Seine türkischen Anhänger fallen durch ungewöhnliche geistige Flexibilität auf; viele haben trotz ihrer Herkunft aus kleinen Verhältnissen studiert. Sie sind tatsächlich in hoher Zahl in den Justiz- und höheren Polizeiapparat eingesickert und haben sich mithilfe ihres Netzwerks dort ebenso etabliert wie in Unternehmen. Die Basis dieses unsichtbaren „Staates im Staate“, wie Erdogan das Geflecht jetzt nennt, legte Gülen mit seinen Der­shanes. Der Prediger wollte, dass es auch Leuten mit wenig Geld und einem islamischen Hintergrund möglich sein sollte, eine höhere Bildung zu erlangen.

Wie sich Erdogan an Gülen rächt


Ohne Gülen und dessen Anhänger im türkischen Justizapparat wäre es Erdogan bedeutend schwerer gefallen, die politische Macht des Militärs zu brechen. Jahrelang unterstützten die Gülen-Leute Erdogans Politik. Ihre Differenzen wurden erstmals öffentlich, als Gülen-nahe Staatsanwälte 2012 die geheimen Friedensgespräche des Staates mit der Kurdenguerilla PKK zu sabotieren versuchten. Doch als Erdogan das Schulimperium der Gülenisten attackierte, hatte er offenbar nicht damit gerechnet, auf eine dermaßen massive Gegenwehr zu treffen. Wie sehr sich Gülen bedroht fühlt, zeigt seine Videobotschaft Mitte Dezember, als er den Erdogan-Leuten „Feuer auf ihre Häuser“ wünschte.

Die Korruptionsermittlungen und die Verhaftung von mehr als 50 Verdächtigen aus dem inneren Kreis der Macht traf Erdogan politisch dort, wo es wehtut. Der Premier rächte sich: Mehr als 1000 Polizeibeamte wurden suspendiert, degradiert, entlassen; die Justiz neu geordnet; Prozesse gegen die „Verräter“ angedroht.

Doch Gülens Verbündete in der Polizei und der Staatsanwaltschaft haben bereits eine Reihe verheerender Details über Bestechung und illegale Geschäfte offengelegt, und Insider sagen, das sei längst noch nicht alles.

Warum Erdogan seine Offensive kurz vor wichtigen Kommunalwahlen am 30. März startete, darüber rätseln politische Beobachter in der Türkei noch immer. Vielleicht fühlte er sich einfach stark genug, die als Konkurrenz empfundene Gülen-Bewegung anzugreifen, nachdem er die Gezi-Protestbewegung vorerst besiegt hatte. Wie weit aber werden die Gülenisten gehen? Wollen sie den Rücktritt Erdogans erzwingen? Am Ende werden wohl beide Seiten beschädigt aus der Schlacht ziehen.

 

 

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Anton Stern | Sa., 25. Juni 2016 - 15:20

Sind eigentlich Gülen und/oder Erdogan Scientologen?