Ankunft der Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am 05.10.1989 im Bahnhof Hof (Bayern).
Zug in die Freiheit: Als Diplomat begleitete Wolfgang Ischinger die DDR-Bürger in die BRD / picture alliance

30 Jahre Prager Botschaft - „Freiheit! Freiheit!” Ich brüllte mit. Unvergesslich.

Vor 30 Jahren reisten 4.000 DDR-Bürger aus der Prager Botschaft mit dem Zug in die BRD. Wolfgang Ischinger betreute damals die Menschen auf dem Weg in die Zukunft. „Das emotionalste Erlebnis in 40 Jahren diplomatischer Dienst“, schreibt er

Autoreninfo

Wolfgang Ischinger war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter in Washington und London. Er ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und ist heute unter anderem Co-Vorsitzender der Euro-Atlantic Security Initiative des Carnegie Endowme

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Diplomatischer Alltag kann das Leben verändern Es war Ende September 1989. Über Ungarn waren schon Tausende Ostdeutsche gen Westen geflohen, zunächst querfeldein, ab dem 11. September dann offiziell über die ungarisch-österreichische Grenze. Als das Gerücht umging, Honecker würde demnächst die Grenze zwischen DDR und Tschechoslowakei schließen, suchten immer mehr verzweifelte DDR-Bürger Zuflucht in der Botschaft Westdeutschlands in Prag – solange es noch ging. Die Botschaft war schnell voll. Tausende von Menschen arrangierten sich auf engstem Raum, mit wenigen Toiletten. Eine Suppenküche des Roten Kreuzes versorgte die Menschen mit dem Nötigsten. Es war für die Jahreszeit schon sehr kalt. Die meisten mussten in Zelten im Freien nächtigen.

Regen hatte den Garten in eine Schlammwüste verwandelt. Schwangere und kleine Kinder wurden im Heizungskeller der Botschaft untergebracht, wo es wärmer war. Es waren unerträgliche Zustände. Doch die Menschen harrten aus. Auf diplomatischer Ebene wurde in mühsamen Gesprächen über Auswege für die Flüchtlinge verhandelt. Der Wunsch Außenminister Genschers, den Flüchtlingen den Zwischenstopp in der DDR zu ersparen und sie direkt aus Prag in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen, stand dem Drängen Oskar Fischers, des DDR-Außenministers, gegenüber, der verlangte, die Flüchtlinge müssten übergangsweise in die DDR zurückkehren.

Genschers berühmter Halbsatz

Die USA, Großbritannien und Frankreich unterstützten Genscher, und irgendwann ließ sich auch der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse auf dessen Forderung ein. So kam es zu der Einigung. Am Morgen des 30. September stand fest: Sonderzüge sollten die Flüchtlinge über DDR-Gebiet in die BRD bringen. Genscher reiste nach Prag und sprach am Abend dort vom Balkon des Palais Lobkowitz den sicherlich bekanntesten Halbsatz deutscher Geschichte: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Rest ging im Jubel unter.

Danach wurden Züge der DDR-Reichsbahn nach Prag gebracht. Die Flüchtlinge wurden auf die Waggons verteilt, und dann ging es zuerst wieder in die DDR, wo ihnen die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt werden sollte, damit sie dann in die BRD ausreisen konnten – das alles, ohne den Zug zu verlassen. Als diplomatischer Begleiter fuhr ich in einem der Züge mit, die eine Woche nach dem Genscher-Auftritt ein zweites Mal in Marsch gesetzt wurden, als die Prager Botschaft schon wieder „vollgelaufen“ war. Der Zug setzte sich am Abend in Bewegung und fuhr langsam durch die DDR.

Stasibeamte kassieren Ausweise ein 

Irgendwann war der DDR-Regierung aufgegangen, dass diese Züge ja quasi wie ein Fackelzug der Republikfeinde wirkten. Auch wollte sie vermeiden, dass irgendwo in Sachsen weitere Republikflüchtlinge auf den Zug aufsprangen. Also wurde der Zug auf Nebenstrecken umgeleitet, damit er nicht über den großen Hauptbahnhof Leipzig fahren musste. Wir fuhren schließlich durch Plauen. Dort stiegen Stasi-Beamte ein, die den DDR-Flüchtlingen die Ausweisdokumente abnahmen. Das war die Vereinbarung. Dadurch würden sie dann ihre Staatsangehörigkeit verlieren.

Ich wusste, dass die Polizeibeamten durch den Zug gehen würden. Deswegen war ich vorher durch sämtliche Abteile gegangen und hatte meine Passagiere aufgefordert, präzise ihre Pass- oder Ausweisdaten auf einen Zettel zu übertragen, damit man in Westdeutschland aufgrund dieser Daten einen neuen westdeutschen Personalausweis ausstellen könnte. Ich versprach: „Wir werden solch einen Zettel als Ersatzdokument akzeptieren!“ Das war offiziell so abgesprochen. Diesen Satz habe ich stundenlang in jedem Abteil wiederholt, während wir von Prag Richtung deutsche Grenze fuhren.

Neue Identität gesucht 

Der Zug war ungeheizt, es gab nichts zu essen, nichts zu trinken. Alle froren. Bevor wir Plauen erreichten, habe ich dann kleine Stichproben gemacht. Bin in ein Abteil rein und habe einen der Passagiere aufgefordert: „Zeigen Sie mir bitte mal Ihren Zettel! Haben Sie alles notiert? Kann ich bitte auch mal den Ausweis sehen?“ Dann verglich ich den Ausweis mit dem Zettel. Vorname Sven, Nachname Müller. Familienstand ledig. Ich stutzte. Im Ausweis stand verheiratet. Ich sagte: „Herr Müller, was soll das denn? Wenn Sie falsche Daten angeben, machen Sie sich womöglich strafbar! Und wenn Sie dann wieder heiraten, ist das Bigamie!“ – „Ja“, sagte Herr Müller, „wissen Sie, ich habe ja damals nur geheiratet, damit ich eine Wohnung bekomme. Meine Frau ist auch gar nicht dabei. Die Frau, die hier neben mir sitzt, ist meine Freundin.“

Ich erinnerte ihn daran, dass er sich an geltendes Recht halten müsse, dass er die Passdaten korrekt aufschreiben müsse, und begann nun die Datenübertragung einiger anderer Passagiere gründlicher zu kontrollieren. Ich habe eine Reihe solcher Fälle entdeckt; am häufigsten mit Änderungen beim Familienstand. Das hat mir vor Augen geführt, wie viele der Flüchtlinge ihr Leben unter großen Zwängen – Wohnungs-, Familien-, Berufszwängen – gelebt hatten. Sie waren jetzt auf dem Weg, sich eine neue Identität zu geben: Ich fahre in den Westen und fange ganz neu an! Das war sehr berührend.

Man konnte die Angst förmlich riechen

Während der Fahrt trieb mich aber noch eine ganz andere Sorge um. Wie würde das verlaufen, wenn die DDR-Beamten in den Zug kamen? Was wäre denn, wenn sie plötzlich jemanden aus dem Zug herausgriffen, zum Beispiel jemanden, der sich strafbar gemacht hatte? Wie könnte ich verhindern, dass es zum Eklat kommt? Was täte ich, wenn es ein Handgemenge gäbe? Dies war alles unklar. Ich war ja nicht wirklich mit irgendeiner Autorität ausgestattet. Ich hatte zwar einen Diplomatenpass, man würde mich also sicher nicht verhaften, aber was galt für die Flüchtlinge? Im Grunde war ich machtlos und entsprechend nervös.

Um den Menschen im Zug die Angst zu nehmen, die sie berechtigterweise hatten, habe ich ihnen immer wieder vermittelt, dass ich zu ihrem Schutz da sei. In meiner Gegenwart könne ihnen nichts passieren, versprach ich. Was ja nicht wirklich stimmte. Trotzdem wiederholte ich: „Macht euch keine Gedanken. Ich bin dabei. Ihr steht unter diplomatischem Schutz!° Es ist dann zum Glück nichts passiert. Aber als die Polizisten durch den Zug gingen, konnte man die Angst förmlich riechen. Das ist kein schöner Geruch: Angstschweiß. Der ging durch den gesamten Zug.

Freiheit! Freiheit! Freiheit! 

Jeder ahnte, wie leicht die Situation eskalieren konnte. Jeder wusste, wie die Geschichte auch ausgehen könnte, wenn einer der Stasi-Leute jemanden herauspicken würde. Jeder wusste, dass die Alternative zu einem Leben in der Bundesrepublik auch ein Leben in Bautzen bedeuten konnte: Stasi-Gefängnis. Traum und Albtraum lagen ganz dicht beieinander. Niemand wurde aus dem Zug gezerrt. Die DDR-Polizisten sammelten nur stoisch die Pässe ein. Wir fuhren weiter durch die Nacht, und es dämmerte schon der Morgen, als wir uns der innerdeutschen Grenze näherten.

Im ersten Tageslicht, die Scheinwerfer leuchteten noch, kamen wir in Hof in Bayern an. Und da brach im ganzen Zug ein tosendes Gebrüll aus, das aus einem einzigen Wort bestand. Und ich brüllte mit: Freiheit! Freiheit! Freiheit! Unbändige Freude, Massenhysterie. Ich habe in dieser einen Nacht mehr Sorgen und Emotionen ausgestanden als jemals zuvor und nur wenige Stunden später eine massenhafte Erleichterung und beglückende Freude erlebt. Die Welle von Angst ums eigene Leben und die eigene Zukunft bis hin zur grenzenlosen Begeisterung, den Weg in die Freiheit geschafft zu haben. Ein großes Erlebnis für alle, die dabei waren.

Wolfgang Ischinger, Welt in Gefahr: Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, Ullstein, 2018, 304 Seiten, 24 Euro.

BU

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Christa Wallau | Di., 1. Oktober 2019 - 16:28

Jemand, der nie in einer Diktatur gelebt hat, kann
kaum erahnen, wie es sich anfühlt, in dauernder Unfreiheit zu leben. Bespitzelt und bevormundet werden - das kennen Westdeutsche nicht, falls sie nicht schon ein hohes Alter haben.
Von daher ist es nicht nur das gute Recht der ehemaligen DDR-Bürger, an ihr Jahr der (Selbst-)Befreiung, 1989, zu erinnern, sondern sogar ihre bleibende Aufgabe. Wer, wenn nicht sie, kann den hohen Wert von Freiheit richtig würdigen und verteidigen? Ja, es waren bewegende Momente und Tage vor 30 Jahren.

Warum wurden die positiven Emotionen, die damals so viele Deutsche erfüllten, nicht
genutzt, um mehr gegenseitiges Verständnis aufzubauen?
Unter anderem liegt dies daran, daß kurz danach
sofort die EURO-Debatte begann und sogar Kohl, der sich als Kanzler der Einheit feiern ließ, sagte:
"In erster Linie bin ich Europäer, dann Deutscher."
Dabei hätten e r s t einmal die Deutschen sich untereinander besser verstehen u. voneinander lernen müssen.

Bin in allem bei Ihnen liebe Frau Wallau! Zugleich wissen wir inzwischen aber leider alle in Ost und West, weshalb man sich zu derlei "Bekenntnissen" entschieden hat, und bis heute entscheidet. Ein Blick hinter die Kulissen der Politik kann damit verbunden sehr ernüchternd sein, nicht wahr? Ohne das gemachte Bekenntnis unseres Einheitskanzlers H.Kohl, dessen Geburtsdatum ich übrigens bis auf die "Gnade einer sehr viel späteren Geburt" teile als Widder wie er im Buch steht;-), schmälern zu wollen, waren es doch die unterschwellig vorhandenen Ängste aller anderen Europäer vor einem erneuten "Großdeutschen Staatsgebilde", was solche
Bekenntnisse nahezu erforderlich machten. In Kenntnis dessen, auch die im Artikel vermittelte ehrliche Freude und Dankbarkeit eines Politikers und Diplomaten Herr Ischinger bzgl.dieses einmaligen Erlebnisses. Wären mehr Politiker-Persönlichkeiten so offen und lebensnah, hätten wir wohl einige Probleme weniger. Alles Gute! MfG

Kurt Walther | Mi., 2. Oktober 2019 - 11:51

Wolfgang Ischinger lesen oder hören bedeutet für mich immer über die große Weltpolitik Wissenswertes zu lesen oder zu hören.
Ich war nicht dabei, verfolgte es aber über West-TV, als die Züge mit den "Republikflüchtigen" am 30. Sept. 1989 von Prag über DDR-Gebiet nach Hof fuhren. Die geschilderten Ängste der vor allem vielen jungen Leute sind sehr gut nachzuvollziehen. Dass am Ende alles so human ablief, ist aber letzthin immer wieder der damaligen Sowjet-Führung unter M. Gorbatschow zu verdanken. Sie, die "Russen", griffen diesmal eben nicht ein - im Gegensatz zu 1953, 1956 und 1968. Im Text wird auch Außenminister Schewardnadse positiv genannt.
Bei aller Tragik der damaligen Situation ist der im Zuge von Ischinger empfohlenen Abschrift der Personalausweisdaten sogar noch etwas Lustiges abzugewinnen, wenn beim Familienstand geschummelt wurde und aus "verheiratet" einfach "ledig" gemacht wurde. Ob "ledig" auch (manchmal) zur Freiheit dazugehört? Wohl gut möglich.

Bernd Muhlack | Mi., 2. Oktober 2019 - 20:26

Keine S.. braucht einen Ostbeauftragten!
Nichts gegen Herrn Hirte, jedoch ist dieses Amt vollkommen überflüssig, kontraproduktiv!

Ja, ich habe Genschers Balkonrede, als auch den Mauerfall (Schabowskis Pressekonferenz) damals live auf dem Sofa sitzend erlebt. Ohne jedweden persönlichen Bezug zur "Zone" zu haben, irgend jemand dort zu kennen, wurden plötzlich die Äuglein feucht. Die Freude "dieser Menschen" war überwältigend!
Mir fällt dazu 30 Jahre später sehr viel ein. Natürlich hätte "man" "das" besser, gar viel preiswerter implementieren können.
Hat "man" hinreichend auf persönliche Schicksale bei der "Abwicklung" (Treuhand) genommen?
Wie war das mit der so genannten "Umrubelung?"
"Zonen-Flöten-Politiker" plötzlich ohne Ende!
Bei etlichen damals "Untergekommenen" fiel mir so manches ein!(q.e.d.!)

Und morgen ist der Tag der Einheit!
FW Steinmeier? NÖ!

D sind WIR ALLE, nicht wahr!

Eines noch.
Im Zug: keine Papiere, Unstimmigkeiten?
Das sind doch aktuell Petitessen!