Teheran: Menschen nehmen an einer Veranstaltung in Gedenken an den ehemaligen geistlichen Führer Ajatollah Ruhollah Chomeini teil.
Gekonnt führte Ajatollah Chomeini Iran 1979 in die Revolution / picture alliance

Schiitischer Islam - Ashura, der zehnte Tag

Am 9. September gedenken die Schiiten des Todes Imam Husseins in der Schlacht von Kerbela: einerseits eine archaische Tradition, in Wahrheit aber genauso eine hochpolitische Veranstaltung. Wer den Irankonflikt verstehen will, kommt daran nicht vorbei

Rudolph Jula

Autoreninfo

Rudolph Jula ist Reiseschriftsteller und Filmemacher. Er wohnt in Zürich und in Berlin, wo er eine Regie- und Drehbuchausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie absolvierte. Zu seinen Werken zählen „Vanishing Syria“ ( Fotoessay, 2015 ), „Auf dem Weg nach Damaskus“ ( Reiseerzählungen, 2012 ), „Giulios Schlaf“ ( Roman, 1997 ) sowie die Spielfilme „Cattolica“ ( 2003 ) und „Drei Wünsche“ ( 2000 ) und „Die syrische Grenze“ (2017).

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Straßenschilder, nachts, Imam-Ali-Express-Highway, Abzweiger Teheran East. Der Verkehr ist zusammengebrochen. Das Taxi bleibt stecken im Stau. Heute wird es überall so sein, sagt der Fahrer. „Was ist los?“, frage ich. Es dauert die ganze Nacht, und morgen früh stirbt Imam Hussein, antwortet er und macht eine Geste für Enthaupten. Stirbt, Gegenwartsform, obwohl es vor mehr als 1300 Jahren geschah. Nach Mitternacht beginnt der zehnte Tag des islamischen Monats Muharram, und es war der Zehnte, arabisch „Aschura“, als Hussein, Enkelsohn des Propheten Mohammed, in der Schlacht von Kerbela starb. Aber das Ereignis wiederholt sich immer wieder von neuem, überall im Land, von den Bergen Tehe­rans bis zum Persischen Golf, von der Wüste um Yazd bis zu den Ölfeldern von Ahvuz. Der Zehnte ist ein Gedenktag, ein Todestag, aber eigentlich ist er eine Nacht, in der die Vergangenheit wie die Explosion einer Magmakammer in die Gegenwart durchbricht.

Es ist eine Nacht im Ausnahmezustand. Alle Straßen sind voll. Hupen, Motorräder drängen vorbei, aus den Autos klingt laut „Hussein, Hussein“, der Name des Imams ist in blutenden Buchstaben auf Heckscheiben gemalt. Ein Prozessionszug erscheint. Der Gesang des Maddah, des liturgischen Sängers, hallt, über Lautsprecher verstärkt, durch die Häuserschluchten und den Verkehr. Männer, alle in schwarzem Hemd, folgen ihm in zwei Reihen, bleiben im Takt der schweren Trommeln immer wieder kurz stehen und schwingen in perfekter Choreografie eine schwere Geißel gegen den Rücken. Ein alter Mann geht auf und ab, auf einer kleinen Trommel einen Gegenrhythmus schlagend, ein anderer bläst in ein Widderhorn, ein eigenartig archaischer Klang unter Autobahnbrücken. Ein zweiter Zug nähert sich schon aus einer Seitenstraße, wo hinter dicken Weihrauchschwaden gerade eine Ziege geschlachtet wird. Für das Essen danach. Die eigentlichen Riten der Aschura finden nicht auf der Straße, sondern in „Hosseiniyehs“ statt. Es kann eine große Halle oder ein kleiner, versteckter Keller sein. Oder ein mit Schriftbannern prächtig verzierter Raum, wie der, in den ich gerate. Zahllose Lämpchen tauchen die schweißnassen Oberkörper in rotes Licht. Der Ritus hat schon begonnen.

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Christa Wallau | Mo., 9. September 2019 - 12:03

das kann man nur, wenn es Brückenbilder gibt, so wie den Autor dieses Artikels, Rudolph Jula, der
den Iran bereist und seine Eindrücke von dort
sehr gut beschrieben hat.
Die Rückschlüsse, die Jula aus seinen Erlebnissen, Erfahrungen und Recherchen zieht, scheinen mir
plausibel zu sein.
Die Mentalität des iranischen Volkes, Nachkommen der Perser (eines sehr alten Hochkultur-Volkes), wie es z. B. die Saudi-Araber keineswegs sind) steht im krassen Gegensatz zu dem, was Donald Trump verkörpert:
Die materialistische Welt der USA mit einer sehr kurzen eigenen Geschichte und einer importierten,
in der Masse der Menschen (relativ) wenig verbreiteten Kultur.
Allein hierin zeigt sich, wie schwierig es sein muß,
eine geistige Ebene zwischen derart unterschiedlichen Partnern wie den USA (speziell unter dem jetzigen Präsidenten!) und dem Iran herzustellen, auf der halbwegs fruchtbare Verhandlungen geführt werden könnten.

Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 9. September 2019 - 13:14

Europa in den verschiedensten Formen, eher noch im Süden heutzutage.
Das Normalste von der Welt bei einem Allah-verbundenen Propheten, der 10 Ehefrauen etc. hatte, scheint mir, dass die jeweiligen Gläubigen sich auf unterschiedliche Lebensbereiche dieses Propheten beziehen.
Ich glaube auch nicht, dass das Ergebnis ein anderes wäre, wenn, sagen wir, die spirituelle Nachfolge/Befolgung das Entscheidende wäre.
Mohammed war auch Kriegsführer etc., das könnte die Spiritualität in den Hintergrund treten lassen, dafür jedoch die Auseinandersetzungen um sein Erbe geradezu eskalieren lassen.
Entscheidend sehe ich demnach politisch-religiöse Führer*innen an, die vor dem Hintergrund der komplexen Geschichte ihres Landes diesem ein stabile Grundlage und eine Richtung geben können.
Die Richtung sollte schon das Wohlergehen, die Selbstvergewisserung und eine Zukunft des Landes sein.
Ich halte Rohani für so einen politisch-religiösen Führer, der versucht, woran der Schah autoritär scheiterte.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 9. September 2019 - 14:49

Wer die geschichtlichen und kulturellen, sowie die religiösen Hintergründe der Schiiten hier in Ruhe zu Kenntnis nimmt, wer auch zur Kenntnis nimmt, dass der Islam unterschiedliche, zum Teil feindseelige weitere Ausrichtungen wie die Sunniten, die Wahabisten usw. beheimatet, dem muss bei verständigem Nachdenken erkennen, dass deren Ausrichtung und Denken mit westlichen Demokratievorstellungen nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Der Anspruch die einzige wahre Religion zu sein, den Glauben gepaart mit linken und rechten Doktrin streng religös auszuleben macht es schier unmöglich, die Anhänger dieser Religion mit dem westlichen Demokratieverständnis zu vermischen. Sie können und sie wollen auch gar nicht anders denken. Der islamische Fundamentalismus hat noch immer die vorherrschende Macht über die Gläubigen. Die wenigen gemässigten und weltoffeneren Muslime, sie haben keine Chance sich gegen die Mehrheit der Muslime sunnitischen Glaubens. Da stehen 1400 Jahre Geschichte entgegen.

Bernd Muhlack | Mo., 9. September 2019 - 16:59

Ja, diese Schiiten!
Bei Khomeinis Rückkehr war bekanntlich Peter Scholl-Latour dabei; es gibt insoweit sehr interessante s/w-Bilder. Die beiden auf einem Teppich kniend etc.
Der Schah wäre auch ohne Khomeinis Rückkehr nicht mehr zu halten gewesen.
Khomeini gründete die Pasdaran/Revolutionsgarde sowie die Basij, ein paramilitärische Vereinigung. Im Krieg mit dem Irak waren es diese Basij welche zu zehntausenden den "Märtyrertod" starben. Sie rannten in die irakischen Minenfelder, damit die persischen Panzer, Grenadiere unbehelligt folgen konnten. Ist das nicht bemerkenswert?
Schiiten eben!
Die Friedhöfe sind bis heute Kultstätten!

Zur Geschichte des Islam sowie der Spaltung in Sunniten und Schiiten empfehle ich das Buch "Der wahre Imam" von Bassam Tibi; etwas älter, jedoch zeitlos gut.
Da Herr Tibi ein wirklicher Islam-Arabismus-Experte und kein "Welcome-Refugees"-Rufer war, ist/war er denknotwändig in keinem ö-r Talkgespräch.

Er ist schlicht zu gut für diese drei Damen!

Dominik Roth | Mo., 9. September 2019 - 19:43

Lieber Herr Jula, vielen Dank für Ihren aufschlussreichen Bericht aus einer mir fremden Welt.
Cicero ist eines der wenigen Magazine wo man etwas lernen kann ohne das Gefühl zu haben, belehrt zu werden. Way to go!

Armin Latell | Di., 10. September 2019 - 08:51

aber die Erkenntnis über die Historie wird m.E. keines der aktuellen Probleme lösen helfen. Nicht mal ansatzweise. Auch hier zeigt sich, Religion ist Opium fürs Volk. Damit kann eine clevere, rücksichtslose Elite die eigene Macht festigen, das Volk unterdrücken, und dieses ist sogar eine Zeit lang glücklich damit, nicht Angepasste werden gnadenlos 'entsorgt'. Ich betrachte diese Führung als faschistisch. Deswegen hat Trump wohl leider recht, es ist ein shithole country, nicht wegen der dort lebenden Menschen, sondern wegen der politischen, besser religiösen Führung, die ihre Macht durch Unterstützung islamistischer, terroristischer Gruppen auszuweiten sucht. Vom Haß auf Israel ganz zu schweigen.

Religion ist Opium für das Volk wurde von Diktatoren verwendet, um noch mehr Macht über die Kirchen zu bekommen. Als ausgetretener gläubiger Christ sehe ich nicht Gott als Problem an, sondern den Menschen & ihre Institutionen, da der Mensch auch das "Negative" wie Neid, Habsucht, Machtbesessenheit, Verleumdung u.v.m. ...
Dadurch gibt es Kriege, Anmaßung, Missbrauch u.v.m., was die eine Seite vom Menschen ist. Die andere Seite des Menschen ist Liebe, Achtung, Treue, Respekt u.v.m., was meines Erachtens vor allem die Menschen sehr erfüllt, die eine innige Beziehung zu Gott & zur Natur haben (& nicht für die Leut), ohne sich aber zu erhöhen (ich bin der Gute, der alles richtig macht & auch logisch denke & rede).
Aber was auch uns Menschen ausmacht.
Ich denke an einen Spruch von einem Friedhof: Ehre deine Vorfahren, auch wenn du einen anderen Weg gegangen wärst.
Aber nur wer die Vergangenheit in Liebe aufcenommen hat, kann Liebe in der Zukunft erfahren.
Zum nachsinnen Hochachtungsvoll MfG

Christoph Kuhlmann | Di., 17. September 2019 - 13:24

nicht über Politik unterhalten. ohne sie zu gefährden. Deswegen ist abstrakte Kunst eines der wenigen Themen über die man sich gemeinsam austauschen kann. Ich sehe noch das Foto eines FB-Freundes, er sitzt im Sand am Grab seines Sohnes dessen Tod seine Frau verzweifelt beklagt. Ein Held des Irakkrieges? Ich weiß es nicht mehr- Damals gab es einen Blutbrunnen in Teheran, aus dem rot gefärbtes Wasser sprudelte. Was ich damit sagen will, unter der Decke des strenggläubigen Islam, gibt es jede Menge Menschen, die auch mit einer laizistischen Staatsform leben könnten. Die Mullahs lassen keine freien Wahlen zu und die Opposition wird grausam unterdrückt. Insofern wäre ich vorsichtig mit Prognosen über den Rückhalt des Regimes in der Bevölkerung. Religion muss nicht politisieren.