Der Musiker Cesar Lopez spielt auf einer wie ein Gewehr geformten Gitarre
Mit Musik gegen Gewalt: Cesar Lopez / Andrzej Rybak

Kolumbien - Dem Teufelskreis entkommen

Kolumbien bleibt auch nach dem Friedensnobelpreis für Präsident Santos eine tief gespaltene Nation. Die gesellschaftlichen Wunden des Guerillakrieges sind noch zu frisch, um zu heilen. Ein Stimmungsbild aus einem Land, das Frieden erst lernen muss

Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika.

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Die Rebellen stürmten die Farm an einem Samstagmorgen. Die 13-jähirge Maria Teresa Sojo spielte mit ihrem Cousin auf der Terrasse, als sie mehrere Schüsse hörte. Sie lief ins Haus und sah, wie bewaffnete Männer auf ihren Vater feuerten. Von 17 Kugeln getroffen, sackte er zu Boden.

„Ich werde diesen Anblick auch nach 21 Jahren nicht los“, sagt die Kolumbianerin heute. „Jeden Tag sehe ich meinen Vater in einer Blutlache auf dem Fußboden  liegen, der Geruch des Schießpulvers dringt in meine Nase. Ich kann die schreckliche Kälte in den Gliedern fühlen, als wir uns bis spät in die Nacht in den Wäldern versteckten.“

Mord an Vater treibt Familie auseinander

Ihr Vater, Jose Raimundo Sojo Zamprano, hatte sich immer gegen Gewalt ausgesprochen. Die Familie besaß eine Farm im kolumbianischen Bundesstaat Cundinamarca, etwa zwei Autostunden von der Hauptstadt Bogota entfernt. „Wir waren weder besonders reich, noch hat sich mein Vater als Gegner der Guerilla hervorgetan“, sagt Sojo. Doch er war früher Entwicklungsminister gewesen und stand als Präsident dem Rinderzüchterverband vor. Für die Rebellen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) Grund genug, ihn vor den Augen seiner Ehefrau und seiner Kinder zu töten.

Der Mord hat die Familie Sojo auseinandergebracht. Ihre zwei bereits erwachsenen Brüder flohen ins Ausland, weil sie einen Anschlag der Farc fürchteten. Die Mutter verkaufte die Farm für einen symbolischen Betrag, denn niemand wollte das Land im Guerilla-Gebiet haben. Sie zog mit Maria und ihrem kleinen Bruder nach Bogota, wo sie fortan in bescheidenen Verhältnissen lebten.

Maria Teresa Sojo, die heute für die Investmentagentur der Stadt Bogota arbeitet, hat in den vergangenen Jahren enthusiastisch die Friedensbemühungen des Präsidenten Juan Manuel Santos verfolgt, der den 52 Jahre alten Konflikt mit der Farc beenden will. „Es ist höchste Zeit, den Krieg mit der Farc beizulegen“, sagt sie. „Ich möchte, dass mein Sohn im Frieden lebt. Ich möchte, dass keiner Familie in Kolumbien das zustößt, was mir damals passiert ist.“

Suche nach Konsens

Deshalb stimmte Sojo bei dem Volksentscheid über den Friedensvertrag mit der Guerilla-Truppe, der das Ende des Krieges besiegeln sollte, mit Ja. Sie warb in den sozialen Medien für das 300-Seiten-starke Dokument, und wurde dafür von manchen Familienmitgliedern und Freunden beschimpft. „Sie warfen mir vor, das Leid der Angehörigen zu ignorieren und die Erinnerung an die Opfer zu  besudeln. Wie absurd. Ich weiß aber: Kein Krieg und keine Rache kann mir meinen Vater zurückbringen.“

Das kolumbianische Volk ist bei der Frage über den Umgang mit der Guerilla im eigenen Land in der Mitte gespalten. Das hat der Volksentscheid vor Augen geführt: Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 53.000 Stimmen, lehnten die Kolumbianer den bereits unterzeichneten Friedensvertrag ab. Santos wurde für seine Bemühungen gerade mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nun muss er mit der Opposition um den Erzfeind und Ex-Präsidenten Alvaro Uribe einen Konsens finden, damit die mühsam ausgehandelte Vereinbarung gerettet werden kann. Die beiden standen sich einst sehr nah. Santos war Verteidigungsminister im Kabinett von Präsident Uribe. Letzterer machte Santos 2010 zu seinem Nachfolger. Als Santos aber Verhandlungen mit der Farc begann, beschimpfte Uribe ihn als „Verräter". Sechs Jahre lang haben die beiden wichtigsten Politiker in Kolumbien kein Wort miteinander gesprochen.

Auch in der Gesellschaft sitzt der Hass auf den Gegner tief. In dem längsten bewaffneten Konflikt Lateinamerikas sind nach offiziellen Angaben fast 270.000 Menschen getötet und 6,6 Millionen vertrieben worden. Tausende wurden entführt, entweder von der Farc oder von den rechten Paramilitärs, die den kolumbianischen Streitkräften und Großgrundbesitzern nahe standen. Mindestens jeder siebte Kolumbianer war von dem Krieg auf irgendeine Weise betroffen.

Die Gegner des Friedensvertrages argumentieren, dass die Farc nicht alle Waffen abgeben und schon gar nicht den lukrativen Drogenhandel aufgeben werden. Tatsächlich haben einige Farc-Gruppen ihrer Führung den Gehorsam gekündigt und sich der ELN Guerilla angeschlossen, die die Waffen noch nicht strecken will.

Straffreiheit für viele nicht hinnehmbar

Die Guerilleros fürchten dagegen die von Großgrundbesitzern angeheuerte kriminelle Banden, die nach wie vor Bauern von ihrem Land vertreiben und Gewerkschafter töten. Die Banden haben der Farc über Jahre den Drogenhandel streitig gemacht.

„Natürlich vertraue ich der Farc nicht, die sich vor kaltblütigen Morden, Entführungen und dem Drogenhandel nicht scheute“, sagt Carlos Ramirez, ein Rechtsanwalt in Bogota. „Fast jede Familie hat Verwandte, die Opfer der Farc-Gewalt wurden. Kann man ihnen verdenken, dass sie ihren Peinigern nicht verzeihen wollen und nun gegen einen Vertrag sind, der den Mördern Straffreiheit zusichert?“

Sein Großvater und sein Vater wurden von der Farc von ihren Kaffee-Plantagen vertrieben, weil sie kein „Schutzgeld“ an die Guerilla zahlen wollten. Sein Schwiegervater wurde zwei Mal von der Farc entführt und erst nach Zahlung von Lösegeldern wieder freigelassen.

„Ich weiß, dass man den Rebellenführer die Straffreiheit garantieren muss, um den Krieg zu beenden“, sagt Ramirez. „Aber man könnte ihre Anführer zumindest von der politischen Bühne verbannen, statt ihnen jeweils 10 Sitze über zwei Amtszeiten zu garantieren.“

Ramirez fürchtet um den möglichen Einfluss der Farc auf die politische Ausrichtung des Landes. „Wenn es ihnen gelingt, sich mit anderen linken Gruppierungen zu vereinigen, könnten sie einen großen Block bilden und Wahlen gewinnen“, sagt Ramirez. „Sie haben mit Drogenhandel genug Geld zur Seite geschafft – und in Kolumbien kann man Wahlstimmen billig kaufen.“ Ein linkes Kolumbien wäre Ramirez ein Dorn im Auge: „Wozu das führt, sehen wir gerade in Venezuela, das vor dem Ruin steht.“

Bei der Guerilla gab es immer zu Essen

Grund zur Sorge haben aber auch die Ex-Guerilleros, die von der Gesellschaft stigmatisiert werden. „Für die meisten Kolumbianer sind wir schlicht Banditen, Terroristen und Drogenhändler“, sagt Diana Serna, eine Ex-Guerillera. „Wir werden von der Gesellschaft ausgeschlossen, die Paramilitärs wollen uns töten. Ich habe Angst.“ Wenn sie über ihre Vergangenheit spricht, schaut sie sich ständig um, ob jemand zuhört. „Ich bin schon oft beschimpft worden. Bin von der Arbeit rausgeschmissen worden, als mein Boss erfuhr, das ich bei der Farc war.“ Ihrem Verlobten sagte sie erst kurz vor der Hochzeit, dass sie der Guerilla angehört hatte. Ihm zumindest war es egal.

Die zierliche Frau schloss sich im Alter von 13 Jahren der Guerilla an. Der Grund: Die Familie hatte nicht genug zu essen. Ihre Eltern haben sich getrennt, die Mutter ging mit der ältesten Tochter weg, der Vater blieb mit drei Mädchen allein, um die er sich kaum kümmerte. „Ich wusste, dass es bei der Guerilla immer zu essen gibt“, sagt Diana. Sie diente bei der 48. Front unter General Teofilo im Bundesstaat Caqueta. „Ich habe bei dem Rebellen-Radiosender gearbeitet und nahm nicht direkt an den Kämpfen teil“, sagt sie. „Doch wir wurden oft angegriffen, ich habe Freunde sterben sehen.“ Nach acht Jahren gelang ihr die Flucht, sie stellte sich der Polizei, wurde zwei Monate lang überprüft und dann an die Agentur für Reintegration (ACR) verwiesen.

Musik gegen die Gewalt

Serna tauchte in der Großstadt Bogota unter, wo sie niemand kannte. Sie arbeitete als Kellnerin, Verkäuferin, Putzfrau, machte ihre Schulausbildung. Heute studiert sie Jura, ist verheiratet und hat einen einjährigen Sohn. Sie weiß, warum sie ihre Vergangenheit verschweigt. Schon mehrmals gab es in Kolumbien Versuche, den bewaffneten Konflikt zu beenden – und alle sind gescheitert. Vor 31 Jahren haben die Guerilleros eine Partei gegründet, die Patriotische Union (UP), die dem bewaffneten Kampf abschwor und im Kongress soziale Politik betreiben wollte. Innerhalb kürzester Zeit wurden fast alle führenden Mitglieder der Partei von paramilitärischen Killern ermordet.

„In unserem Land ist die Kultur der Gewalt sehr tief verwurzelt“, sagt Cesar Lopez, ein bekannter kolumbianischer Musiker und Songwriter. Lopez hat vor sechs Jahren das Projekt 24/0 ins Leben gerufen: 24 Stunden mit Null Gewalttoten. Er macht 24 Stunden nonstop Musik und fleht die Leute an, zumindest an diesem einen Tag keinen Mord zu begehen. „Als Künstler habe ich die Pflicht, zu der Aussöhnung meines Landes beizutragen“, sagt Lopez, der den Friedensvertrag unterstützt.

Wie lange wird die Aussöhnung dauern? „Vielleicht zwei Generationen, wie nach dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich“, sagt der Musiker. „Vielleicht aber auch länger, wir sind schließlich Kolumbianer.“

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Nicolas Wolf | Mi., 12. Oktober 2016 - 18:48

Ein Trauerspiel. Eine Hauptursache ist meiner Meinung nach die Drogenpolitik der meisten Länder, insbesondere die der USA. Diese macht das illegale Geschäft sehr lukrativ ohne ernsthafte Erfolge bei der Drogenbekämpfung vorweisen zu können. Somit ist das weiterführen des Kampfes aus wirtschaftlichen Gründen durchaus sinnvoll, leider. Man sollte diese Ursache durchaus stärker betonen, denn hier ließe sich viel Blut, Leid und Gelt sparen, ohne dass eine Verschlimmerung der Lage durch eine Legalisierung der Drogen zu erwarten wäre. Die Wunden in Kolumbien wären zwar so nicht geheilt aber eine treibende Kraft für weitere fiele weg.