- Wo sind Sartres Erben geblieben?
Sie gelten als moralisches Gewissen Frankreichs: Wie in keinem anderen Land prägen französische Intellektuelle den politischen Diskurs – auch und gerade während der Präsidentenwahl. Doch wo stehen sie, was denken sie und welchen Einfluss haben sie wirklich? Eine Spurensuche
Ernest Lavisse ist kaum 30 Jahre alt, als er 1872 nach Berlin zieht. Zwei Jahre zuvor hat der junge Historiker beobachtet, wie die preußische Armee Frankreich in Sedan besiegt hat. Er meint, die Niederlage sei nicht bloß militärischer Art und will wissen, was Deutschland besser macht. 1875 kehrt Lavisse nach Frankreich zurück, fest entschlossen, seinen Beitrag zur moralischen Erneuerung seines Landes zu leisten, und wird zum „Lehrer der Nation“: Seine Schulbücher, die „petits Lavisse“, bringen Generationen von kleinen Franzosen die Grundlagen der Republik bei.
Am 22. April und 6. Mai werden 44,5 Millionen Bürger zur Wahl ihres Präsidenten aufgerufen sein. Dabei brauchen Nicolas Sarkozy und sein wichtigster Herausforderer, der Sozialist François Hollande, sowie die anderen Kandidaten keinen Lehrmeister mehr. Doch wie nach dem Krieg von 1870 scheint Frankreich in einer Phase tiefer Verunsicherung zu stecken, und wie damals spielt der Vergleich mit dem Nachbarn eine überragende Rolle. So war es auch kein Zufall, als ein französischer Kolumnist Mitte Februar im Hörfunk fragte: „Wo sind die Lavisse unserer Zeit?“ Er verwies ebenso auf den anderen Historiker und Deutschlandkenner des späten 19. Jahrhunderts, Ernest Renan, der für eine „intellektuelle und moralische Reform Frankreichs“ plädierte. Einige Tage zuvor hatte Angela Merkel in einer Fernsehsendung an der Seite des Noch-Nicht-Kandidaten Sarkozy gestanden. Dieser hatte das „Modell Deutschland“ in einem Interview nicht weniger als 16 Mal gelobt.
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Ist das Minderwertigkeitsgefühl im Nachbarland so akut, dass die Intellektuellen des Landes glauben, wie damals Lavisse oder Renan, einen moralischen und politischen Neubeginn anmahnen zu müssen? In welchem politisch-gesellschaftlichen Gemütszustand befindet sich überhaupt diese geistige Elite, die in Frankreich wie in keinem anderen Land der Welt über Deutungsmacht und Einfluss verfügt? Was beschäftigt die Gelehrten der Republik, Nachfolger von Émile Zola oder Jean-Paul Sartre am Ende der ersten Amtszeit von Nicolas Sarkozy?
Nirgendwo kann man dieser Gemütslage besser als in Saint-Germain-des-Prés nachspüren, seit den fünfziger Jahren die Pariser Hochburg der Intellektuellen. Die Gäste des „Café de Flore“ oder des benachbarten „Les deux magots“, wo Sartre und Co. verkehrten, scheinen wenig von der Krise zu merken. Wohlhabend sind auch die Besucher des Hauses Armani, dessen neues Café auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig herausragt – Symbol einer neuartigen Vorherrschaft des Geldes in dem früheren Quartier der Existenzialisten. Wer am Zeitungskiosk jedoch anhält, wird in die Realität zurückgeholt: In den dort ausliegenden Zeitungen ist zu lesen, dass 2,6 Millionen Franzosen im Februar arbeitslos waren. Beinahe jeder zehnte Erwachsene und jeder vierte Jugendliche finden keinen Job. Der Winter 2011/2012 wird als einer der härtesten in Erinnerung bleiben: Während die Ratingagentur Standard & Poor’s die Bonitätsnote Frankreichs senkte, verbrachten viele Obdachlose die kalten Wochen in der Metro-Station nahe der Sorbonne-Universität. [video:Frankreichs Angst vor Deutschland]
Die Präsidentschaftskandidaten jeglicher Couleur versuchen nicht, die Not zu verschweigen: „Deindustrialisierung“, „Sparmaßnahmen“ oder „Verzicht“ sind die Schlagwörter des Wahlkampfs. Und diese depressiv anmutende Stimmung klingt auch bei Jacques Attali durch. „2012 verläuft tragisch. Die Haushaltssituation ist katastrophal“, sagt er, den die amerikanische Zeitschrift Foreign Policy zu den 100 wichtigsten Intellektuellen der Welt zählt. Der ehemalige Berater von François Mitterrand hatte 2008 eine überparteiliche Kommission geleitet, die Maßnahmen zur Ankurbelung des Wachstums vorgeschlagen hatte. Attali wurde nicht nur von seinen linken Freunden des Verrats bezichtigt, einige seiner Pläne wurden schlicht überhört. „90 Milliarden Euro sollten über drei Jahre eingespart werden. Wir wären damit heute aus der Krise raus und könnten mit Deutschland auf gleicher Augenhöhe reden“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler.
Seite 2: Ein enttäuschter Ökonom zeigt sich verbittert
Verbitterung eines enttäuschten Ökonomen, der sich heute einen Machtwechsel ausdrücklich wünscht? Ein Besuch bei Alain Minc zeigt, wie nüchtern die intellektuelle Elite Frankreichs die Probleme des Landes sieht – auch im Sarkozy-Lager. Minc, der wie Attali meist zwei Bücher im Jahr schreibt, gilt als Flüsterer, Mentor und engster Freund des französischen Staatschefs. „Ich gehöre zu denjenigen, die ihm ab und zu widersprechen“, sagt er über sich, den andere als „visiteur du soir“, „Abendbesucher“ im Élysée-Palast bezeichnen. In seinem Büro am rechten Seine-Ufer bewertet er zwar die gesamtwirtschaftliche Lage nicht, äußert aber Bedenken über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich: „Der Kapitalismus verursacht Effizienz und Ungleichheit. In Zeiten des Wachstums wird Letztere toleriert. In Krisenzeiten nicht.“ Dass einige Manager immer mehr verdienen, während andere den Gürtel enger schnallen müssen, sei tatsächlich „problematisch“.
Nur einige Hundert Meter entfernt von Mincs Beratungsfirma liegt das „Fouquet’s“ – jenes Luxusrestaurant, in dem Sarkozy 2007 seinen Wahlsieg feierte. Die Zeiten einer ostentativen Geldverschwendung sind heute vorüber: Wegen dieses Abends im Fouquet’s musste der Präsident kürzlich Abbitte leisten. Das Ende der Privilegien wird auch im Quartier Latin, dem ehemaligen Studentenviertel am linken Seine-Ufer, gefordert. Den Vergleich mit der Französischen Revolution wagt Elisabeth Badinter, grande dame des französischen Feminismus und daher legitime Erbin von Simone de Beauvoir. In ihrer Wohnung am Parc du Luxembourg kommt sie auf 1789 zu sprechen: „Wie damals sind die sozialen Probleme so augenfällig, dass das Bedürfnis nach Gleichheit wieder aufkommt“, kommentiert die Philosophin, die es als Autorin von Standardwerken über das 18. Jahrhundert wissen müsste.
Ob der 22. April ein neuer 14. Juli wird, der Tag des Sturms auf die Bastille, ist nicht ausgemacht. Eine bessere Konjunktur könnte die Franzosen schnell wieder aufmuntern. Anders verhält es sich hingegen mit den tiefer liegenden Problemen, die seit Jahren unter der Oberfläche gären und von den Intellektuellen mit Sorge betrachtet werden. [gallery:CICERO ONLINE präsentiert: Die Kandidaten für die Euro-Nachfolge]
In der Frage der Einwanderung und Integration scheint Frankreich keinen Konsens zu finden – und auch keine Ruhe, denkt man an den Einfluss der rechtsextremen Partei Front National. Deren Vorsitzende, Marine Le Pen, hat zwar laut Umfragen kaum Chancen, die Stichwahl am 6. Mai zu erreichen, ihre Strategie der „Entteufelung“ geht jedoch auf: Medien und die anderen Präsidentschaftskandidaten behandeln sie mittlerweile als ganz normale Mitstreiterin. Im Wahlkampf ist es ihr sogar gelungen, einige Themen auf die Agenda zu setzen: Die Einwanderung wurde im Sarkozy-Lager wiederholt als „Problem“ bezeichnet. Als Le Pen die angebliche Verbreitung des traditionellen muslimischen Schächtens („Halal“) in Frankreich anprangerte, griffen andere Konservative das Thema auf – allen voran Sarkozys Innenminister Claude Guéant. Alain Minc sagt zu fremdenfeindlichen Tendenzen im Umfeld Sarkozys nur: „Mit dem Innenminister rede ich nicht.“
Auch Elisabeth Badinter sieht eine reelle Gefahr am rechten Rand: „Marine Le Pen verteidigt Intoleranz und Exklusion, auch wenn sie sie sanft verpackt. Die Muslime sind ihre Hauptfeinde“, empört sich die Philosophin und verweist auf Le Pens Instrumentalisierung der „Laizität“ – dieses Prinzip der Trennung von Kirche und Staat, das zu Zeiten von Lavisse erkämpft wurde. Für Patrick Weil ist Marine Le Pen nicht gefährlicher als andere islamfeindliche Populisten in Europa. Der Historiker, der an der Sorbonne als Experte für Einwanderung und Staatsbürgerschaft lehrt, und in einem neuen Buch „80 Vorschläge, die nicht 80 Milliarden kosten“, macht, kritisiert die Regierung. Sie habe die Franzosen ausländischer Herkunft stigmatisiert und dabei die Gleichheit vor dem Gesetz infrage gestellt – auch seit Lavisse ein Prinzip der „republikanischen Philosophie“. „Unser Land hat jegliches Vertrauen verloren“, donnert der Professor im Café „La Palette“, einer anderen Institution von Saint-Germain-des-Prés, während Touristen und Pariser die Woche mit einem Aperitif ausklingen lassen.
Seite 3: Identitätssuche oder kollektiver Kummer?
Auffällig ist die Verbindung dieser Debatte mit der kollektiven Identitätsfrage: „Wer sind wir?“ Der Zusammenhang wurde von Sarkozy selbst hergestellt, als er ein „Ministerium für Einwanderung und nationale Identität“ gründete und 2009 eine Debatte über die „nationale Identität“ anstieß. Gerade dies kritisierte auch Pierre Nora. Dieser „Unsterbliche“ – wie man die Mitglieder der altehrwürdigen „Académie française“ bezeichnet – gehört zu den scharfsinnigsten Kennern der kollektiven französischen „Seele“. Als Herausgeber einschneidender Studien über Geschichte und Erinnerung, Verleger und Gründer der Zeitschrift Le Débat hat er die Fäden etlicher Kontroversen mitgezogen. Ihn in seinem Büro im Traditionshaus Gallimard zu besuchen, ist der beste Weg, der französischen Malaise auf die Spur zu kommen. Von „Identitätskrise“ und „kollektiver Verunsicherung“ ist bei Nora die Rede. Frankreich habe „große Schwierigkeiten, das alte Modell der Republik durch ein moderneres, demokratisches Modell zu ersetzen“. Im Gegensatz zu Weils Analysen ist seine Diagnose nicht primär gegen Sarkozy gerichtet. Am sozialistischen Vorgänger François Mitterrand lässt er kein gutes Haar: „Er hat die Linken vom Volk entfernt.“ Der Historiker zeichnet vor allem längerfristige Entwicklungen nach: „Unser Land war von einem starken Gefühl von Souveränität, ideologischer und religiöser Stabilität, Einheit, providenzieller und ja, imperialistischer Mission, staatlicher Zentralisierung gekennzeichnet. All das wurde in den vergangenen 30 Jahren zerstört“, erklärt Nora und zählt verlorene Kriege – 1940, die Kolonialkriege – und verlorene Illusionen der „grande nation“ auf. Der Académicien, Autor eines Aufsatzes über Lavisse, sagt resigniert über die bevorstehende Entscheidung: „Es wird nur eine Wahl gegen jemanden sein.“ Das „starke Frankreich“, das Sarkozy auf seinen Wahlkampfplakaten ankündigt, scheint noch sehr weit weg zu sein.
Kollektiven Kummer festzustellen, ist eine Sache. Eine andere ist es, wie Lavisse oder Renan eine „moralische und intellektuelle Reform Frankreichs“ herbeiführen zu wollen. „Wir können lange auf den neuen Lavisse warten, er wird nicht kommen!“, versichert Pierre Nora lächelnd. Denn dies gehört auch zur Verfassung Frankreichs im Jahr 2012: Philosophen, Ökonomen, Historiker, wie berühmt sie auch sein mögen, scheinen nicht das ambitionierte Ziel zu hegen, ihrem Land Zufriedenheit und Selbstbewusstsein einzuhauchen.
Das mag zunächst verwundern, in Anbetracht des Falls „BHL“. Bernard-Henri Lévy, der Starphilosoph mit offenem Hemd und windfester Mähne, wurde vor einem Jahr über Nacht quasi Außenminister und ja, Armeeoberhaupt. „BHL“ hatte den Präsidenten Sarkozy überredet, die libyschen Rebellen in Paris zu empfangen und die internationale Gemeinschaft aufzufordern, ihnen militärisch den Rücken zu stärken. In Frankreich, so schien es, hatte die Meinung der Intellektuellen noch immer Gewicht, bis hinauf an die Schaltstellen der Macht. Ein Jahr später relativiert Alain Minc diese Interpretation: „Ich habe die beiden miteinander versöhnt“, plaudert der Berater, darauf hindeutend, dass „BHL“ 2007, bei der letzten Präsidentenwahl, Sarkozys Gegnerin unterstützt hatte. Was für Minc bei dieser Episode am Werk war, war keine Fortsetzung einer alten französischen Tradition, sondern bloßer Zufall: „Bernard mit seiner Art, Beziehungen auszunutzen, um die Dinge zu verändern; Nicolas mit seiner Neigung zu unerwarteten Kraftakten, und der Außenminister Alain Juppé mit seiner Professionalität … Es war eine sehr besondere Konstellation.“
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Figur des Intellektuellen außerdem so verändert, dass es heute immer schwieriger wird, von einem idealtypischen Intellektuellen, eine Art „Musterbeispiel“ des engagierten Denkers zu reden. Die Positionen sind links und rechts verteilt, die Szene zersplittert, die Hierarchien unklar. Émile Zola, André Malraux oder später Jean-Paul Sartre waren Literaten, die sich mit allen möglichen politischen Themen befassten. Mit dem Philosophen Michel Foucault folgte dann die Generation der sogenannten „spezifischen Intellektuellen“ – derjenigen, die sich einmischen, „wenn sie etwas angeht“. Später mussten sich die französischen Gelehrten den Anforderungen des Fernsehgeschäfts anpassen. Die Aussagen wurden kurz und knapp. Für die „neuen“ und telegenen Philosophen wie BHL, André Glucksmann oder Luc Ferry eine Chance. Für die Traditionalisten eine Schmach und das „Ende der Intellektuellen“ überhaupt.
Kulturpessimismus gehört gewiss zum guten Ton in Saint-Germain-des-Prés. In den vergangenen fünf Jahren wurde allerdings der Eindruck des eigenen Bedeutungsverlusts dadurch verstärkt, dass die Beziehungen zwischen der politischen Führung und der geistigen Elite des Landes nicht eben harmonisch verliefen. Sarkozy pflegte einen ungehobelten Regierungsstil, den einige als dezidiert antiintellektuell, gar kulturlos betrachteten. „Seit drei Jahren hat er sich aber unter dem Einfluss seiner Frau verstärkt für Kunst und Literatur interessiert“, erzählt Alain Minc. Zur Versöhnung mit der Kulturelite reichte es dennoch nicht, denn der Bruch war alles andere als oberflächlich. Und niemand verkörpert ihn besser als André Glucksmann. Der Philosoph, Ex-Maoist und alter Freund von BHL, hatte sich 2007 in der Zeitung Le Monde für den rechtskonservativen Kandidaten ausgesprochen. Heute blickt er auf sein damaliges Engagement zurück – in seiner Wohnung im 10. Arrondissement. „Das war ein Tabubruch“, erinnert sich Glucksmann und erzählt, wie seine Gefährten aus der 68er-Bewegung über ihn herfielen. Sarkozy würde eine neue Politik der Menschenrechte durchsetzen, glaubte er damals. Seitdem seien zu viele Kompromisse mit Russland gemacht worden; Äußerungen über Roma im Sommer 2010 fand Glucksmann skandalös. „Ich habe meine Missbilligung klar geäußert“, sagt der Philosoph und bekennt sich zum politischen „Atheismus“. Ob er wieder seine Präferenz öffentlich machen werde? „Mal sehen.“ Ob er sich schon entschieden hat? „Mal sehen.“
Seite 4: „Die Deutschen jagen uns keine Angst mehr ein, wir bewundern sie.“
Vorsichtige Distanz scheint insgesamt das Leitmotiv der bedeutendsten Intellektuellen zu sein – in diesem Wahlkampf 2012. „BHL“ bleibt nach der Veröffentlichung seines Buches zum Libyeneinsatz relativ diskret. „In den vergangenen Jahren haben wir Abstand von der Macht genommen“, meint auch Elisabeth Badinter. Andersherum gilt der Vorbehalt ebenfalls. Die Élysée-Anwärter bemühen sich bisher vor allem darum, Volksnähe zu zeigen: Sarkozy oder der Kandidat des „Zentrums“ François Bayrou haben Volksentscheide zu allen möglichen Themen versprochen. François Hollande oder Jean-Luc Mélenchon wetteifern um die Gunst der Arbeiter, während Eva Joly, die Kandidatin der Grünen, auf die Verstärkung der direkten Demokratie auf lokaler Ebene setzt.
Aus diesem gegenseitigen Misstrauen auf einen kompletten Rückzug der geistigen Elite Frankreichs zu schließen, wäre dennoch übereilt. Zwischen der republikanischen Mission eines Lavisse oder eines Renan und der Aufgabe jeglicher Rolle in der Öffentlichkeit haben die französischen Intellektuellen einen Mittelweg gefunden: Sie mischen sich bei vielen Themen ein und dies nicht nur, um das Lamento der Krise mitzusingen.
Dass es den Franzosen nicht so schlecht geht, wie sie es gerne behaupten, räumt sogar Pierre Nora ein: „Sie wissen, dass sie im Grunde besser leben als andere Europäer. Auch wenn Arbeitslosigkeit Verunsicherung bedeutet, ist unser Sozialversicherungssystem solide.“ Laut Umfragen ist die Mehrheit seiner Landsleute pessimistisch, wenn es ums Ganze geht; 75 Prozent sehen aber paradoxerweise die eigene persönliche Zukunft mit Zuversicht. Für Nora, Minc oder Attali Grund genug, Defätismus abzulehnen. In seinem neuen Buch „Un petit coin de paradis“ („Ein kleines Stück Paradies“) vergleicht Minc Europa mit den USA und kommt zu dem Schluss: Die Schuldenkrise habe letztendlich die Europäer zu Reformen und Zusammenhalt gezwungen. Obwohl die Argumentation sich nicht spezifisch auf Frankreich bezieht, klingt die Botschaft durch: Bitte nicht jammern. So ist an diesem Frühlingsnachmittag Minc bestens gelaunt: „Das war sehr nett!“, verabschiedet er sich in einer sprungvollen Bewegung. Auch sein Kollege Attali möchte nicht missmutig klingen: „Frankreich bleibt eine starke Industriemacht und hat eine einzigartige Lebensqualität.“
Die Demografie – in Frankreich hohe Geburtenrate, in Deutschland Alterung – könnte langfristig eine Balance zwischen den Nachbarn wiederherstellen, meint Attali. Die Intellektuellen Frankreichs reagieren vorsichtig auf polemische Darstellungen mancher Medien und Politiker, die Deutschland als arrogante Großmacht Europas stilisieren. Reflexe haben im Wahlkampf Konjunktur. Alain Minc trägt einige Argumente vor, die das Lager Sarkozy immer wieder vorbringt: Die Reformen der Ära Schröder waren vorbildlich. Anstatt die 35-Stunden-Woche einzuführen oder den Mindestlohn zu erhöhen, hätte man – wie Deutschland – die Arbeitskosten niedrig halten müssen. So antworten andere Parteien, Frankreich brauche keine guten Ratschläge von Angela Merkel. Doch über diese Vereinfachungen hinaus betrachten die einflussreichsten Intellektuellen die deutsch-französischen Beziehungen mit großer Gelassenheit. André Glucksmann dazu: „Bismarck und Spitzenhauben … Das ist eher komisch. Germanophobie greift nicht um sich.“ Für Elisabeth Badinter liegt hier der größte Unterschied zur Zeit von Ernest Lavisse: „Die Deutschen jagen uns keine Angst mehr ein, wir bewundern sie.“ Der Historiker Patrick Weil verweist auf seine Freundschaften jenseits des Rheins und das Ende des Militarismus in Europa; Attali erwähnt lächelnd die jüngsten Fußballergebnisse. Les Bleus haben diesmal gegen „la Mannschaft“ 2:1 gewonnen. Auch in dem Fall, dass François Hollande die Wahlen gewinnen wird und neue Verhandlungen zur Finanz- und Wirtschaftspolitik einleiten möchte, sei die gute Zusammenarbeit in Europa nicht gefährdet.
Außer dieser gelassenen Sicht auf die deutschen Nachbarn teilen die Intellektuellen Frankreichs eine zwar distanzierte, aber keineswegs gleichgültige Haltung zu wichtigen Wertedebatten, die in Wahlkampfzeiten intensiver geführt werden. Allen Gesängen über den eigenen Bedeutungsverlust zum Trotz, ist die geistige Elite noch allgegenwärtig – in den Feuilletons, aber auch im Fernsehen, bei Veranstaltungen, Diners und ja, Kundgebungen. Anders als in Deutschland vergeht keine Woche, ohne dass die großen Denker der Nation sich in Meinungsartikeln oder Interviews zu Wort melden. Vor einer Präsidentschaftswahl werden Fragen neu aufgerollt, die „zur Definition eines neuen Grundkonsenses beitragen“, bestätigt Elisabeth Badinter.
Seite 5: Die Intellektuellen begnügen sich mit bescheidenen Zielen
Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist dafür ein gutes Beispiel. Die Affäre um Dominique Strauss-Kahn – zu früh als Kandidat der Parti Socialiste gehandelt und im Mai vergangenen Jahres der Vergewaltigung eines Zimmermädchens in einem New Yorker Hotel beschuldigt – scheint im Wahlkampf nicht viel Nachhall zu haben. Für Badinter wäre es sowieso absurd, daraus eine „französische Misere“ in den Beziehungen zwischen Mann und Frau zu lesen. Die Philosophin ist mit den Verhältnissen im Lande zufrieden: „Wir haben eine Parteichefin (Martine Aubry) und zwei Kandidatinnen (Le Pen und Eva Joly). Was wollen wir mehr?“, sagt sie. Einer ganz anderen Meinung ist Geneviève Fraisse – auch Philosophin, auch Feministin. Mit Blick auf veränderte Geschlechterverhältnisse glaubt sie, dass es in Frankreich parteiübergreifend eine „Blockade“ gebe. Die ehemalige Staatssekretärin und Europaparlamentarierin begrüßt aber die Initiativen einiger Frauenrechtlerinnen in diesem Wahlkampf. Während Marine Le Pen die Abtreibungsrechte infrage stellt und das Verbot der Prostitution erneut für Kontroverse sorgt, haben junge Feministinnen die Gründung eines großen Diskussionsforums mit der Teilnahme von Politik und Zivilgesellschaft gefordert. Ihr „Laboratoire pour l’égalité“ („Labor für Gleichheit“) hat einen „Pakt“ erarbeitet – mit 20 Vorschlägen zur Förderung von Gleichberechtigung am Arbeitsplatz. François Hollande, Eva Joly, Jean-Luc Mélenchon und Corinne Lepage, die Kandidatin der ökologischen Partei „CAP21“, haben den Text unterschrieben.
Eine weitere Debatte wurde in den vergangenen Monaten geführt, die viele Intellektuelle mobilisiert hat: Diesmal ging es um Geschichte und Erinnerung. Pierre Nora war einer ihrer Anführer. Die Regierungsmehrheit verabschiedete ein Gesetz, das die Leugnung des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915 unter Strafe stellte. Für Nora ein Unsinn: „Aus wahlpolitischen Gründen wollte Sarkozy den 500.000 Armeniern Frankreichs einen Gefallen tun. Die Vergangenheit wird moralisch beurteilt“, klagt der Historiker wenige Tage nachdem der französische Verfassungsrat das Gesetz als verfassungswidrig zurückgewiesen hat. Mit dem „Armenien-Gesetz“ wurde auch die Frage nach der Rolle Frankreichs in der Welt neu diskutiert. Schon der Libyeneinsatz hatte einige Gelehrte skeptisch gemacht. Wie Nora glaubt Elisabeth Badinter nicht, dass Frankreich anderen Ländern seine Werte aufzuzwingen braucht: „Man sollte zuerst vor der eigenen Tür kehren“, sagt die Philosophin.
Bisher haben die außenpolitischen Themen – Syrien, Iran, Afghanistan – keine große Rolle im Wahlkampf gespielt. Für andere Intellektuelle ist das viel zu wenig. Dass Frankreich an der Spitze der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten stehen sollte – in der arabischen Welt, in China, in Russland –, diesen Traum der „grande nation“ haben offensichtlich noch einige in Paris. André Glucksmann gehört dazu, aber auch Edgar Morin, dessen jüngstes Buch „Wege der Hoffnung“, mit Stéphane Hessel gemeinsam verfasst, so endet: „Würde es gelingen, dass Frankreich der Welt wieder ein Beispiel gibt, böte es eine Perspektive auf eine bessere Welt.“ In diesem Buch – in Frankreich ein Bestseller – und beim Gespräch beklagt Morin eine „Krise der Zivilisation, der Wirtschaft, der Gesellschaft“. Auch von Reform und Neubeginn ist die Rede.
Doch ob Morin, Minc, Attali, Nora, Badinter oder Weil: Keiner wird der neue Lavisse oder der neue Renan werden. Frankreich ist nicht in bester Verfassung: Die Wirtschaftskrise, die Vergleiche mit Deutschland, die quälende Frage der Identität geben diesem Wahlkampf einen pessimistischen Grundton. Die Intellektuellen des Landes gehen jedoch nicht so weit, eine tiefe Depression festzustellen und einen Weg daraus weisen zu wollen. So rufen sie nicht zur moralischen Erneuerung auf, sondern begnügen sich mit bescheideneren Zielen: eine immer komplexere Welt erklären, die Widersprüche der Politiker aufzeigen … Das sind heute die Prioritäten von Frankreichs einflussreichsten Intellektuellen.
In Saint-Germain-des-Prés wird in diesem Frühling über die Zukunft diskutiert, während die Gegenwart überall ist: Asiatische Touristen schlendern durch die Modegeschäfte, Studenten und Schriftsteller treffen sich am Tresen von „La Palette“, und Bettler versuchen, durch den Tag zu kommen. Die „petits Lavisse“ kann man noch, mit ein wenig Glück, in den grünen Holzkästen der „bouquinistes“ finden – bei den Antiquariatshändlern am Ufer der Seine.
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