- Ukrainekonflikt ist kein Konflikt mit der Ukraine
Für die russische Regierung ist der Konflikt mit der Ukraine keine Auseinandersetzung mit dem ukrainischen „Brudervolk“, sondern ein Stellvertreterkrieg mit dem Westen. Wladimir Putin legitimiert mit der Freund-Feind-Rhetorik seine ideenlose Innen- und Wirtschaftspolitik
Wladimir Putins Ziele in der Ukrainekrise sind klar: Er möchte das zweitwichtigste postsowjetische Land im russischen Einflussbereich halten. Um jeden Preis möchte er die Integration der Ukraine in NATO und EU verhindern, auch wenn das heißt, einen neuen schwelenden Konflikt zu schaffen – ein Transnistrien im Donbass. Um seine Ziele zu erreichen, wendet der russische Präsident verschiedene Taktiken an: Fehlinformationen, Lügen, Lösungspläne und deren Dementi. Dabei dient die Unterstützung der zum Teil kriminellen Strukturen im Osten der Ukraine vor allem der Verbesserung der eigenen Verhandlungsposition gegenüber dem „Westen“.
Denn für die russische Führung handelt es sich nicht in erster Linie um einen Konflikt mit der Ukraine, sondern um einen Stellvertreterkrieg mit dem Westen. Dies passt auch in Putins Konzept, durch Freund-Feind-Rhetorik den Westen wieder zum Hauptfeind für die Sicherheit Russlands zu stilisieren und so bei der russischen Bevölkerung zu punkten.
Rhetorik vom Kalten Krieg als innenpolitische Legitimationsquelle
Was Putin nicht will, sollte ebenso klar sein: Russische reguläre oder irreguläre Truppen sollen nicht nach Kiew marschieren oder große Teile der Ukraine dauerhaft besetzen. Die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und militärischen Kosten hiervon wären zu hoch. Ein umfassender Krieg mit dem ukrainischen „Brudervolk“ ist etwas anderes als mit einer nach Moskauer Propaganda von „Faschisten“ gelenkten ukrainischen Armee.
Auch deshalb tut die russische Führung noch immer so, als ob keine russischen regulären Truppen in der Ukraine kämpfen: Die Anerkennung eines offenen Krieges zwischen Russen und Ukrainern würde das gesamte Propagandagebilde von der Unterstützung von Separatisten, die gegen eine vom „Westen“ gesteuerte ukrainische Führung kämpfen, zusammenbrechen lassen.
Putin will auch nicht in eine militärische Auseinandersetzung mit NATO-Mitgliedstaaten geraten, weder im Baltikum noch in Polen.
Ein Stellvertreterkrieg mit dem Westen
Aus der Perspektive der russischen Führung greifen EU und NATO in den „natürlichen“ Einflussbereich Russlands ein, um es so zu schwächen. Diese Sicht basiert nicht nur darauf, dass Putin sich in seiner dritten Amtszeit fast ausschließlich mit sicherheitspolitischen Hardlinern umgeben hat, sondern auch darin, dass er den Konflikt mit dem Westen braucht, um von der Ideenlosigkeit seiner eigenen Innen- und Wirtschaftspolitik abzulenken.
Die russische Führung besitzt keinen Masterplan. Sie reagiert ad hoc auf die Veränderung der Situation. Dies wurde bereits deutlich mit der Annektierung der Krim am Anfang dieser Krise – eine Kurzschlussreaktion auf die Absetzung von Russlands Mann in Kiew, Viktor Janukowitsch, verbunden mit der Angst, Sewastopol als Hafen der russischen Schwarzmeerflotte an die NATO zu verlieren.
Nach der Erfahrung auf der Krim hat die russische Führung unterschätzt, dass die ukrainische Armee dazu in der Lage ist, die Separatisten trotz russischer Hilfe zu besiegen. Moskau musste aufgrund des innenpolitischen Drucks und der Befürchtung, in den Verhandlungen mit dem Westen sein wichtigstes Faustpfand zu verlieren, reguläre Truppen in die Ostukraine schicken, um eine Niederlage der „Separatisten“ zu verhindern. Somit erliegt die russische Führung dem Druck der eigenen Interessenpolitik und den geringen Handlungsspielräumen, die ihr ihre ideologisch aufgeladene Innenpolitik und die Kompromisslosigkeit der ukrainischen Führung zur Verfügung stellen.
Zwei gegensätzliche Handlungsoptionen
Deutschland ist zum Hauptakteur für Verhandlungen zur Lösung des Konfliktes geworden. Jedoch irrte die Bundesregierung, wenn sie glaubte, ein Treffen zwischen dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten könne diese Krise lösen. Für Putin war nie der ukrainische Präsident Petro Poroschenko der Hauptansprechpartner, sondern die EU und die USA. Dies machte er auf dem Treffen der Zollunion in Minsk Ende August deutlich.
Insofern gibt es zwei gegensätzliche Handlungsoptionen.
Einerseits könnten die EU und die USA Putins Wunsch nachgeben und Angela Merkel oder Barack Obama würden sich direkt mit ihm treffen, um über einen Interessenausgleich zu reden. Die Forderungen wären klar: Neutralität der Ukraine, keine vertiefte EU-Annäherung, maximale Autonomie für Teile der Ostukraine, ein Deal in beiderseitigem Interesse bezüglich der Energiebeziehungen und der ukrainischen Energieschulden. Das wäre die Lösung, die Putin anstrebt – ein Interessenausgleich zwischen den Mächtigen nach russischen Drehbuch und gleichzeitig eine Anerkennung der Rolle Russlands als Regionalmacht im postsowjetischen Raum.
Die zweite Option: Europa steht zu seiner Wertepolitik und erkennt der Ukraine ein Recht auf Selbstbestimmung zu. Dies hieße, die Sanktionsschraube würde weiter angezogen und im Sinne der iranischen Sanktionen auf den Banken- und Finanzsektor ausgedehnt. Die ukrainische Armee müsste nicht nur geschult, sondern auch mit Waffen ausgestattet werden, um ihre Grenzen schützen zu können. Die Eindämmung Russlands wäre die Logik dieser Politik, die zu entsprechenden russischen Gegenreaktionen in der Ostukraine und, weitergedacht, zum Beispiel auch in Kaliningrad führen könnten.
Mit Putin reden heißt nicht, ihm nachzugeben
Sinnvoll wäre, beide Handlungsoptionen zu kombinieren. Als Schlüsselfigur in diesem Konflikt sollte Angela Merkel nach ihrem Kiew-Besuch nach Moskau reisen, um Putin direkt und nicht am Telefon zu konfrontieren. Der russische Präsident will den Interessenausgleich mit den Mächtigen; bei einer weiteren Eskalation kann er politisch und ökonomisch nur verlieren. Sanktionen wirken nur mittelfristig, und sind deshalb zur Lösung der akuten Krise wenig hilfreich. Sie können aber die europäische Verhandlungsposition stärken.
Natürlich sollte die NATO in die Lage versetzt werden, das Baltikum und Polen gegen einen möglichen Angriff zu schützen. Gleichzeitig sollte sie nicht dazu dienen, in erster Linie abzuschrecken und damit in ihre alte Rolle aus dem Kalten Krieg zurückzufallen. Was eher gebraucht wird, ist ein festes Format, in dem mit Russland über harte Sicherheit geredet werden kann. Das hätte der NATO-Russland-Rat sein können, der von den NATO-Mitgliedstaaten (und Russland) nie ernsthaft entwickelt worden ist. Sicher könnte diese Rolle auch die OSZE übernehmen, doch Moskau nimmt diese im Sicherheitsbereich nicht ernst. Hier ein festes, von Moskau anerkanntes Format mit der NATO zu schaffen, wo über russische sowie ukrainische Sicherheitsinteressen gesprochen wird, ist zielführender, als mit den Säbeln zu rasseln.
Gleichzeitig kann man die Ukraine in ihrem Sicherheitsdilemma nicht allein lassen. Lazarette und Schutzwesten hätten schon längst verschickt werden können. Ebenso wichtig ist jedoch, die ukrainische Führung beim Neuaufbau ihrer Sicherheitskräfte sowie bei der technischen Modernisierung ihrer Armee langfristig zu unterstützen, ohne jedoch durch Waffenlieferungen einen Stellvertreterkrieg zu entfachen.
Das Verhältnis zwischen Russland und dem „Westen“ ist in eine neue Phase eingetreten. Der Westen muss jetzt Institutionen und Mechanismen schaffen, um einen Interessenausgleich zu ermöglichen, ohne jedoch seine Prinzipien zu verraten. Mit Putin reden heißt deswegen nicht, ihm nachzugeben. Diese ermöglicht auch ein realistischeres Bild von der Natur des von Putin geschaffenen politischen Systems. Institutionen und Mechanismen zu schaffen, die unter diesen neuen Bedingungen Austausch und einen Interessenausgleich ermöglichen, ist jetzt unsere Aufgabe.
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