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(picture alliance) EU-Parlamentspräsident Martin Schulz rät Europa zur Besonnenheit

Martin Schulz - „Europa leidet unter einer Nabelschau“

Wird der 6. Mai Europa nachhaltig verändern? Wird Frankreich Angela Merkel das Fürchten lehren? Und Griechenland die Europäische Union verlassen müssen? Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz rät zur Besonnenheit und warnt vor unüberlegten Schritten

Wie war Ihre erste Reaktion nach dem Machtwechsel in Frankreich?
Ich habe mich gefreut. Ich bin seit vielen Jahren mit François Hollande befreundet, und wenn ich befreundet sage, dann meine ich das auch so. Natürlich freut man sich, wenn ein guter Freund eine wichtige Wahl gewinnt. Allerdings hätte ich politisch auch mit einem anderen Präsidenten gekonnt …

… auch mit Nicolas Sarkozy?
Auch mit Sarkozy. Während der letzten französischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2008 habe ich sogar sehr gut mit ihm zusammengearbeitet.

Trotzdem steht Ihnen Hollande näher, schließlich ist er ja auch Mitglied der sozialdemokratischen Parteienfamilie. Sehen Sie die Linke in Europa nach der Wahl in Frankreich gestärkt?
Es ist natürlich eine Stärkung, wenn im zweitgrößten EU-Mitgliedsland die Linke die Macht erobert. Aber ob das Auswirkungen in anderen EU-Ländern haben wird, ist schwer vorauszusagen. Seit Beginn der Finanzkrise haben wir eine hohe Volatilität in der Politik, und ich fürchte, wir werden noch viele Überraschungen erleben. Bei den Bürgern gibt es eine große Verunsicherung. Ich empfehle daher, die Wahlergebnisse sehr sorgfältig zu prüfen, bevor man irgendwelche Schlüsse zieht.

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Neben den Linken sind auch extreme Rechte und Nationalisten auf dem Vormarsch. Macht Ihnen das Sorgen?
Die Nationalisten waren auf dem Vormarsch, doch das lässt schon wieder nach. Natürlich macht mir das Wahlergebnis von Marine Le Pen in Frankreich Sorgen, aber sie entscheidet die Wahlen nicht. Insofern hat sich die Lage beruhigt.

Wird der 6. Mai 2012 Europa verändern? Es wurde ja nicht nur in Frankreich, sondern auch in Griechenland gewählt …
Dieser Tag wird Europa ganz sicher verändern. Hollande wird andere Akzente in der EU setzen, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Die Bundesregierung hat(te) darauf ja (bereits) reagiert und sich bereit erklärt, an einem Wachstumsgipfel teilzunehmen. Da hat sich also schon einiges bewegt. Was Griechenland betrifft, so warne ich vor Schnellschüssen. Wir dürfen keine Parteien vom Dialog mit der EU ausschließen. Die nächste Regierung in Athen muss sich an die Zusagen gegenüber Brüssel halten, und Europa muss sich an die Zusagen für Griechenland halten. Wir dürfen die Geschäftsgrundlage nicht verändern. Wenn die EU, wie geplant, eine neue Wachstums- und Beschäftigungsstrategie bekommt, wird dies sicher auch die Lage in Athen entspannen.

Aus Berlin hört man aber auch andere Töne. Bundesfinanzminis­ter Wolfgang Schäuble hat Griechenland sogar den Austritt aus der EU nahegelegt, falls es die Sparauflagen nicht mehr einhalten sollte …
Ich rate zu einem offenen Dialog mit allen griechischen Parteien, die einen konstruktiven und demokratischen Kurs verfolgen.

Also halten Sie nichts von Schäubles Drohung?
Grundsätzlich gilt, dass man nach der Wahl keine schweren Geschütze auffahren sollte. Wir sind doch aufeinander angewiesen. Die Erfahrung zeigt, dass Drohungen immer in ihr Gegenteil umschlagen.

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Dennoch bleibt die Gefahr, dass Griechenland keine neue tragfähige Mehrheit findet und die Krise auf andere Euroländer ausstrahlt, wie so oft.
Wir sollten Griechenland eine faire Chance geben. Gemeinsam sind wir stark, aber wir können auch gemeinsam scheitern. Es wird schon jetzt massiv gegen den Euro gewettet, deshalb müssen wir aufpassen, dass wir die richtigen Signale geben. Wer dazu aufruft, Griechenland aus dem Euro zu werfen – was rechtlich ohnehin so gar nicht geht –, der gibt den Spekulanten erst richtig Zucker. Dann werden sie umgehend auch andere Länder aufs Korn nehmen, und das kann nicht in unserem Interesse sein.

Bei Wahlen haben eigentlich die Bürger das letzte Wort, und nicht die Märkte. Haben wir uns zu stark von den Märkten abhängig gemacht?
Die Bürger haben gewählt, jetzt sollten alle erst einmal Ruhe bewahren und die weitere Entwicklung abwarten. Wir haben schon vor der Wahl in Frankreich gehört, dass die Märkte möglicherweise negativ auf einen Machtwechsel reagieren würden. Doch zwischendurch sind die Kurse schon wieder hochgegangen.

Sie halten also nichts von der „marktkonformen Demokratie“, von der Kanzlerin Angela Merkel so gerne redet?
Nein, davon halte ich nichts. Wahlen sind ein souveränes Recht der Völker. Eine marktgerechte Demokratie kann es nicht geben, nur demokratiegerechte Märkte. Und so sollten sich auch alle verhalten und die Entscheidung der Wähler respektieren.

Die Märkte legen großen Wert auf den Fiskalpakt, den Merkel entworfen hat. Doch Frankreichs neuer Präsident Hollande fordert Änderungen. Ist der Fiskalpakt schon gescheitert, bevor er in Kraft getreten ist?
Nein, 25 EU-Staaten haben ihn ja unterschrieben, und er wird auch ratifiziert werden. Ich halte das auch für richtig, denn Budgetdisziplin ist zwingend erforderlich. Und zwar nicht nur wegen der hohen Verschuldung, sondern auch aus Gerechtigkeitsgründen. Es kann nicht angehen, dass jemand sich eine Villa auf Pump leistet, und seine Enkel müssen die Hypothekenzinsen bezahlen. Allerdings ist Sparen kein Selbstzweck. Das Geld, das wir durch den Abbau der Schulden sparen, darf nicht einfach gestrichen, sondern muss für Investitionen genutzt werden. Weniger Schulden bedeuten ja auch geringere Tilgungen und niedrigere Zinsen.

Gelten in der EU eigentlich noch Regeln? Erst wurden die Defizitregeln des Maastricht-Vertrags gebrochen, dann das Bailout-Verbot des Lissabon-Vertrags. Und nun steht schon wieder der Fiskalpakt zur Disposition …
Über die Entstehung des Fiskalpakts kann man diskutieren. Er wurde von Deutschland und Frankreich den übrigen Partnern aufgedrückt. Nun ist er aber von 25 Regierungschefs unterzeichnet worden, und auch die nationalen Ratifizierungsprozesse sind zum Teil weit gediehen. Das kann man nicht einfach ignorieren. Aber man kann, ja man muss den Pakt ergänzen um wachstums- und beschäftigungsfördernde Elemente. Es wäre zweifellos das Beste gewesen, diese Ergänzungen hätte man schon vorgenommen, als 1991 der Maastricht-Vertrag ausgehandelt wurde und sechs Jahre später der Euro-Stabilitätspakt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass Letzterer „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ heißt. Diesen Zweiklang haben manche leider vergessen.

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Sie sagen, der Fiskalpakt muss ratifiziert werden. Doch Hollande hat damit gedroht, genau dies nicht zu tun.
Nein, er will den Pakt nur dann nicht ratifizieren, wenn seine Forderungen zum Wachstum und zur Beschäftigung, insbesondere zur Jugendarbeitslosigkeit, nicht erfüllt werden. Aber wir arbeiten ja bereits an einer Ergänzung des Fiskalpakts. Das war übrigens auch eine Forderung des Europaparlaments.

Werden Hollandes Forderungen von der SPD unterstützt, sprechen Sie sich vielleicht sogar bei der Ratifizierung des Fiskalpakts ab?
Den Ergänzungsbedarf sieht die SPD auch. Der Pakt benötigt verbindliche zusätzliche Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung.

Dazu gab es ja schon viele EU-Beschlüsse, und sie haben nicht viel gebracht. Aber was passiert, wenn es dabei wieder nur um Strukturreformen und Wettbewerbsfähigkeit geht?
Strukturreformen sind die eine Seite, Investitionen die andere. Wir brauchen dringend Investitionen, zum Beispiel in innovative Technologien, in erneuerbare Energien, transeuropäische Verkehrsnetze oder Breitbandnetze. Diese Investitionen müssen vom Staat angestoßen werden, von allein macht der Privatsektor das nicht.

Also wollen Sie, wie Hollande, frisches Geld in die Hand nehmen?
Europa leidet unter einer Nabelschau: Wir führen immer nur die Schuldendebatte und keine Zukunftsdebatte. Natürlich muss man für Investitionen Geld in die Hand nehmen, aber dafür braucht man nicht die Notenpresse anzuwerfen. Der italienische Premierminister Mario Monti zeigt, dass man mit relativ kleinen Summen große Dinge anstoßen kann. Außerdem können wir die Europäische Investitionsbank (EIB) nutzen. Ich bin dafür, der EIB mehr Mittel zu geben, genau wie auch Hollande dies verlangt.

Hollande hat gesagt, Deutschland bestimme nicht allein in Euro­pa. Wie geht es nun nach den Wahlen in Frankreich weiter, muss Merkel ihren Führungsanspruch aufgeben?
Deutschland und Frankreich müssen sich immer arrangieren. Das war bei François Mitterrand und Helmut Kohl so, das wird bei Hollande und Merkel nicht anders sein. Die deutsch-französische Zusammenarbeit war noch nie von der Parteipolitik abhängig, unabhängig von jüngsten Verabredungen vor nationalen Wahlen.

[video:Merkel und Hollande - Wie steht es um die deutsch-französische Harmonie?]

Will Merkel das deutsche Europa?
Nein, ich interpretiere es eher als Zeichen, dass es eine europäische Innenpolitik gibt. Die Konservativen haben sich abgesprochen, einander zu helfen, und die Sozialdemokraten haben dies auch getan. Allerdings gebietet es die Vernunft, sich auch über Lagergrenzen hinweg zu treffen.

In der Finanz- und Schuldenkrise sind schon elf Regierungen gestürzt. Manchmal hat man den Eindruck, das letzte Wort haben nicht die Bürger, sondern abgehobene EU-Politiker oder aggressive Spekulanten. Ist die EU noch demokratisch?
Ich kämpfe bis zur letzten Faser dafür, dass die Bürger das letzte Wort haben.

Bei den großen Entscheidungen zur Eurorettung spielt das Europaparlament aber kaum eine Rolle. Sie wollen das ändern – aber wie?
Indem ich unablässig auf den schwer erträglichen Zustand hinweisen werde, dass wir es in dieser Finanzkrise de facto mit parlamentsfreien Zonen zu tun haben; indem ich nicht aufhören werde, für das Europaparlament das Königsrecht aller Parlamente anzumahnen: die Mitsprache beim Haushalt.

2014 wird ein neues Europaparlament gewählt. Wird die EU dann endlich mehr Demokratie wagen, zum Beispiel mit einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten?
Wir bräuchten für die nächsten Europawahlen mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit. Es liegt ja ein Vorschlag auf dem Tisch, die aktuelle Position von Herrn Van Rompuy und von Herrn Barroso, also Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates zusammenzulegen. Das würde bedeuten, dass der Präsident der Kommission auch den Vorsitz bei den Staats- und Regierungschefs führt. Ich halte es für vernünftig, darüber nachzudenken. Der Präsident der Europäischen Kommission, der eine Art Regierungschef von Europa werden wird, sollte durch das Europäische Parlament gewählt werden. Dann wissen die Bürger auch, wohin ihre Stimme geht: Möchte ich einen linken Kommissionspräsidenten, dann wähle ich eine linke Partei. Möchte ich einen rechten, dann wähle ich eine rechte Partei. Aber ich weiß, was mit meiner Stimme geschieht! 

 

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