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(picture alliance) Da haben sich zwei gefunden: Putin und Berlusconi

Schamloses Regieren - Die Diktatur der Clowns

Langsam, aber sicher breitet sich das Virus des autoritären Kapitalismus über den ganzen Globus aus. Wladimir Putin und Silvio Berlusconi sind bei diesem Kulturbruch die neuen Archetypen für schamloses Regieren auf eigene Rechnung

Wenn es eine Person gibt, so Peter Sloterdijk, der man in 100 Jahren Denkmäler setzen wird, so ist dies Singapurs Ex-Premier Lee Kuan Yew, der Erfinder und Begründer des sogenannten „Kapitalismus mit asiatischen Werten“. Das Virus dieser autoritären Form des Kapitalismus ist dabei, sich langsam, aber sicher über den ganzen Globus auszubreiten. Bevor Deng Xiaoping mit seinen Reformen begann, besuchte er Singapur und pries das Land ausdrücklich als Vorbild, dem China folgen solle. Dieser Wandel ist von welthistorischer Bedeutung: Bislang schien der Kapitalismus untrennbar mit der Demokratie verbunden zu sein – natürlich gab es von Zeit zu Zeit Rückfälle in die direkte Diktatur, doch nach ein bis zwei Jahrzehnten setzte sich die Demokratie wieder durch (denken wir nur an die Beispiele Südkoreas oder Chiles). Heute dagegen ist diese Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus unterbrochen.

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Das bedeutet natürlich nicht, dass wir die Demokratie zugunsten des kapitalistischen Fortschritts aufgeben sollten – wir sollten uns jedoch den Beschränkungen der parlamentarisch- repräsentativen Demokratie stellen. Walter Lippmann, die Ikone des amerikanischen Journalismus des 20. Jahrhunderts, spielte eine Schlüsselrolle für das Selbstverständnis der US‑Demokratie. Trotz seiner fortschrittlichen politischen Haltung (er setzte sich beispielsweise für eine faire Politik gegenüber der Sowjetunion ein) vertrat er eine Theorie der öffentlichen Medien, die einen beklemmenden Wahrheitseffekt hat. Er prägte den Begriff des „manufacturing consent“, der Fabrikation von Konsens, der später durch Chomsky berühmt wurde – allerdings fasste Lippmann ihn positiv auf.

In seinem Buch „Public Opinion“ aus dem Jahr 1922 („Die öffentliche Meinung“, 1964) schrieb er, dass sich eine „herrschende Klasse“ erheben und der Herausforderung stellen müsse – er sah die Öffentlichkeit wie Platon als große Bestie oder verwirrte Herde, die sich im „Chaos lokaler Meinungen“ verrennt. Folglich müsse die Herde der Bürger von einer „spezialisierten Klasse“ regiert werden, „deren Interessen über die Örtlichkeit hinausreichen“ – diese elitäre Klasse solle als Wissensmaschinerie fungieren und so den Hauptmangel der Demokratie umgehen: das unmögliche Ideal des „omnikompetenten Bürgers“. Das ist die Art und Weise, wie unsere Demokratien funktionieren – mit unserer Zustimmung. An Lippmanns Äußerungen ist nichts Mysteriöses, sie verweisen auf offenkundige Tatsachen; das Mysteriöse ist, dass wir darum wissen und das Spiel dennoch mitspielen. Wir tun so, „als ob“ wir frei wären und uns frei entscheiden könnten und akzeptieren dabei nicht nur stillschweigend, sondern „fordern“ regelrecht, dass ein (in die Form unserer freien Rede eingeschriebenes) unsichtbares Gesetz uns diktiert, was wir tun und denken sollen. Wie Marx bereits vor langer Zeit erkannte, liegt das Geheimnis in der Form selbst.

In diesem Sinne ist in einer Demokratie jeder normale Bürger ein König – aber ein König in einer konstitutionellen Demokratie: ein König, der nur formell entscheidet und dessen Funktion darin besteht, Verordnungen zu unterzeichnen, die ihm von der ausführenden Verwaltung vorgelegt werden. Das Problem demokratischer Rituale gleicht daher dem großen Problem der konstitutionellen Monarchie: Wie lässt sich die Würde des Königs wahren? Wie kann man den Anschein aufrechterhalten, dass der König tatsächlich entscheidet, obwohl jeder weiß, dass es nicht so ist? Was wir die „Krise der Demokratie“ nennen, entsteht folglich nicht, wenn die Leute aufhören, an ihre eigene Macht zu glauben, sondern, im Gegenteil, wenn sie den Eliten nicht mehr vertrauen, die sich an ihrer Stelle auskennen und die Marschrichtung vorgeben sollen, wenn bei den Leuten die Angst aufkommt, dass „der (wahre) Thron leer ist“ und die Entscheidung nun „wirklich“ bei ihnen liegt. „Freie Wahlen“ beinhalten demnach also immer einen minimalen Aspekt von Höflichkeit: Die Machthabenden tun höflich so, als hätten sie nicht wirklich die Macht, und bitten uns, frei zu entscheiden, ob wir sie ihnen geben wollen.

Es gibt keinen Grund, demokratische Wahlen zu verachten; es ist nur wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass sie nicht per se ein Indikator der Wahrheit sind – gewöhnlich spiegeln sie mehr oder weniger die von der hegemonialen Ideologie bestimmte Doxa wider. Sehen wir uns ein Beispiel an, das sicher nicht problematisch ist: Frankreich im Jahr 1940. Sogar Jacques Duclos, der zweite Mann in der Kommunistischen Partei Frankreichs, gab in einem vertraulichen Gespräch zu, dass, wenn damals freie Wahlen in Frankreich abgehalten worden wären, Marschall Pétain mit 90 Prozent der Stimmen gewonnen hätte.

Als de Gaulle sich in einem historischen Akt weigerte, die Kapitulation vor Deutschland anzuerkennen, und weiter Widerstand leistete, erklärte er, dass er allein, nicht das Vichy-Regime, im Namen des wahren Frankreich spreche (im Namen des „wahren“ Frankreich, nicht nur im Namen der „Mehrheit der Franzosen“!); er sprach damit eine tiefe Wahrheit aus, obwohl er keine „demokratische“ Legitimation besaß und sogar eindeutig im Widerspruch zur Mehrheit des französischen Volkes handelte. Es kann demokratische Wahlen geben, die ein Wahrheitsereignis darstellen – Wahlen, bei denen die Mehrheit plötzlich aus der skeptisch-zynischen Trägheit „erwacht“ und gegen die hegemoniale ideologische Meinung stimmt; die Tatsache, dass ein solch überraschendes Wahlergebnis eine Ausnahmeerscheinung bleibt, zeigt allerdings, dass Wahlen als solche kein Medium der Wahrheit sind.

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Dieses authentische Potenzial der Demokratie verliert nun mit dem Aufstieg des autoritären Kapitalismus, der immer weiter Richtung Westen vordringt – natürlich immer in Übereinstimmung mit den „Werten“ des jeweiligen Landes –, an Boden: Putins Kapitalismus mit „russischen Werten“ (brutale Machtdemonstrationen), Berlusconis Kapitalismus mit „italienischen Werten“ (lächerliche Posen) … Sowohl Putin als auch Berlusconi regier(t)en in einer Demokratie, die zunehmend zur leeren, ritualisierten Hülse ihrer selbst wird, und beide erfreu(t)en sich trotz der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation großer Unterstützung im Volk (über zwei Drittel der Wähler). Da nimmt es nicht wunder, dass sie auch persönlich befreundet sind. Beide neigen zu gelegentlichen „spontanen“ skandalösen Ausbrüchen (die zumindest bei Putin von langer Hand geplant sind, damit sie zum russischen „Volkscharakter“ passen). Hin und wieder benutzt Putin gern unflätige Ausdrücke oder stößt obszöne Drohungen aus – als ihm vor ein paar Jahren ein westlicher Journalist unangenehme Fragen über Tschetschenien stellte, raunzte Putin zurück, wenn er noch nicht beschnitten sei, so lade er ihn herzlich nach Moskau ein, wo es ausgezeichnete Chirurgen gebe…

Die Figur Berlusconi war ebenso von zentraler Bedeutung, denn das Italien unter seiner Führung stellte eine Art Versuchslabor für unsere Zukunft dar. Angesichts der Spaltung der politischen Szene in einen permissiv-liberalen Technokratismus und einen fundamentalistischen Populismus besteht seine große Leistung darin, die beiden zu vereinigen und beides gleichzeitig zu sein. Diese Kombination machte ihn – zumindest für lange Zeit – unschlagbar. Die Überreste der italienischen „Linken“ nahmen ihn resigniert als „Schicksal“ hin. Diese stumme Akzeptanz Berlusconis ist vielleicht der traurigste Aspekt seiner Regierungszeit. Sie steht gewissermaßen für eine Demokratie der kampflosen Sieger, die durch zynische Demoralisierung regieren.

Was Berlusconi als politisches Phänomen so interessant macht, ist die Tatsache, dass er als der mächtigste Politiker seines Landes zunehmend schamloser agierte: Nicht nur, dass er juristische Ermittlungen über seine kriminellen Machenschaften einfach ignorierte oder politisch neutralisierte, um seine privaten Geschäftsinteressen voranzutreiben; er unterminierte auch systematisch die grundsätzliche Würde des Staatsoberhaupts. Klassischerweise basiert die Würde der Politik darauf, dass diese über das Spiel der Partikularinteressen in der bürgerlichen Gesellschaft erhaben ist: Die Politik ist der bürgerlichen Gesellschaft „entfremdet“, sie präsentiert sich als Idealsphäre des „Citoyen“ und als Gegensatz zu den egoistischen Interessenkonflikten, die die Sphäre der „Bourgeois“ charakterisieren. Berlusconi hat diese Entfremdung praktisch abgeschafft: In Italien wurde die staatliche Macht direkt vom gemeinen Bourgeois ausgeübt, der sie rücksichtslos und unverhohlen als Mittel zum Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen benutzte und die schmutzige Wäsche seiner privaten Ehekonflikte im Stil einer vulgären Realityshow vor Millionen von Menschen wusch, die an ihren Fernsehgeräten alles mitverfolgten.

Bei seinen Anstößigkeiten setzte Berlusconi natürlich darauf, dass die Menschen sich mit ihm identifizieren würden, insofern er das überdimensionale mythische Bild des Durchschnittsitalieners abgab: Ich bin einer von euch, ein bisschen korrupt, habe Ärger mit dem Gesetz, kriege Probleme mit meiner Frau, weil mich andere Frauen anziehen … Sogar seine grandiose Selbstinszenierung als großer, nobler Politiker, als „il cavalliere“, glich eher dem lächerlich opernhaften Traum des armen Mannes von wahrer Größe. Doch sollten wir uns von diesem Anschein eines „normalen Menschen wie wir alle“ nicht täuschen lassen: Hinter der Clownsmaske steckte eine Staatsmacht, die mit schonungsloser Effizienz operierte.

Auch wenn Berlusconi ein würdeloser Clown sein mag, sollten wir daher nicht zu sehr über ihn lachen – vielleicht spielen wir nämlich dadurch schon das entsprechende Spiel mit. Sein Lachen ähnelte eher dem obszön- irren Lachen der Gegenspieler von Filmsuperhelden wie Batman oder Spiderman – um uns ein Bild davon zu machen, wie Berlusconi regiert hat, sollten wir uns vorstellen, jemand wie der Joker aus Batman wäre an der Macht. Das Problem ist, dass die Kombination aus technokratisch-ökonomischer Verwaltung und alberner Fassade alleine nicht ausreicht: Es ist noch etwas anderes nötig, nämlich Furcht – und hier kommt Berlusconis zweiköpfiger Drache ins Spiel: Einwanderer und „Kommunisten“ (Berlusconis Sammelbezeichnung für jeden, der ihn angriff, einschließlich der rechtsliberalen britischen Wochenzeitschrift The Economist).

Oriana Fallaci (die Berlusconi ansonsten eher wohlwollend gegenüberstand) schrieb einmal: „Wahre Macht braucht weder Arroganz noch einen langen Bart oder eine bellende Stimme. Wahre Macht erwürgt einen mit Seidenbändern, Charme und Intelligenz.“ Man muss dieser Aufzählung nur noch eine Portion dummer Selbstverspottung hinzufügen, dann ist man bei Berlusconi. „Kung Fu Panda“, eine Animationskomödie, die 2008 zu einem Kassenschlager wurde, liefert die Grundkoordinaten der Funktionsweise von Ideologie in der heutigen Zeit. Der dicke Pandabär träumt davon, ein ehrwürdiger Kung-Fu-Krieger zu werden, und als er durch einen blinden Zufall (hinter dem natürlich die Hand des Schicksals steckt) zum Helden auserwählt wird, der seine Stadt retten soll, hat er tatsächlich Erfolg.

Der pseudofernöstliche Spiritualismus des Films wird allerdings permanent durch einen zynisch vulgären Allerweltshumor unterminiert. Das Überraschende ist, dass dieses ständige Sich-selbst-durchden- Kakao-Ziehen die Wirkung des fernöstlichen Spiritualismus überhaupt nicht beeinträchtigt – der Film nimmt das Ziel seiner endlosen Scherze letztlich ernst. „Kung Fu Panda“ erinnert insofern an eine berühmte Anekdote über Niels Bohr: Als sich ein Forscherkollege, der Bohr in seinem Landhaus besucht, überrascht über ein Hufeisen über dessen Tür zeigt und erklärt, er teile nicht den Aberglauben, dass dies böse Geister vertreibe und Glück bringe, kontert Bohr: „Ich glaube auch nicht daran; es hängt da, weil man mir gesagt hat, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt!“

Auf diese Weise wirkt Ideologie heute: Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit, und dennoch praktizieren wir sie, das heißt, wir demonstrieren unseren Glauben an sie, weil wir annehmen, dass sie auch wirken, wenn man nicht an sie glaubt. Deshalb war Berlusconi unser großer Kung Fu Panda. Vielleicht stößt das alte Bonmot der Marx Brothers („Dieser Mann sieht aus und benimmt sich wie ein korrupter Idiot, aber lassen Sie sich nicht täuschen – er ist ein korrupter Idiot!“) hier an seine Grenzen: Berlusconi war zwar, was er zu sein schien, aber dennoch war diese Erscheinung trügerisch

Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem Buch „Demokratie? Eine Debatte“, das am 13. August bei Edition Suhrkamp erscheint. Aus dem Englischen von Frank Born

Slavoj Žižek ist ist Philosoph und weltweit bekannter Kapitalismuskritiker. Er wurde 1949 in Slowenien geboren und unterrichtet an der University of London.

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