- Der Rückzug und die Folgen
Der Abzug der Deutschen aus Kundus stellt die Afghanen vor eine Bewährungsprobe. Sie müssen nun selbst für Sicherheit sorgen. Doch wie sind die Voraussetzungen?
Die Bundeswehr hat ihren Einsatz in der nordafghanischen Provinz Kundus nach zehn Jahren beendet. Am Sonntag übergaben Verteidigungsminister Thomas de Maizière und Außenminister Guido Westerwelle das Feldlager offiziell an die afghanischen Sicherheitskräfte. Bis Ende des Monats verlassen die noch 900 deutschen Soldaten den Standort und wechseln ins letzte Bundeswehr-Feldlager in Nordafghanistan, ins Camp Marmal in Masar-i-Scharif. Für den Notfall bleibt in Kundus ein abgeschottetes Gelände für maximal 300 Soldaten der Bundeswehr reserviert.
Mit welcher Bilanz ziehen die Deutschen ab?
Seit 2002 waren rund 100 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan im Einsatz, viele von ihnen gleich mehrfach.
Derzeit sind es ungefähr noch 4000. Nach Einschätzung von Verteidigungsminister de Maizière sei die Bundeswehr von Kundus wie von kaum einem anderen Ort geprägt worden. Seit Beginn des Einsatzes vor zehn Jahren seien dort mehr als 20 000 deutsche Soldaten stationiert gewesen. Im Raum Kundus starben 25 Bundeswehr-Soldaten. Insgesamt kamen beim Afghanistaneinsatz bislang 54 Bundeswehrsoldaten ums Leben, 35 von ihnen starben bei Angriffen und Anschlägen, die anderen durch Unfälle, Krankheiten oder Selbstmord.
Wie ist in der Region die Situation heute?
Als die Bundeswehr Kundus übernahm, galt der Norden Afghanistans noch als eine der sichersten und ruhigsten Regionen. Die Soldaten spazierten damals noch durch die Stadt. Doch über die Jahre änderte sich dies fundamental. Die Angriffe auf deutsche Patrouillen mehrten sich, immer häufiger wurden deutsche Soldaten in Gefechte verwickelt. „Die Lage im Land ist sehr kompliziert“, sagt sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN). Anschläge seien dort auch mehr als zehn Jahre nach dem Einmarsch internationaler Truppen an der Tagesordnung. „Afghanistan ist von Stabilität und Frieden weit entfernt.“ Die Region Kundus sei dafür ein Paradebeispiel, sagt Ruttig: Im umkämpften Distrikt Chardara etwa, wo die Bundeswehr im September 2009 zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen bombardierte, seien die Aufständischen trotz massiver internationaler Gegenwehr stärker denn je.
Die internationale Afghanistan-Mission wird insgesamt zwiespältig eingeschätzt. Der Regionalkommandeur der Isaf-Truppen im Norden, Generalmajor Jörg Vollmer, sieht das Land auf gutem Weg. „Wir haben die afghanischen Sicherheitskräfte etwa auf 80 Prozent gebracht, die letzten 20 Prozent müssen sie nun allein schaffen“, sagte er der „Welt“. Dagegen bezeichnete der Grünen-Verteidigungspolitiker Omid Nouripour den Afghanistan-Einsatz in der „Bild am Sonntag“ als „gescheitert“. Es drohe ein „langer und blutiger Bürgerkrieg“.
Wie sind die afghanischen Sicherheitskräfte aufgestellt?
Nach jahrelanger Aufbauarbeit mit Hilfe internationaler Ausbilder können Afghanistans Armee (ANA) und Polizei mittlerweile wie geplant auf insgesamt 350 000 Mann zurückgreifen. Sie kämpfen nun in allen Teilen des Landes an vorderster Front – mit großen Verlusten. Seit die internationalen Sicherheitskräfte den Rückzug angetreten haben, richten sich die Angriffe der Taliban vor allem auf hiesige Einheiten, besonders auf Nationalpolizei (ANP) und Lokalpolizei (ALP), genauso wie auf Vertreter der Regierung, auf Verwaltungsbeamte, Richter oder Lehrer. Im Juli hatte der afghanische Innenminister Patang im Parlament zugegeben, dass allein von März bis Juli 2013 insgesamt 2748 Angehörige der afghanischen Polizei ermordet wurden. Armee und Polizei sind dem Kampf gegen die Aufständischen nur teilweise gewachsen. Afghanistans Armee etwa musste beim Einsatz gegen die Taliban bereits mehrfach bei der Nato Unterstützung aus der Luft oder am Boden anfordern: Den heimischen Streitkräften mangelt es sowohl an Spezialhubschraubern als auch an Flugzeugen, die Schwerverletzte bei Gefechten ausfliegen können. Daneben hätten die afghanischen Sicherheitskräfte aber auch immer noch mit Desertion zu kämpfen, sagt Afghanistan-Experte Ruttig. Manche werfen den schlechtbezahlten Job bei Armee und Polizei schon nach kurzer Zeit wieder hin.
Wie sieht die Bevölkerung den Rückzug der Deutschen?
Der Abzug der Deutschen schürt Angst in der Region. Die Menschen fürchten, dass das Land wieder in einen Bürgerkrieg schlittert. Einige packen bereits ihre Sachen, um Afghanistan zu verlassen. Offizielle Behördenvertreter verbreiten Optimismus. Die afghanische Armee sei in der Lage, die Taliban unter Kontrolle zu halten, versichern sie. Allerdings herrscht offenbar auch Verunsicherung bei den Soldaten: Einige von ihnen seien bereits zu den Taliban übergelaufen oder hielten Kontakte zu ihnen aufrecht, um sich im Falle einer Machtübernahme auf ihre Seite zu schlagen.
Was kommt nach dem Abzug der internationalen Truppen?
Die Nato will ihren Kampfeinsatz am Hindukusch bis Ende 2014 abschließen. Danach soll nur noch eine wesentlich kleinere Beratermission die afghanischen Sicherheitskräfte unterstützen. Bundesverteidigungsminister de Maizière geht davon aus, dass nach 2014 noch 600 bis 800 deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert sein werden. Voraussetzung für den Folge-Einsatz ist allerdings ein Truppenstatut. Die Verhandlungen über eine Mission „Resolute Support“ zwischen der Führungsnation USA und der afghanischen Regierung stocken jedoch seit langem, so dass auch ein vollständiger Abzug der ausländischen Truppen nicht ausgeschlossen ist. Ohne die USA gilt ein Einsatz am Hindukusch als nicht machbar. Vor einigen Jahren waren die USA bereits komplett aus dem Irak abgezogen, nachdem dort die Verhandlungen über ein Truppenstatut gescheitert waren.
Ungewiss ist auch das Schicksal der Afghanen, die in Diensten der Isaf standen. Viele von ihnen fürchten Racheaktionen wegen ihrer Zusammenarbeit mit den ausländischen Soldaten und hoffen auf Aufenthaltsgenehmigungen in den jeweiligen Ländern. Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa haben sich mehr als 200 einheimische Mitarbeiter der verschiedenen deutschen Regierungsstellen selbst als bedroht eingestuft. Nicht alle von ihnen wollten aber Afghanistan verlassen. Deutschland habe die Kriterien für die Aufnahme noch einmal erweitert. Bislang sei 23 konkret bedrohten sogenannten Ortskräften die Aufnahme in Deutschland angeboten worden. Vier davon seien aus Afghanistan ausgereist. (mit AFP)
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