- Das letzte Wort in der EU haben die Finanzmärkte
Demokratie im Zeichen der Krise. Während das Europäische Parlament ungestraft Acta zu den Akten legen kann, bleibt es in der Krisenbewältigung außen vor. Demokratische Institutionen können nicht mehr frei entscheiden, weil ein ökonomisches Desaster droht und eine Lösung ist nicht in Sicht
Mit der Demokratie ist das so eine Sache in Europa. Einerseits ist sie Alltag, wie die Ablehnung des umstrittenen Acta-Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums durch das Europaparlament zeigt. Dass sich eine überwältigende Mehrheit der Abgeordneten den Bedenken der Zivilgesellschaft und der Netzgemeinde anschloss, ist zweifellos ein Sieg für die Demokratie. Es ist sogar eine Art Demokratie 2.0, ein Sieg des Volkswillens in Zeiten des Internets und der virtuellen Realität. Andererseits entziehen sich immer größere Bereiche der Europapolitik demokratischer Entscheidung. Vor allem die Eurokrise hat eine riesige Grauzone entstehen lassen, in der weder nationale noch europäische Volksvertreter etwas zu sagen haben.
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Da werden Regierungen auf Geheiß der „Märkte“ abgesetzt, wie die Regierung Berlusconi in Italien. Da werden Volksabstimmungen abgeblasen, wie im letzten Herbst in Griechenland. Und da werden immer neue Regeln eingeführt, die das Königsrecht des Parlaments, das Budgetrecht, aushebeln.Postdemokratie nennt man das in der Politikwissenschaft. In dieser postmodernen Abart der klassischen liberalen Demokratie hat der Souverän, das Volk, nicht mehr viel zu melden. Er wird nur noch gebraucht, um die von den Experten vorgefassten Entscheidungen nachträglich abzunicken - Pardon: zu legitimieren.
Demokratischen Verfahren wird bloß noch eine instrumentelle Rolle zugemessen: Sie sind nützlich, wenn sie die Wünsche der Expertokratie oder der Märkte bestätigen - andernfalls werden sie so weit möglich umgangen. Wie das in der Praxis aussieht, hat der letzte EU-Gipfel in Brüssel gezeigt.Die demokratische Form wurde gewahrt: Noch vor Beginn der eigentlichen Beratungen der 27 Staats- und Regierungschefs durfte der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD) seine Sicht der Eurokrise darlegen und ein paar Wünsche äußern.
[gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]
Pikanterweise sprach er sich dabei für einen europäischen Schuldentilgungsfonds aus, wie ihn die Mehrheit der EU-Abgeordneten fordern - und der von Bundeskanzlerin Angela Merkel vehement abgelehnt wird. Das Europaparlament darf also etwas sagen, sogar Missliebiges und Anstößiges ist erlaubt.
Auf der nächsten Seite: In der Eurokrise hat daas Europäische Parlament nichts zu melden
Doch zu melden hat es nichts, jedenfalls nicht in der Eurokrise. Am eigentlichen EU-Gipfel nahm Schulz nicht mehr teil. Als es dann in die nächtliche Krisensitzung der Eurogruppe ging, übernahmen die Experten die Regie. Neben den „Sherpas“ der Chefs trafen sich auch Fachleute aus der Eurogruppe. Merkel gab zwar hinterher zu Protokoll, sie habe immer wieder das Gespräch mit dem italienischen Premier Mario Monti gesucht, ihrem Hauptkontrahenten in dieser Nacht. Doch die entscheidenden Details haben die Experten ausgehandelt. Das Ergebnis ist - noch mehr Macht für die Experten.
Bevor die umstrittene Bankenunion aufgebaut wird, soll eine neue europäische Bankenaufsicht entstehen, wahrscheinlich unter dem Dach der Europäischen Zentralbank EZB. Der Gewinner sind in diesem Fall die EZB-Experten (die jetzt schon über Überlastung wegen der Eurokrise klagen). Und bevor es neue Hilfen für Länder wie Italien gibt, soll die EU-Kommission künftig Empfehlungen auf Grundlage ihrer neuen detaillierten Länderberichte aussprechen. Der Gewinner dieses Deals ist die Brüsseler Behörde, die damit erneut an Macht gewinnt.
Immerhin: der Bundestag wird auch ein Wörtchen mitzureden haben. Er soll sowohl über dien Einrichtung der Bankenaufsicht als auch über neue Hilfen etwa für Spanien oder Italien befinden. Die deutschen Abgeordneten behalten also einen Teil ihrer Macht; in gewisser Weise gewinnen sie sogar an Einfluss, denn von ihrem Votum hängt nun auch das Schicksal der Südeuropäer ab.
Doch die MdBs müssen sich auf das Urteil der Experten in Frankfurt und Brüssel verlassen. Und die MEPs, die Europaabgeordneten, haben überhaupt nichts zu melden. Bei der geplanten gemeinsamen Bankenaufsicht bei der EZB verliert das Europaparlament sogar noch an Einfluss, kritisiert der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold. „Während die Einrichtung der neuen EU-Finanzaufsichtsbehörden vor zwei Jahren in voller Mitgesetzgebung auf den Weg gebracht wurde, soll nun auf der Basis von Artikel 127 (6) AEUV der Rat alleine entscheiden".
[gallery:Griechenland unter: Karikaturen aus zwei Jahren Eurokrise]
Im Klartext: die Europaabgeordneten bleiben außen vor, die geplante Neuregelung ist ein demokratischer Rückschritt, eine politische Regression. Dass dies nicht ewig so bleiben kann, ist zwar auch den EU-Granden klar. Man müsse die „democratic accountablity“ vergrößern, sagte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, bei der jüngsten Zinssenkung in Frankfurt. In seinem Masterplan für die Reform der Eurozone, den er gemeinsam mit Kommissionschef Barroso, Ratspräsident Van Rompuy und Eurogruppenchef Juncker vorgelegt hat, werden sogar grundlegende demokratische Reformen angemahnt. Doch wie die aussehen sollen, lassen die Eurochefs offen.
Der Verdacht liegt nahe, dass auch beim Umbau der Eurozone erst vollendete Tatsachen geschaffen werden, bevor die Volksvertreter die Entscheidungen abnicken dürfen. So war es in den ersten beiden Jahren der Eurokrise, und so dürfte es auch in Zukunft sein. Erst tagen die Experten in vertraulicher Runde, dann fassen die Chefs die Ergebnisse in scheinbar „alternativlose“ Beschlüsse - und erst danach, ganz zum Schluss, darf das Europaparlament mitreden. Das Acta-Abkommen ist übrigens auch dafür ein gutes Beispiel. Es wurde von Experten in einer „Koalition der Willigen“ ausgehandelt - unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Jahrelang tagten die Fachleute der EU-Kommission gemeinsam mit Amerikanern, Japanern und anderen hinter verschlossenen Türen.
Sie hatten dafür kein Mandat und entzogen sich demokratischer Kontrolle. Erst ganz zum Schluss kam das Europaparlament ins Spiel - da war das Abkommen längst fertig. Doch während man Acta ungestraft ablehnen kann, sieht es bei den geplanten Euro-Reformen anders aus. Jedes „Nein“, und sei es noch so demokratisch zustandegekommen und noch so berechtigt - kann fatale Folgen haben. Das gilt für ein „Nein“ zu Griechenland ebenso wie eine Ablehnung einer neuen Finanzarchitektur für den Euro. Denn das letzte Wort haben weder die Abgeordneten, noch die EU-Chefs oder ihre Experten.
Das letzte Wort haben die Finanzmärkte. Wenn sie den Daumen senken, kann die ganze Währungsunion auseinanderfliegen. Deshalb ist die Euroreform Chefsache. Und deshalb tut sich die EU in der Krise so schwer mit der Demokratie. „Eine marktkonforme Demokratie kann es nicht geben“, wandte EU-Parlamentspräsident Schulz unlängst im Interview mit dem „Cicero“ ein. Doch wie man die Demokratie gegen die Märkte durchsetzen kann, sagte er nicht.
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