- Wie Renditegier Nokia zerstörte
Nokia will wieder Handys anbieten: Frühestens Ende 2016 könnte es so weit sein. Ob das gelingt, ist mehr als fragwürdig: Im Renditehunger hatte der finnische Konzern die Welt abgegrast, immer der billigen Arbeit hinterher. Vor einem Jahr dann schluckte Microsoft Nokias Mobilfunksparte. Stationen eines Todeszugs
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An dieser Ecke hat sie immer gestanden und die Ampel verdammt. Gisela Achenbach musste weiter, sie war im Krieg, die anderen warteten, und diese blöde Ampel stand ewig auf Rot. Einmal ist sie einfach drübergebrettert. Dass zwei Polizisten sie rauswinkten, die Hand an der Waffe, vier Punkte in Flensburg: egal. Dass sie später geblitzt wurde, mit 30 Stundenkilometern zu viel, noch mal zwei Punkte in Flensburg: unwichtig. Wer in eine Schlacht zieht, darf nicht an die Straßenverkehrsordnung denken.
Jetzt wartet Gisela Achenbach, ehemalige Chefin des Betriebsrats von Nokia Bochum, bis es grün wird. Sie hat Zeit, den Krieg hat sie verloren, vor sechs Jahren war das, im Januar 2008. Es ist das erste Mal, dass Gisela Achenbach die Strecke wieder fährt, den Weg zu dem Gelände im Bochumer Norden, wo einmal mehr als 3000 Kollegen Handys für Nokia bauten. Sie sieht die Gesichter noch vor sich, die Hoffnung, die Enttäuschung. Und die Wut darüber, dass dieses Unternehmen so einfach fortzieht. Nokia.
Der Konzern hat Standorte aufgebaut und wieder aufgegeben. In immer kürzeren Intervallen. Aber die Strategie ist gescheitert. Vor einigen Wochen wurde Nokias Handysparte geschluckt, von Microsoft. Vor Weihnachten warb der US-Gigant schon mit dem Smartphone Lumia, das Nokia entwickelt hat.
Gisela Achenbach ist schnörkellos, gerade. Sie neigt nicht zur Gefühlsduselei. Aber mit jedem Meter kommen die Erinnerungen zurück, die Bilder. Sie setzt den Blinker und steuert ihren Opel Corsa ins Bochumer Gewerbegebiet. Die Straße mit dem feinen Belag, über den der Corsa gleitet, sei extra ausgebaut worden für die Firma, auf der die Hoffnungen ruhten. Noch mal rechts, dann parkt sie den Wagen an der Straße. Hier war es. Der Protest, die Sprechchöre, die Trillerpfeifen.
Gisela Achenbach redet jetzt, als liefe in ihrem Kopf ein Film, in dem sie die Offstimme ist. Da hinten, da sei der Werksarzt gewesen, da der Gemeinschaftsraum, da ihr Büro … Komisch, hierher zurückzukommen. „Das könnten meine Leute sein“, sagt sie, als ein Grüppchen Männer vorbeiläuft. „Vergessen kann ich das nie.“
Am Kampf der Betriebsratschefin Gisela Achenbach nahm vor sechs Jahren ganz Deutschland teil. Nokia hatte 88 Millionen Euro an Unterstützung aus öffentlichen Kassen für sein Werk in Bochum abgegriffen und machte sich nach nur sieben Jahren wieder davon. Der amtierende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers von der CDU sprach von einer „Subventionsheuschrecke“. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD kritisierte den „Karawanenkapitalismus“ – weil Nokia weiterzog auf der Suche nach billigeren Arbeitskräften.
Nokia beherrschte den Weltmarkt der Handys
Deutschland war empört. Nokia beherrschte den Weltmarkt der Handys. Fast jeder hatte ein Nokia-Handy in der Tasche. Nokia-Handys waren das, was heute Samsungs Galaxy und Apples iPhones sind. Wer etwas auf sich hielt, telefonierte mit dem Nokia 6310i. Sein Akku hielt ewig. Das Design war state of the art, die Firma der Stolz Finnlands.
Nach der Schließung von Bochum erklärten in einer Umfrage 56 Prozent der Deutschen, künftig keine Produkte der Marke mehr kaufen zu wollen. „Mir kommt kein Nokia-Handy mehr ins Haus“, sagte Kurt Beck, damals SPD-Chef. Verteidigungsminister Peter Struck ließ sich von seinem Haus ein anderes Gerät geben. Horst Seehofer, damals als Verbraucherminister, übertraf mal wieder alle und ließ seine Beamten prüfen, ob sie sein ganzes Ministerium Nokia-frei bekommen könnten.
Die Handy-Heuschrecke ist weitergezogen. Getrieben von ihrem Ziel, noch mehr, noch billiger zu produzieren. Getrieben vom Shareholder Value, dem Renditeinteresse der Aktionäre: Nach Jucu in Rumänien, nach Ungarn, nach China. Aber sechs Jahre nach Bochum ist die Wanderung der Handy-Heuschrecke um den Globus beendet. Nokia, wie wir es kennen, gibt es nicht mehr.
Den Weltmarkt beherrschen die Telefone der Firma schon lange nicht mehr. Nokia hat den Anschluss verpasst, die Entwicklung vom Tastenhandy hin zum Touch-Screen-Smartphone. Der Pionier ist ein Fossil geworden.
Nur manchmal noch poppt der Name Nokia hoch. Das Handy von Angela Merkel, das der US-Geheimdienst abhörte, war ein alter Nokia-Knochen, dem die
Kanzlerin treu geblieben war, weil sie auf diesem über die Jahre eine enorme Fingerfertigkeit im Simsen erworben hatte. Aber nur noch Merkel und ein paar Nostalgiker benutzen ein Nokia-Handy. Das Lumia, das Produkt für die neue Zeit, kam zu spät. Nokia, das Handy der Welt, ist verschlungen, gefressen, geschluckt vom Riesen Microsoft. Die Gesetze, nach denen Nokia handelte, holten das Unternehmen ein. In nur sechs Jahren vom Weltmarktführer zum Übernahmekandidaten. Wie kann das sein?
Auf den Spuren einer Handy-Heuschrecke, in Bochum, im rumänischen Jucu, in Helsinki.
Und in Düsseldorf. Jürgen Rüttgers hat sein Büro der Staatskanzlei gegen eines in einer renommierten Anwaltskanzlei eingetauscht, nur ein paar Hundert Meter rheinaufwärts.
Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und ein Mann, der in der CDU einmal zu denen zählte, denen man eine Kanzlerschaft zutraute.
Die Wintersonne steht flach über dem Rhein, der in Sichtweite majestätisch dahinfließt. Rüttgers ist nicht mehr der Landeschef, aber er war es in jenen Wochen, in denen Nokia in Bochum die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschte. Mit Gisela Achenbach hat er in den Tagen des Januar 2008 beinahe täglich telefoniert. Er flog mit dem Hubschrauber ein, wenn sie ihn zu einer Protestkundgebung rief. Rüttgers, der CDU-Mann, den sie „Arbeiterführer“ nannten, und Gisela Achenbach, die Betriebsratschefin.
Er erinnert sich an seine Auftritte vor Ort, an seine Ohnmacht. Er war Regierungschef, aber am Ende nur ein Spielball. „Du redest zu Leuten, die behandelt werden, wie man Mitarbeiter nicht behandelt und die alles schon erlebt haben, auch solche Politikerreden, wie du gleich selber eine hältst …“ Auch in Rüttgers kommen die Bilder wieder zurück, sein Blick schweift in Richtung Rhein. Diese Situation habe ihn bedrückt, jedes Mal, wenn er vor den Arbeitern sprach, als alles, was er tun konnte, war, der eigenen Maxime zu folgen: „Wenn du jetzt mit denen redest, nichts versprechen, was du nicht halten kannst.“
"Ich habe immer gesagt, dass dieser Neoliberalismus ins Elend führt"
Rüttgers sagt, Nokia sei ein exemplarischer Vorgang. Einer, der etwas lehre über unser globales Wirtschaftssystem, in dem Geld mit Geld verdient wird. „Ich habe immer gesagt, dass dieser Neoliberalismus ins Elend führt.“ Es sei klar, dass die Vorstände börsennotierter Unternehmen unter Druck stehen und diesen Druck weitergeben, das werfe er den CEOs gar nicht vor. „Aber dass keiner sagt: Das geht so nicht weiter! Das werfe ich ihnen vor.“
Das Werk in Bochum war profitabel. Aber für Nokia nicht profitabel genug. 16 Prozent hatte die Firma ihren Aktionären versprochen, 20 Prozent hatten die gefordert. Die Handy-Heuschrecke war auf ihrem Zug durch Europa getrieben vom Renditehunger ihrer Anleger.
2007 besuchte Rüttgers die Wall Street in New York. Ein Jahr vor dem Finanzcrash, ein Jahr vor dem Ende von Nokia in Bochum. Die Herren dort habe er gefragt: „Gibt es Regeln für die internationalen Finanzmärkte, und wer macht die?“ Selbstverständlich gebe es Regeln, hätten die Herren ihm gesagt, Standards. „Und diese Regeln machen wir!“
Ein zweites Erlebnis hat sich bei Rüttgers eingegraben. Ein Besuch in London, auch zu jener Zeit. Als er dort fragte, wie er sich die Arbeit im Finanzdistrikt der britischen Hauptstadt vorstellen müsse, da hätten ihm die Banker geantwortet: „Wie Wimbledon.“ „Wie Wimbledon?“, fragte Rüttgers. „Ja, wie Wimbledon“, sagten die Banker. „Da unten auf dem Court, da spielen die Inder und Pakistani, aber die Eintrittskarten und die Cola, die verkaufen wir!“
Das Prinzip Wimbledon hat Gisela Achenbach bei Nokia nicht gleich erkannt. Im Gegenteil. Die hellen Büros, die Gemeinschaftsräume – „wie im Paradies“, sagt sie über die erste Zeit bei Nokia. Dann aber wurde es schwieriger. Wieder und wieder flog die Betriebsrätin zu Konferenzen in Helsinki. Jorma Ollila, der frühere Chef, war weg. „Der Neue war knallhart, mit dem konnte man gar nicht sprechen.“
Plötzlich war nichts mehr übrig von den Prinzipien bei Nokia, die in einem firmeneigenen „Verhaltenskodex“ aufgeführt sind. Auf der Homepage der Firma stand damals das angebliche Erfolgsgeheimnis des Unternehmens: „Bei Nokia heißt es Mensch.“ „Teamgeist, Respekt vor dem Einzelnen, Fairness und offene Kommunikation“ sind angeblich „gelebte Werte“, sowie die „Verpflichtung zur sozialen Verantwortung“. Nokia wolle „zum Wohl der Gesellschaft beitragen“. Alles Lyrik, wie Gisela Achenbach bald schwante.
In dieser Zeit hat sie in Sitzungen Diagramme präsentiert bekommen. Die Personalkosten von Bochum türmen sich neben denen von Ungarn. 300 Euro im Monat für einen Mitarbeiter – „wie soll das gehen?“, fragt Achenbach ihre Bosse, „da ist bei uns ja die Sozialhilfe höher.“
Heute sagt sie: „Das hätten die doch selbst sehen können, dass das bei uns nicht geht.“
Was sie da noch nicht wusste: Das sahen diese Manager auch, und handelten längst. Dabei fuhren die Bochumer Sonderschichten. Statt der ursprünglich geplanten 16,3 Millionen Geräte seien von Juli bis Dezember 2007 18,7 Millionen Handys produziert worden. Bochum war hoch profitabel, die Rendite der Anleger von Nokia stieg auf sagenhafte 25 Prozent, der Nettogewinn des Unternehmens lag bei 7,2 Milliarden Euro. Rekord. 134 Millionen davon hatte das Werk in Bochum erwirtschaftet.
Und doch blickten die Manager nicht mit Wohlgefallen auf Bochum und seine Produktivität. Sie hatten ihre Fühler schon nach einer billigeren Krume ausgestreckt, auch in Richtung Jucu, einem rumänischen Dorf nahe der siebenbürgischen Stadt Cluj, früher Klausenburg.
Nokia ist der Name eines finnischen Flusses 200 Kilometer entfernt von Helsinki. 1865 wird dort eine Papierfabrik gleichen Namens gegründet. Aus dem Familienbetrieb wird ein Gemischtwarenkonzern. Stromkabel, Gummistiefel, Fernseher. Das war Nokia, bis sein Name für das Handy stand wie Tempo für Papiertaschentücher. „Nokias Geschichte basiert auf Wandel, Neuerfindung, Anpassung, technischen Fähigkeiten und gelegentlichen Katastrophen“, heißt es in einer Firmenchronik. Das Unternehmen habe mehr Comebacks gefeiert als Elvis Presley.
Aufkaufen! Expandieren! Die Welt erobern!
In all den Jahren wird Nokia immer wieder von Leuten gelenkt, die etwas Messianisches mitbringen. Anfang der achtziger Jahre trimmt der Chef Kari Kairamo das Unternehmen auf globale Expansion. Es gehe darum, der finnischen Idylle zu entkommen: Aufkaufen! Expandieren! Die Welt erobern!
Es ist der Größenwahn eines Gummistiefelherstellers. Kairamos Sucht nach Expansion wird manisch. Aber ebenso stark ist seine Depression. 1988 bringt er sich in der Badewanne um.
Danach: Taumel, freier Fall, die Banken drängen auf einen Verkauf an Ericsson, aber die Schweden wollen das marode Unternehmen nicht. Dann kommt zu Beginn der Neunziger Jorma Ollila, Anfang 40, voller Tatendrang. Weg mit Gummistiefeln und Papier, alle Kraft ins Handy.
In der Folgezeit geht Nokia auch nach Bochum, als Weltmarktführer für Handys. Eine große Zeit, und Ollila ist ein sanfter Herrscher. Jeder kann ihn ansprechen, er isst mit allen in der Kantine am Firmensitz Espoo nahe Helsinki.
Ollila wird Titelheld der Hochglanzmagazine, aber Mitte 2000 schlittert Nokia erneut in die Krise, weil es den Trend zu Handys mit Kamera und Touchscreen verschlafen hat. Neuer Chef wird Olli-Pekka Kallasvuo, der später den Standort Bochum schloss. Er ist der Mann, an dem Gisela Achenbach scheitern wird.
Als sie um das Werk kämpft, hat Achenbach auf einem europäischen Gewerkschaftskongress Kollegen aus Rumänien getroffen. Sie hat die Hoffnung erlebt, die sich dort auf den Untergang von Nokia in Bochum gründete. Sie hat die Rumänen gewarnt: „Drei Jahre gebe ich euch, mehr nicht.“
Jucu liegt auf einer kleinen Anhöhe über einem weiten Tal. Vom Fluss kommen zwei Angler ins Dorf zurück, einer schiebt ein Fahrrad die Dorfstraße hinauf, einen Eimer am Lenker. Zwei Schilder sind von Nokia stehen geblieben, in den Firmenfarben, weiß-blau. Sie weisen den Weg zu einem Kinderspielplatz. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, was 2008 das britische Trendmagazin Monocle notierte: Cluj, die nahe Kreishauptstadt, gehöre wegen Jucu zu den fünf Städten der Welt, die die meisten Schlagzeilen gemacht hätten.
„Nokia-Village“ war der Gewerbepark unten in der Ebene, der um Nokia herum wachsen sollte. Gewachsen ist fast nichts. Nur Bosch ist dazugekommen, und De’Longhi, ein italienischer Espresso-Maschinen-Hersteller, hat die Nokia-Halle übernommen.
In Jucu ist wieder alles wie früher. Und wie in einem anderen Jahrhundert. Ein Hahn kräht. Über die Schlaglochpiste, die in den Ort führt, rumpelt ein Pferdefuhrwerk. Ein vierschrötiger Mann spaltet Holz.
Bürgermeister Dorel Pojar sitzt in seiner leicht überheizten Amtsstube. Ein Mann mit wach blitzenden Augen. Er hört Lieder eines nach Kanada ausgewanderten rumänischen Schlagersängers. „Nokia“, sagt er, „das war der Weihnachtsmann.“ Der Ort bekam eine Kanalisation, die Hauptstraße wurde befestigt, ein Ärztehaus gebaut, eine Schule, der Spielplatz. 25 Prozent des Gemeindehaushalts kamen von Nokia.
Die Leute seien mit den 200 Euro zufrieden gewesen, die Nokia bezahlt habe, sagt Pojar. Busse von Nokia holten die Leute in den verstreuten Dörfern der Umgebung zur Arbeit ab, mittags gab es eine warme Mahlzeit. Man ging gern zu Nokia, es war die Zukunft. Zehn, 15, 20 Jahre, hatte Pojar gedacht, würde Nokia bleiben, warum baut man sonst so ein großes Werk?
Es wurden nicht mal vier Jahre. Am 11. Februar 2008, wenige Tage nach der letzten Schlacht um Bochum, produzierte Nokia in Jucu die ersten Handys. Ende September 2011 verkündeten die Finnen bei einer Betriebsversammlung das Ende.
Bürgermeister Pojar betrachtet das Intermezzo von Nokia im Dorf als „eine Lektion des harten Kapitalismus“. Ohne Groll. Er jedenfalls habe nichts tun können gegen die Entscheidung der Finnen.
Pojars Smartphone klingelt. Es ist ein Samsung. Daneben liegt ein iPhone. Die seien einfach besser zu bedienen als ein Nokia, sagt er, bevor er mit einer entschuldigenden Geste den Anruf annimmt.
Zurück auf der Dorfstraße. Heidi Badiu kommt gerade vom Einkaufen in der Stadt, weil es dort billiger ist als im Krämerladen im Dorf, ihr Mann hilft ihr mit den schweren Taschen. Sie laufen die hart gefrorene Straße entlang bis zu ihrem Häuschen auf einem Hügel am Rande des Dorfes. Fünf Kinder hat Heidi Badiu, zwei davon haben bei Nokia gearbeitet.
Finnen hätten den Ruf gehabt, Wort zu halten, sagt sie in ihrer Küche, während sie zwei Steigen Eier im Kühlschrank verstaut. Es gehe nicht um Hass oder Feindseligkeit. Es gehe um Enttäuschung. Damals, als Nokia in Jucu schon baute und sie die Bilder aus Bochum im Fernsehen sah, da staunte sie, als sie erfuhr, dass die Deutschen 2000 Euro im Monat verdienten. Als in Bochum Enttäuschung war, da war hier Freude, sagt sie. „Jetzt freuen sich wieder andere.“ Dort, wo es noch billiger ist. „Ich habe gar nicht gewusst, dass anderswo noch weniger verdient wird als hier bei uns. Jetzt weiß ich es.“
Zwei rumänische Gewerkschaftschefs kümmerten sich um die Katastrophe bei Nokia. Der eine vermittelt bis heute arbeitslosen Nokianern Umschulungen. Auf der Broschüre des Jobcenters ist der Nokia-Klassiker 6310i zu sehen, von dem aus Pfeile in eine neue Arbeitswelt weisen. Das Programm zahlt vor allem die Europäische Union.
Die Meute, die Nokia um die Welt gehetzt hat
Der andere heißt Valentin Ilcas. Das erste Mal dämmerte ihm, dass etwas passiert, als Nokia in Cluj das Forschungszentrum zumachte. So war es in Deutschland auch. „Mensch, uns könnte passieren, was in Bochum auch passiert ist.“ Kurz vorher, im Frühjahr 2011, hatte Nokia in Jucu noch beim großen Fest zum zehnmillionsten Handy bekannt gegeben, dass alles in Ordnung sei, dass 600 zusätzliche Leute angestellt würden. Zugleich wurde schon ein Werk in Vietnam angekündigt. Ein halbes Jahr später kam Nokia-Chef Stephen Elop persönlich nach Jucu und verkündete das Ende.
Ilcas ist der Mann, den Gisela Achenbach damals in Brüssel getroffen hat. „Ja“, sagt Ilcas, die Bochumer hätten sie gewarnt. Euch wird es gehen wie uns. „Sie hatte recht“, sagt er heute. „Aber was wäre die Alternative gewesen?“
Ilcas lächelt bitter. Dass Nokia jetzt von Microsoft geschluckt wird? „Das lässt mich kalt“, sagt er. „Vielleicht war Stephen Elop ja ein Trojanisches Pferd?“
Stephen Elop. Der Name fällt immer wieder, in allen Gesprächen. Er hat Nokias Handys als erster Nichtfinne an der Spitze des Unternehmens abgewickelt. Ein bulliger Kanadier, der physiognomisch gut Holzfäller sein könnte. Er kam von Microsoft, aus dem engsten Zirkel um Steve Ballmer, und dahin geht er jetzt auch wieder zurück. Zunächst als Chef der neuen Smartphone-Sparte. Aber auch als Ballmers mutmaßlicher Nachfolger. Neulich hat er der Welt das neue Gerät vorgestellt, das Nokia Lumia 2520. Seine Beute.
Man würde gerne wissen, was Elop über Bochum denkt, über Jucu, über den Weg dieser Firma, für die er die Verantwortung trägt. Aber selbst auf großer Bühne schweigt er, 2000 Kilometer nördlich von Jucu, in der alten Eishalle von Helsinki, die mit 5000 Besuchern gefüllt ist. Der Mann im Mittelpunkt sagt kein einziges Wort. „Mutiger Mann!“, twittert der Korrespondent der britischen Times spöttisch von der Pressetribüne.
An diesem 19. November wird die außerordentliche Aktionärsversammlung den Verkauf der Nokia-Handysparte an Microsoft beschließen. Ein formaler Akt. Die Großinvestoren sind sich längst einig. Die 5000 im Saal, und die anonymen Großaktionäre, das ist die Meute, die Nokia um die Welt gehetzt hat. Sie sehen gar nicht so aus. Gar nicht wie Leonardo DiCaprio als skrupelloser Finanzfiesling in Scorseses „Wolf of Wall Street“. Brave Leute, gekleidet in Beige- und Brauntönen. Ihre Stofftaschen haben sie an die Stuhllehnen gehängt. Die Musik perlt wie in einer Lichtsauna aus den Lautsprechern, aber die Stimmung ist gereizt. Wenn es um Geld geht, das eigene Geld, können auch Finnen in Beige und Braun zu Wölfen werden.
Elop sitzt in der ersten Reihe zwischen den Managern und den Aufsichtsräten, die sie kontrollieren sollen. Es geht um die Regularien, der erste Aktionär meldet sich zu Wort. Es sei unangebracht, dass der Vorstand den Aktionären den Rücken zuwende, wettert er.
Risto Siilasmaa ist der Interimschef, bis die Leute von Microsoft übernehmen, ein Finne aus dem Hause Nokia. Er muss erklären, wie es kam, dass Elop von Microsoft zu Nokia wechselte und dann – samt Nokia – wieder zu Microsoft zurückgekehrt ist. Für 5,44 Milliarden Euro geht Nokia an den US‑Konzern. 32 000 Beschäftigte wechseln gleich mit. Auf einem riesengroßen Bildschirm ist der Kaufpreis zu sehen. Eine Multimediashow in sphärischem Blau, die Gegenwelt zu den hart gefrorenen Schlaglöchern von Jucu, über die Pferdefuhrwerke mit Brennholz rumpeln.
Siilasmaa sagt, es sei nachvollziehbar, dass dieser Schritt, sich von der Handysparte zu trennen, „mit viel Emotionen aufgeladen sein wird“. Er klingt wie ein Therapeut in der Paarberatung.
Er beschreibt die Verhandlungen mit Microsoft in New York, London, Seattle, Helsinki. Die flankierende Arbeit der Investment Bank JP Morgan. Kritik an den 19 Millionen Euro, die Stephen Elop dafür bekommt, dass er dorthin zurückgeht, wo er herkommt, schmettert Siilasmaa ab. Auch die Frage, wieso ein Drittel dieser Summe von Nokia aufzubringen sei.
„19 Millionen Euro Abfindung?“, fragt ein Aktionär zornig. „Was ist der Grund für dieses Geld, wenn das Unternehmen so schlecht wie nie dastand unter ihm?“ Elop habe das Geschäft von Microsoft betrieben, mehr als einen Handschlag solle er nicht bekommen.
"Das Märchen von Nokia ist zu Ende!"
Warum man sich in die Abhängigkeit von Microsoft begeben habe, will ein anderer wissen. „In aller Kürze“, sagt ein weißhaariger Herr in einem Dreiteiler: „Das Märchen von Nokia ist zu Ende!“
„Wird uns das denn im nächsten Jahr Dividende bringen?“, fragt eine rothaarige Frau oben auf den Rängen. Eine gute Frage, eine berechtigte Frage, sagt Siilasmaa. Und beruhigt: Es wird. Auf Ramschniveau war Nokias Aktie gefallen. Seit Elop im September den Verkauf an Microsoft angekündigt hat, stieg die Aktie von drei auf fast sechs Euro.
Da meldet sich noch eine Aktionärin. Sie spricht vorsichtig, aber sie hat auch etwas Bestimmtes, wie eine Großmutter, der die Enkel nichts vormachen können. Sie habe sich noch nie auf einer Aktionärsversammlung zu Wort gemeldet, hebt sie an. Nokia sei ein Eckpfeiler Finnlands gewesen. „Als Frau frage ich Sie: Werden hier in Finnland weiter Steuern gezahlt? Bleiben Sie in Finnland, oder sind Sie schon auf dem Sprung ins Ausland?“
Siilasmaa schaut in ihre Richtung. Es gebe keine Pläne, Finnland zu verlassen. Der Satz klingt nach Bochum, nach Jucu.
Am selben Abend steht ein Bericht aus China online. In Dongguan gibt es ein Nokia-Werk. Hunderte chinesische Arbeiter protestieren gegen den Verkauf an Microsoft. Sie haben Angst.
Hinweis: In einer früheren Version hieß es, Nokia habe 72 Milliarden Euro Nettogewinn gemacht. Tatsächlich betrug er 2007 7,2 Milliarden Euro.
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