Teilnehmer einer Achtsamzeit
Teilnehmer einer „Achtsamzeit“ in Thüringen: Entschleunigung als Zauberwort / picture alliance

Fortschritt - Warum wir mehr und nicht weniger Mobilität brauchen

Grenzenlose Mobilität ist eine zentrale Errungenschaft der europäischen Einigung. Dennoch wird der Ruf nach Entschleunigung immer lauter. Mobilsein gilt vielen als Belastung oder gar als Bedrohung. Dabei wäre ohne Mobilität ein Fort-Schritt nicht möglich

Matthias Heitmann

Autoreninfo

Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Mobilität gilt als ein zentraler Wert der modernen Welt und vielen Menschen als eine entscheidende Grundbedingung für ein gutes Leben. Niemand will auf ewig und ohne Unterlass an seinem Heimatort bleiben. So gut wie jeden zieht es ab und zu „raus in die Ferne“, um etwas anderes zu sehen. Das zumindest temporäre Verschieben des Lebensmittelpunktes, gerne auch „Tapetenwechsel“ genannt, wird häufig mit der Hoffnung auf einschneidende Veränderungen verknüpft. Heute beschränkt sich Mobilität nicht nur darauf, dass man ab und an den Standort wechselt und auf Wanderschaft geht; sie ist selbst zum Alltagszustand geworden. Nicht wenige Menschen legen innerhalb einer Woche größere Strecken zurück als manch einer vor nur wenigen Generationen innerhalb einer ganzen Lebensspanne. Es wird erwartet, dass man beweglich und reisebereit ist: Nahezu alles, was Menschen früher an einem festen Ort taten, können sie heute „mobil“ tun: Arbeiten, fernsehen, telefonieren, im Internet surfen, einkaufen, Kontakte pflegen, ja sogar wohnen und „leben“, all das wird gerne von unterwegs erledigt.

Dennoch spüren wir, dass unsere Mobilität an Grenzen stößt und diese immer enger gezogen werden. Damit ist nicht in erster Linie der Stau im Berufsverkehr gemeint, der Reisen gleichwohl zu einer Qual machen kann. Es gibt noch schwerwiegendere Widerstände: Denn obwohl Mobilität als Grundvoraussetzung für das Leben in der modernen Welt gilt, wird sie gleichzeitig von vielen kritisiert. Die Kritik beschränkt sich dabei nicht nur auf die Art und Weise, wie wir mobil sind, sondern richtet sich zunehmend auch gegen unser generelles Streben nach immer größerer Beweglichkeit. Das Unterwegssein wird häufig mit Stress, Gehetztsein sowie mit einem Gefühl der Entwurzelung und Desorientierung verbunden. Dass Fehlen eines Ortes, eines fixen Bezugspunkts oder auch der Verlust einer persönlichen Heimat, wo unser Leben tatsächlich stattfindet, wird gerne als Begleiterscheinung übersteigerter Mobilität gedeutet.

Entschleunigung ist etwas für Ziellose

Auch das Gefühl, dass sich das Leben enorm beschleunigt habe und uns überfordere, gilt als Folge von zu viel Mobilität. „Entschleunigung“ lautet daher das moderne Zauberwort: Sie soll dazu führen, dass sich der vom rasenden Alltag geplagte Mensch zumindest kurzfristig an paradiesische Zustände erinnert – selbst wenn diese so zumeist nie existiert haben. Nicht wenige Sinnsuchende meinen daher, ihr Heil in Langsam- und Beschaulichkeit finden zu können. Kein Zweifel: Es ist  nur allzu menschlich, einfach einmal zu Hause bleiben zu wollen. Und doch stehen der Wunsch nach Entschleunigung sowie die Einschätzung, all unser Tun und ruheloses Mühen habe ohnehin wenig Sinn und Zweck, in direkter Verbindung zueinander und entwickeln sich parallel. Anders formuliert: Wer kein erstrebenswertes Ziel sieht, der empfindet Mobilität schnell als Belastung. Das Problem ist mithin nicht die Geschwindigkeit, es geht um den fehlenden (Orientierungs-)Sinn.

Die verbreitete Ambivalenz gegenüber Mobilität zeigt sich daran, dass sich ein Großteil der heutigen öffentlichen Auseinandersetzungen um Themen dreht, die etwas mit Mobilität zu tun haben: Brauchen wir wirklich eine neue Autobahn, eine Umgehungsstraße, einen neuen Bahnhof, eine neue Bahntrasse, einen neuen Flughafen oder eine neue Landebahn, und brauchen wir die ganzen Fahrzeuge, die sie benutzen sollen? Können wir uns nicht einfach alle ein wenig langsamer und vor allen Dingen weniger bewegen? Wäre es nicht besser, wir würden alle häufiger mit dem Fahrrad fahren, zu Fuß gehen oder zu Hause bleiben? Müssen wir wirklich im Sommer in ferne Länder fliegen? Wozu brauchen wir eigentlich die Raumfahrt, ist sie nicht eine völlig sinnlose Geldverschwendung? Brauchen wir wirklich eine Welt, in der wir nicht nur uns selbst, sondern auch alle möglichen Güter „mobil machen“ und am besten im Handumdrehen um den Globus transportieren? Im Verlauf solcher zum Teil sehr emotionalen Auseinandersetzungen wird klar: Wer heute Mobilität generell verteidigt, ohne direkt die konkrete Notwendigkeit zu belegen, gerät schnell in Konflikt mit dem als verantwortungsbewusst geltenden Zeitgeist, der Mäßigung, Entschleunigung und die Rückbesinnung auf das Langsame und Lokale predigt.

Mobilität braucht keine Rechtfertigung

Im Zentrum der Kritik an Mobilität steht der Verweis auf ihre schädlichen Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt. So wird häufig auf die Abfallprodukte menschlicher Mobilität sowie auf deren Einfluss auf den globalen Klimawandel hingewiesen. Aber auch regionale Umweltzerstörungen durch Mobilitätinfrastrukturen sind häufig Streitpunkt im politischen Diskurs. Auffällig ist, dass hierbei dann kaum noch zwischen umweltfreundlicheren und weniger umweltfreundlichen Mobilitätstechnologien unterschieden wird: Ganz gleich, ob es um den Ausbau eines Flughafens, einer Autobahn oder des Schienenverkehrs geht – der regionale Protest ist gleichermaßen heftig. Deutlich wird, dass sich hinter dem Verweis auf die bedrohte Natur noch andere Motive verbergen: Es ist das Misstrauen gegen Mobilität und gegen menschliche Infrastrukturen per se, das sich in der romantischen Verklärung der „unberührten“ Natur Bahn bricht. In der Abwägung mit dem Naturschutz werden die Bedeutung und auch der Sinn von Mobilität relativiert. Die Argumente lauten dann, dieses oder jenes Ausbauprojekt sei „zu laut“, „zu teuer“ oder schlicht und ergreifend „unnötig“.

Die Überzeugung, dass Mobilität an und für sich einen Sinn hat und für die Entwicklung eines jeden wie auch der Gesellschaft von unschätzbarem Wert ist, ist heute nicht sonderlich weit verbreitet. Dabei kann man doch gar eigentlich nicht mobil genug sein: Denn nur so kann man im wahrsten Sinne des Wortes die Dinge „von einer anderen Warte aus“ betrachten. Nicht zufällig findet der Begriff der Mobilität jenseits der räumlichen Dimension auch bei der Beschreibung unserer persönlichen und intellektuellen Fähigkeiten Anwendung: „Geistige Mobilität“ würde wohl niemand als „unnötig“ bezeichnen oder gar ernsthaft fragen, wofür sie gut sein soll. Dabei sind geistige und räumliche Mobilität direkt miteinander verbunden. Es ist kein reines Vorurteil, dass man von Menschen, die die Welt bereist haben, annimmt, sie hätten dadurch ihren „geistigen Horizont“ erweitert und verfügten über eine andere, weltoffenere Sicht auf die Wirklichkeit als die Daheimgebliebenen.

Die Freude am Er-Fahren ist menschlich

Natürlich macht das Reisen allein niemanden zu einem weltoffenen Durchblicker. Andererseits kann man aber konstatieren, dass es jemandem, der die Welt gar nicht sehen will, zumeist an geistiger Flexibilität, an Offenheit und an Neugier mangelt. In der grundlegenden Kritik an Mobilität und der dafür notwendigen Infrastrukturen steckt häufig eine sehr fundamentale Ablehnung des menschlichen Strebens nach „Fort-Schritt“, die nicht im Voranschreiten, sondern in der Rückbesinnung und im Rückzug eine positive Entwicklung sieht. Haltungen wie diese verkennen die Verwobenheit von räumlicher und geistiger Mobilität. Diese wird nicht zuletzt durch den Blick in die Geschichte bestätigt. Es ist kein Zufall, dass die Menschheit erst dann ein halbwegs schlüssiges Weltbild entwickeln konnte, als die Menschen über ein relativ breites Wissen über diese Welt verfügten und sie mit eigenen Augen gesehen hatten. In diesem Zusammenhang ist auch der eigentliche Nutzen der Raumfahrt zu betrachten: Die Erfahrungen, die hierdurch gemacht den, gehen weit über das Betreten des Mondes hinaus. Gerade durch das Verlassen der Erde haben wir unschätzbares Wissen über sie gewonnen, das jedem von uns im Alltag zugutekommt.

Was im Großen gilt, stimmt auch im Kleinen: Manchmal müssen wir „raus“, um zu erkennen, wie schön oder schrecklich oder beides die eigene Heimat ist. Reisen hilft dabei, Dinge realistisch einzuordnen und sich so besser zu orientieren. Wenn überhaupt, dann ist für das Gefühl von Orientierungslosigkeit und Entwurzelung eher fehlende Mobilität ausschlaggebend als ein Übermaß an Mobilität. Vielmehr erscheint denjenigen, die unter diesem Gefühl leiden, Mobilität als besondere Belastung und Bedrohung des eigenen Sicherheitsgefühls. Sich auf die Suche machen, frischen Wind spüren und auch mal gedanklich „Abstand von etwas gewinnen, sein Leben verändern und zu neuen Ufern aufbrechen wollen, sind jedoch zutiefst humane Bedürfnisse, wie auch der Kampf gegen die Fesseln des Alltags. Hierfür müssen wir nicht nur in jeder Hinsicht mobil sein, wir sollten sogar noch viel mobiler werden! Mobilität ist kein Luxus, sondern die Grundlage unserer Entwicklung und unserer gemeinsamen menschlichen Zivilisation.

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Marianne Bernstein | So., 26. Mai 2019 - 13:04

Oder wollen sie alle paar Jahre umziehen, Job für sich und ihre Frau suchen, Kinder in einer Schule anmelden, möglichst in einer Sprache in der sie schon mal unterrichtet worden?

Klar sollte jeder mal was von der Welt gesehen haben, wobei er ja aus ökologischen Grunden nicht fliegen sollte. Wenn sie aber eine Familie haben, dann werden sie sesshaft, einfach weil sie Stabilität im Leben brauchen für ihre Familie.
Ansonsten wird die westliche Welt austerben, weil keiner mehr Zeit für eine Familie hat.

Tomas Poth | Mo., 27. Mai 2019 - 15:18

Wer dauernd auf dem Weg nach irgendwo ist kommt nirgendwo an. Der tauscht nur die Plätze wo er seine Nahrung aufnimmt und sich schlafen legt.

dieter schimanek | Di., 28. Mai 2019 - 01:53

Weiß nicht wohin, weiß nicht wozu, mich wundert daß ichs trotzdem tu.
Die Verkehrswende ist doch geschafft, unsere Diesel fahren jetzt in Osteuropa. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Wenn wir alle erst einmal E-Mobil sind, tuckern unsere Benziner durch Afrika, als Entwicklungshilfe sozusagen. Tja, gewußt wie.