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Arbeit - Merkel stärkt Gewerkschaften

Seit dreißig Jahren verlieren die Gewerkschaften Mitglieder. Ihr Ende sieht der Wissenschaftler Robert Lorenz aber nicht aufziehen

Autoreninfo

Lisa Schneider studierte Politik-, Medien- und Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Prag.

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Herr Lorenz, in ihrem Buch „Gewerkschaftsdämmerung“ beschäftigen Sie sich mit dem kontinuierlichen Mitgliederschwund seit den 80er Jahren. Warum kommt die Gewerkschaft nicht in der Wissensgesellschaft an?
Das ist eine kulturelle Geschichte. Gerade die IG Metall organisierte schon immer die Arbeiter und hat daraus sowohl ihre hauptamtlich Angestellten als auch ihre Ehrenamtlichen rekrutiert. Das führte zu dem Problem, dass z.B. Ingenieure, die auch in dem Bereich arbeiten, aber ganz andere Qualifikationen, Hobbies und Lebenswelten haben, kaum rekrutiert werden konnten. Für die Mitgliedergewinnung ist immer der persönliche Kontakt ausschlaggebend und dazu fehlten die Funktionäre, die den gleichen Bildungs- und sozialen Hintergrund hatten.

In welchem Jahr schließt das letzte Gewerkschaftsmitglied das Werkstor?
Das Ganze kennt natürlich eine Grenze. Man kann von einem soliden Grundstock an Personen sprechen, die die Arbeit der Gewerkschaften für sinnvoll halten und sich rekrutieren lassen. Dass die IG Metall den Umschwung vom Mitgliederverlust zum Mitgliedergewinn geschafft hat, liegt daran, dass sie eine Art Kulturbruch vollzogen hat. Der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, widerspricht von seinem Lebenslauf her völlig dem IG Metall-Typ: er hat studiert, promoviert und war alleinerziehender Vater einer Tochter. Die IG Metall hat sich auch viel stärker als andere Gewerkschaften zu Experimenten entschlossen, indem zum Beispiel wie in der Politik Seiteneinsteiger zugelassen wurden und nicht nur Personen, die jahrelang im Betrieb waren.

Meinen Sie mit Gewerkschaftsdämmerung nun die Morgen- oder die Abenddämmerung?
Die Morgendämmerung.

Zählen die ehemals systemrelevanten Akteure mit einem Organisationsgrad von 15-20 Prozent nicht eher als Lobbyisten?
Die haben eine viel größere Reichweite, als ihre Mitgliederzahlen vermuten lassen! Die Gewerkschaften sitzen immer noch in vielen Institutionen sowie Gremien und können über die Betriebsräte innerhalb der Unternehmen Macht ausüben. Außerdem haben viele ihrer Tarifverhandlungen, die eigentlich nur für einen kleinen Bereich sind, eine Orientierungsfunktion.

Haben sie diese Reichweite zu recht?
Ja. Das hat sich auch in der Krise gezeigt. Die festeingestellten Facharbeiter, die seit vielen Jahren bei Opel, Mercedes oder VW arbeiten, also Hochburgen der IG Metall, wissen, dass die Gewerkschaft ihnen eine große Streikmacht verleiht und sie verteidigt. Sie fühlen sich in Krisenzeiten geschützt. Verdi dagegen ist eine Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, Beamte dürfen nicht streiken. Trotzdem sind viele Mitglied der Gewerkschaft, weil auch dort verhandelt wird, die Gewerkschaften eine Orientierungsfunktion haben und den DGB Rechtsschutz bieten. Und je mehr die Wirtschaft kriselt, Stichwort Kündigungen oder Standortschließungen, desto stärker wenden sich die Angestellten an die Gewerkschaft.

Vor wenigen Wochen streikten die Juristen der DGB Rechtsschutz AG . Sie fordern eine Gehaltserhöhung von 6,5 Prozent, eine Forderung, wie sie die DGB bei Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst selbst vertritt. Die DGB Rechtsschutz bot aber nur 0,9 Prozent. Karikiert die DGB ihre eigene Glaubwürdigkeit?
Ja, für eine Gewerkschaft ist das ein katastrophales Öffentlichkeitsbild. Das einzige Argument, das der DGB derzeit anführen kann, ist, dass er im Vergleich zu den Unternehmen, die er normalerweise mit den Worten kritisiert, die nun gegen ihn gerichtet sind, keine Gewinne erwirtschaftet, mit denen man die Gehaltserhöhungen rechtfertigen könnte. Der DGB verliert zudem immer noch viele Mitglieder und hat sinkende Einnahmen.

In den Gewerkschaften sind 6,2 Millionen Menschen organisiert, die rund ein Prozent ihres Bruttolohns abgeben. Wie klamm sind die Kassen des DGB?
Der DGB finanziert sich ja aus den Einzelgewerkschaften wie Verdi oder IG Metall und ist insofern von denen abhängig. Viele von ihnen wie die Verdi verlieren nach wie vor Mitglieder und der DGB hat in den 80er und 90er Jahren Strukturen aufgebaut, die er jetzt nicht mehr halten kann. Bei Unternehmen spräche man von Überkapazitäten – deren Abbau der DGB allerdings kritisieren würde. Gewerkschaften, die Mitglieder gewinnen wie die IG Metall, haben eine sinkende Zahlungsbereitschaft. Die sagen sich: „Viele Dinge, die der DGB für uns macht, könnten wir viel effizienter machen.“

Seite 2: Die Gewerkschaften im politischen Spektrum

Wenn jede Einzelgewerkschaft ihr eigenes Ding macht, bleibt von der ursprünglichen Idee der Arbeitersolidarität nichts mehr übrig.
Das kommt auf die Perspektive an. Das Ideal der gewerkschaftlichen Solidarität ist insofern ein Problem, weil das politische Spektrum innerhalb der Gewerkschaften weitläufig gesteckt ist. Das fördert Konflikte. Der mit Cockpit, der Gewerkschaft der Piloten, und den beamteten Ärzten, Marburger Bund, hat sogar dazu geführt, dass die ihre eigene Tarifpolitik machen. Das hat einen Vorteil: Die einzelnen Vereinigungen organisieren Leute, die ansonsten nie in der Gewerkschaft wären, nämlich Hochqualifizierte.

Das heißt, Sie befürworten die Zersplitterung der Gewerkschaften?
Genau, die wird es immer geben. In den letzten Jahren haben sich die Branchengewerkschaften durchgesetzt, jetzt gibt es die Rückkehr zu Berufsgewerkschaften. Damit gehen eine Aufweichung der Solidarität und eine Konkurrenz innerhalb der Gewerkschaften einher, die sich vor Gericht gegenseitig die Mitglieder wegklagen. Aber das ist nicht zu vermeiden.

Wofür bedarf es denn noch Gewerkschaften, wenn sich selbst ein konservativer Finanzminister wie Wolfgang Schäuble für höhere Lohnsteigerungen in Deutschland ausspricht?
Es ist ja noch ein Schritt von der Äußerung zur Umsetzung und Gewerkschaften würden von sich sagen, dass sie diese Zusagen überwachten. Auch bei Tarifverträgen gibt es viele Unternehmen, die die getroffenen Vereinbarungen in der Praxis unterlaufen. Dann können sich die betroffenen Arbeitnehmer an die Gewerkschaften wenden, die die Einhaltung stellvertretend einklagen. Insofern haben die Gewerkschaften trotz allem ihren Sinn und ihre Berechtigung.

Und wer ist künftig ihr politischer Partner? Michael Sommer bezeichnete Schwarz-Geld kürzlich in einem Handelsblatt-Interview als „Kann-nix-Koalition“. Die eigene politische Schwester vernachlässigt ihr Kernmilieu. Auf wen setzt die Gewerkschaft im Wahlkampf?
Das ist schwierig. Ausgerechnet unter Angela Merkel kehrten die Gewerkschaften an die Entscheidungsstätten der politischen Macht zurück. Sie organisierte eine Geburtstagsfeier für den IG Metall-Vorstandsvorsitzenden Berthold Huber. Das hätte es unter Gerhard Schröder nicht gegeben. Insofern werden die Gewerkschaften wohl weder für die SPD noch für die CDU eine stichhaltige Aussage treffen.

Klare Aussagen gab es kürzlich vom Führungsduo der Linken. Übereinstimmungen gibt es demnach u.a. bei der Regulierung des Arbeitsmarktes dem Mindestlohn und der Vermögensumverteilung. Warum knirscht es in der Traumbeziehung?
Die Gewerkschaften wollen sich von den Linken nicht parlamentarisch vertreten lassen, wenngleich die programmatischen Überschneidungen sehr stark sind. Aber innerhalb des DGB sind die linken Gewerkschaften nur eine Minderheit und die wissen auch, dass die Linken derzeit kaum eine Chance hat, an einer Regierungsbildung beteiligt zu werden.

Mit den Grünen wird es ja auch nichts. Die Gewerkschaften treten bei ihrem Kampf um Arbeitsplätze oft in Opposition zu den Grünen, die um die Umwelt kämpfen. Schließen sich Nachhaltigkeit und Gewerkschaften aus?
In den 80er Jahren waren Gewerkschaften wirklich alles andere als umweltbewusst, weil ihr Organisationsgrad in der Atom- und der umweltverschmutzenden Industrie sehr hoch war. Diese Industrie ist jetzt ohnehin geschrumpft und die Gewerkschaften haben alternative Rekrutierungsorte  in den Hochtechnologiebereichen gefunden, wie in der Solarindustrie. Habituell bleibt es aber schwierig, weil die Grünen viele Akademiker und Bürgerliche organisieren, die in den Gewerkschaften nach wie vor unterrepräsentiert sind.

In Ihrem Buch äußern Sie die Hoffnung, dass sich das ändert…
Reformfreudigkeit wird bei Gewerkschaften typischerweise dann hervorgerufen, wenn das Geld knapp wird. In der IG Metall hat sich die letzten fünf Jahre bereits viel verändert, weil die Organisation mit dem Mitgliederstand nicht mehr zu finanzieren war. Das fällt mit einem Generationswechsel unter den Funktionären zusammen. Die Alt-Gewerkschaftler konnten sich die Schwäche der Gewerkschaft gar nicht eingestehen, weil sie Meister der Verdrängung sind. Aber inzwischen ist so viel zusammengekommen: kein Geld, keine Mitglieder, der politische Machtverlust. Diese Faktoren haben dazu geführt, dass die Gewerkschaften nun tatsächlich umdenken und nicht nur davon reden.

Herr Lorenz, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Lisa Schneider.

Robert Lorenz: Gewerkschaftsdämmerung. Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften. Transcript Verlag, Bielefeld, 308 S., 29,80 €.

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