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Fracking-Boom in den USA - Schuften, schießen, scheffeln

In Williston in den USA beginnt ein neuer Abschnitt des Ölzeitalters. Das Fracking lässt die Stadt im Wilden Westen boomen. Eine Reportage vom Ground Zero einer in Deutschland hochumstrittenen Technologie

Autoreninfo

Mike Gerrity ist Reporter in Missoula, Montana. In Willinston erwog er kurz, als Ölarbeiter reich zu werden. Aber die Hektik des Ortes schreckte ihn ab

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Der zweispurige Highway führt durch das vertrocknete, braune Grasland der nördlichen Weiten von Montana, es geht durch eine stille Einsamkeit. Aber als die Straße die Grenze zu North Dakota passiert, brummt und dröhnt und wimmelt es. Da multiplizieren sich die Dinge zu einem Geschiebe und Getöse, aus zwei Fahrspuren werden vier, aus einem gewaltigen Laster werden 50, aus einem Pick-up werden 100.
Schotterpisten durchstechen den Highway, verstopft mit Tanklastern, deren Fahrer nervös auf eine Lücke warten, um die große Straße zu überqueren. Weit und breit steht keine Ampel, die den Verkehr regeln könnte. Linker Hand ragen die Skelette von Hotelneubauten in die Höhe, rechts bohren sich Förderanlagen in die Erde, darüber schimmern Gasflammen. Am Himmel schwebt ein Jet, der eine Ladung Arbeiter bringen wird. Der nächste folgt zehn Minuten später. Einst starteten und landeten auf dem hiesigen Flugplatz 6000 Flugzeuge im Jahr. Heute sind es 60.000.

Seit die Erdölindustrie ausgerechnet hat, dass die Schieferölvorkommen unter der Bakken-Formation im Norden der USA mit der Fracking-Technik rentabel ausgebeutet werden können, boomt die Ölförderung. Im Dezember 2012 wurden in North Dakota 770.000 Barrel pro Tag gefördert, mehr als doppelt so viel wie 2010, ein neuer Rekord. Nur Texas produziert mehr Öl in den USA. Tausende Arbeitslose kamen, und die Bevölkerung der einzigen Stadt in der Gegend verdoppelte sich auf 33.000 Einwohner. Inmitten der flachen, endlosen Landschaft ist ein Industriekessel entstanden, in dem es nach Öl und Diesel riecht.

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Willkommen in Williston, North Dakota, Ground Zero des Fracking. Hier zeigt sich, wie eine Technik alles verändern kann: nicht nur das Leben der Menschen vor Ort, sondern auch den Energiemarkt der Vereinigten Staaten. In Williston hat ein neuer Abschnitt des Erdölzeitalters begonnen.

Am Highway 85 stehen Unterkünfte, die aussehen wie Schiffscontainer mit Fenstern, umgeben von Maschendrahtzaun. Jeder Container hat zwei Einheiten aus zwei Einbettzimmern, die sich jeweils eine Dusche und eine Toilette teilen. Dort erholt sich der Ingenieur Ryan Frey von den kürzeren Zwölf- oder den langen 24-Stunden-Schichten. Die Wohneinheiten, hergestellt von Target Logistics, waren schon anderswo im Einsatz: In Basra beherbergten sie irakische Polizisten.

Dies ist eines der Männercamps, die entstanden sind, um die Wohnungsnot in Williston zu lindern. Noch vor kurzem waren sie für Sauforgien und Schlägereien zu jeder Tag- und Nachtzeit bekannt. Heute erinnert die Atmosphäre eher an ein mormonisches Studentenwohnheim. Am Tor sorgt ein Wächter dafür, dass nicht ein Tropfen Alkohol in die Unterkünfte gelangt.

Frey marschiert frisch geduscht über den Kiesschotter zur Kantine. Auf einem blauen Tablett bekommt er einen Riesenteller Steakstreifen, Spargel und Reis. Er lächelt, sagt „bitte“ und „danke“ und benimmt sich nicht, wie man es von einem erwartet, der gerade eine 24-Stunden-Schicht hinter sich hat. Arbeiter, die hier wohnen, können sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Kantine den Bauch vollschlagen, bevor sie weiterschuften.

Frey, 29 Jahre alt, hat an der University of Montana in Missoula Geowissenschaften studiert. Missoula ist jener Ort, in dem Robert Redfords Film „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ spielt, ein beschauliches Städtchen in paradiesischer Natur. Frey verdiente nach dem Diplom sein Geld damit, Touristen zum Fliegenfischen mitzunehmen. Aber vor anderthalb Jahren beschloss er, es mit seinem erlernten Beruf zu versuchen. „Ich wollte nicht als ergrauter Berufsangler enden“, sagt er.

Er wechselte die Welten. Die Firma Liberty Oilfield Services stellte ihn ein, um Fracking-Anlagen rund um Williston zu überwachen. Sein Job kostet so viel Zeit, dass er selten auf ein Bier ins Stadtzentrum fährt. „Wir sind hier, um zu arbeiten“, sagt er. „Ich würde sagen, von uns hier oben geht keiner in die Kneipe. Wir haben einfach keine Zeit dafür.“

 

Der Schatz der Bakken-Formation befindet sich zwischen zwei Schieferschichten, etwa drei Kilometer unter der Erdoberfläche, in einer dünnen, aber ausgedehnten Schicht aus Dolomitgestein. Jüngsten Prognosen zufolge könnten dort bis zu sieben Milliarden Barrel Öl lagern, doppelt so viel wie noch vor einigen Jahren angenommen.

Die traditionelle Senkrechtbohrung erwies sich als zu teuer und zu ungenau, um die Dolomitschicht mit dem Öl zu erreichen. Doch nach einer Weile fanden die Ölleute heraus, dass sie den Dolomit horizontal, also von der Seite her aufbrechen können. Sobald die horizontale Bohrung angelegt ist, werden Millionen Liter Wasser, mit Sand und diversen Chemikalien versetzt, in das poröse Gestein gepresst, um das Öl absaugen zu können wie Mark aus dem Knochen. Dieser Prozess wird hydraulische Frakturierung oder Fracking genannt. In den USA werden mit dieser Technik bereits riesige Mengen an Öl und Erdgas gefördert. Die größte Industrienation der Welt strebt per Fracking-Boom nach der Energieautarkie. Nach Prognosen der Internationalen Energieagentur könnten die USA bereits 2015 der weltgrößte Erdgasproduzent sein und bis 2017 auch die Spitzenposition bei der Förderung von Erdöl einnehmen. Schon dieses Jahr werden die Amerikaner erstmals mehr Öl im eigenen Land fördern, als sie importieren.

Kritik am Fracking durch Umweltschützer findet hier, anders als in Deutschland, erst langsam Gehör. In den USA herrscht bisher die Einschätzung vor, dass Fracking keine Gefahr für das Grundwasser darstellt, solange es sorgfältig ausgeführt wird. Gesetzliche Regeln gibt es kaum. Die Bush-Regierung hatte im Energiegesetz von 2005 das Fracking sogar ausdrücklich von den Vorschriften des Clean-Water-Gesetzes der US-Umweltschutzbehörde EPA befreit. Die entsprechende Klausel erhielt den Spitznamen „Cheney-Halliburton-Schlupfloch“, weil der damalige Vizepräsident vor seinem Amtsantritt den texanischen Energiekonzern Halliburton geleitet hatte.

Inzwischen wurden jedoch in mehreren US-Bundesstaaten in der Nähe von Fracking-Anlagen Brunnen entdeckt, die mit Chemikalien wie Arsen und Barium verseucht waren. Die meisten Bundesstaaten verlangen deshalb von den Bohrgesellschaften die Offenlegung der verwendeten Chemikalien. Um dies zu umgehen, deklarieren einige Firmen die Stoffe als Geschäftsgeheimnisse.

Sean Dutton hat Früh die Chancen gesehen, die Fracking bietet. Er kam vor mehr als einem Jahr aus Great Falls in Montana nach North Dakota. Der 25-Jährige kannte einen, der sich mit einem Pick-up voller Werkzeug aufgemacht und in Williston ein Geschäft aufgebaut hatte. Der Kumpel stellte Leute aus Montana ein. Heute verdient Dutton mehrere Tausend Dollar in der Woche. Vor kurzem hat er daheim in Great Falls ein Haus für seine Lebensgefährtin und den gemeinsamen sechs Monate alten Sohn gekauft.

Dutton und seine Kollegen reparieren Leitungen und andere marode Anlagen, die der raschen Ausdehnung der Stadt sonst nicht standhalten könnten. Ihr Arbeitsplatz liegt oft genug draußen, in der offenen Steppe. Der Winter in North Dakota kann gnadenlos sein, wenn die Ausrüstung bei Schnee, eisigem Wind und minus 40 Grad schlappmacht.

Duttons blaue Augen und sein blonder Schopf verbergen die Anstrengung. Doch wenn er nach zwölf oder 18 Stunden nach Hause kommt, klingt seine Stimme wie die eines alten Mannes. Er teilt sich ein Wohnmobil mit einem Mitbewohner. Der eine schläft auf einem schmalen Bett, der andere auf der Couch. „Wir gehen rüber und duschen alle in dem anderen Trailer, weil unser Wasser nicht funktioniert.“ 

Die meisten Arbeiter in Williston ackern im Wechsel: zwei bis drei Wochen Dienst, dann eine Woche frei. In ihrer Freizeit fahren oder fliegen die meisten nach Hause, um Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Dutton fährt die sieben Stunden nach Hause, wann immer er kann. Es ist eine anstrengende Fahrt. Aber er will die wenigen Gelegenheiten nutzen, seinen Sohn aufwachsen zu sehen. Und mit dem Geld aus Williston möchte er zugleich der Familie etwas bieten. Dutton will sich ein finanzielles Polster anlegen, einen neuen Pick-up kaufen, und seine Freundin soll auch ein neues Auto bekommen. „Aber so weit sind wir noch nicht“, sagt er. „Wir nennen es den Dreijahresplan.“

Seine Frau und er streiten häufig darüber, dass er so lange weg ist. Er hadert mit dem Stress. „Bier und Whisky helfen manchmal“, sagt er. „Und manchmal machen sie alles noch schlimmer.“ Er würde keinem Menschen raten, nach Williston zu ziehen. „Das hier ist das Arschloch von Amerika.“

Duttons Einsatzorte liegen normalerweise mehrere Meilen von Williston entfernt. Meist kommt er nur zum Einkaufen in die Stadt, dann steht er anderthalb Stunden bei Wal-Mart an der Kasse in der Schlange. Wer einen draufmachen will, muss sich auf ein gewisses Maß an Chaos gefasst machen, sagt Dutton. Ungefähr einmal pro Woche gebe es eine Messerstecherei oder eine Schießerei.

Die beiden Striptease-Klubs der Stadt, das Whispers und das Heartbreakers, dürfen nicht mehr mit Waffen betreten werden. „Einmal kamen wir gerade von der Arbeit, also mussten wir unsere Messer abliefern“, sagt Dutton. „Und da war dieser wirklich dubiose Typ, der packte ungefähr, ich sag mal, sechs Messer aus. Er gab sie ab, und wir dachten: Scheiße, Mann.“

Im Zentrum von Williston beobachtet eine Angestellte der Handelskammer einen Mann in staubigen Arbeitskleidern, der das Büro verlässt. Sie hebt die Augenbrauen, geht zu einem Nebenraum und schließt die Tür ab. Könnte ja einer den Fernseher klauen, sagt sie. Die Angestellte und ihre Kollegin, Lee, wollen ihre Nachnamen nicht veröffentlicht sehen. Eigentlich darf nur ihr Boss mit Journalisten reden. Und der ist diese Woche auf Urlaub.

Wenn Lee von Leuten hört, die mit dem Gedanken spielen, nach Williston zu ziehen, rät sie ihnen stets, sich erst mal nach einer Bleibe umzusehen. In der Stadt leben geschätzte 15.000 Menschen auf Zeit. Eine Dreizimmerwohnung kostet 2200 Dollar Miete im Monat und mehr. Bevor die ersten neuen Hotels eröffnet wurden, wohnten die meisten Zugezogenen in Autos, Zelten und Wohnmobilen. Dann fing die Polizei an, sich die Camper genauer anzuschauen. „Da standen sechs bis sieben Wohnmobile in einem Hinterhof, ans öffentliche Stromnetz gekoppelt, und die Leute pinkelten in die Gasse, und das Ganze wurde zur Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Das haben die dann abgestellt. Zu Recht.“

Lee freut sich auf die Zukunft. Jüngsten Schätzungen zufolge wird die Einwohnerzahl von Williston bis 2017 auf 44.000 steigen. „Es ist doch toll zuzuschauen, wie hier eine echte Stadt heranwächst“, sagt Lee. Die Sorgen hält sie für übertrieben. Die Menschen verbreiteten eben gern Geschichten über Schießereien. Ihr habe der Sheriff neulich geholfen, einen platten Reifen zu wechseln. Solche Geschichten erzähle aber niemand. „Lieber stricken alle am Wildwest-Mythos Williston.“

Auf der anderen Straßenseite, wenige Schritte von der Handelskammer entfernt, befinden sich die Oben-ohne-Bars, wo das Waffenverbot herrscht. Vor ein paar Wochen verloren sie auch noch die Schanklizenz, nachdem ein 28-Jähriger auf dem Parkplatz erschossen worden war. Am anderen Ende der Stadt, in einer Kneipe namens DK’s Lounge and Casino, grölt ein Haufen Jungs in sauberen Jeans und T-Shirts. Sie fotografieren sich mit ihren iPhones. Ein Typ im weißen Hemd, das unter dem Schwarzlicht blau glüht, geht zur Bar und bestellt sechs Wodka Red Bull.„Aber mit Grey Goose!“, verlangt er, also den Premium-Wodka aus Frankreich.

Ein Aushang für das Gericht des Tages ist nirgends zu sehen. Sonderangebote gibt es nicht. Die Kunden, alles junge Männer und Frauen in den Zwanzigern, zahlen bar. Geld haben sie genug. Ein paar Frauen, die Blackjack spielen, werden von einem Schrei abgelenkt. Alle Augen richten sich aufs andere Ende der Kneipe, wo zwei Jungs gerade dabei sind, sich in die Haare zu kriegen. Für den Moment herrscht gespannte Ruhe. Ein Rausschmeißer geht auf die Kampfhähne zu, die setzen ein Lächeln auf – und alle widmen sich wieder ihren Drinks.

Für den Sheriff von Williams County, Scott Busching, gehören Schlägereien in der Innenstadt zur Routine. „Autounfälle beschäftigen uns. Kneipenschlägereien. Häusliche Gewalt. Diebstähle“, sagt er. „Und, natürlich, Alkohol am Steuer.“ Busching berichtet, die Zahl der Verbrechen sei zwar gestiegen, entspreche aber vergleichbaren Landkreisen von 50.000 Einwohnern. Im Sommer, wenn weitere Bohrtürme errichtet werden, muss er vielleicht noch Hilfssherrifs einstellen, aber momentan läuft sein Laden. „Wir können uns behaupten.“

Und die Natur? Die US-Umweltbehörde EPA hat für 2014 die Veröffentlichung einer Studie zu möglichen Auswirkungen von Fracking auf Wasserquellen angekündigt. Der Bundesstaat New York hat bis dahin ein Moratorium gegen Fracking-Projekte verhängt. In North Dakota dagegen wurde bekannt, dass einer der Kandidaten für den Senatssitz des Bundesstaats, Rick Berg, beträchtliche Spenden von Ölfirmen bekam. Er war schon immer ein Verfechter von Ölinteressen. Gewonnen hat er den Senatssitz nicht.

Ryan Frey, der Ingenieur, der nicht als Fliegenfischer alt werden wollte, hat keine Bedenken. Das Fracking in North Dakota werde nicht so nah an Grundwasser vorkommen, dass man sich Sorgen machen müsse. „Zu anderen Gegenden kann ich nichts sagen“, sagt er. „Aber ich hoffe doch, dass die schlau genug sind, so etwas zu verhindern.“

Mit zwei Joghurtbechern in der Hand schlurft Frey über den staubigen Kies zurück zu seinem Lager. Derweil biegt ein leuchtend weißer Bus auf den Parkplatz hinter ihm ein, bereit, eine neue Ladung Arbeiter hinaus in die Nacht zu befördern.


Fracking in Deutschland
 
Fracking, bei dem zur Öl- und Gasgewinnung Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem Druck in tiefe Gesteinsschichten gepresst werden, ist in Deutschland kaum geregelt. Gesetzentwürfe der schwarz-gelben Bundesregierung trafen auf Widerstand. Umweltverbände, aber auch Deutschlands Bierbrauer fürchten eine Verunreinigung des Wassers. Nicht nur SPD und Grüne, sondern auch Unionspolitiker fordern Fracking-Verbote. Sie fürchten das Thema im Bundestagswahlkampf. Bürgerinitiativen planen für den 31. August sogar einen Anti-Fracking-Tag. 

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