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() Wer wird der Nachfolger Ägyptens Herrschers Hosni Mubarak?
Ägypten: Der schlafende Riese am Nil erwacht
Ägypten ist in Aufruhr. Der kranke Präsident Hosni Mubarak und seine Nationaldemokratische Partei haben die Lage in dem Land am Nil nicht mehr unter Kontrolle. In der Januar Ausgabe des Magazin Cicero erschien dieser Artikel, der über die Hintergründe der aktuellen Ereignisse aufklärt.
Die Gebäude rund um den Midan Talaat Harb in Kairos alter Stadtmitte Wust al Balad erinnern an Paris, ein wenig auch an Buenos Aires. Die besten Architekten Europas haben sie vor mehr als hundert Jahren gebaut. Europäische Geschäftsleute haben hier gewohnt, britische Offiziere sowie die intellektuelle und künstlerische Elite Ägyptens. Im Jahre 1956 mussten die Europäer auf Anordnung von Staatspräsident Gamal Abdel Nasser das Land verlassen, geblieben ist der innerägyptische politische Diskurs in den traditionellen Etablissements.
Im Café Riche etwa, in dem einst Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus Hof hielt, treffen sich Journalisten und Künstler zum Freitagsstammtisch. Im legendären Restaurant Estoril wird nicht nur am Tisch des 89-jährigen Mursi Saad el Din, Starkolumnist und einstiger Sprecher von Präsident Anwar al Sadat, heftig diskutiert, sondern auch an der gut ausgestatteten Bar. Im mondänen Automobilclub trifft sich die ägyptische Upperclass, und im Griechischen Club über dem einst weltberühmten Café Groppi geben sich einheimische Politikanalysten mit Korrespondenten und internationalen Investoren ein Stelldichein.
Dabei ist derzeit weniger das Ergebnis der Parlamentswahl vom 28. November ein Thema. Das stand ohnehin von vornherein fest, und so waren wegen massiver Behinderung der oppositionellen Parteien – allen voran der „unabhängigen“ Kandidaten der Moslembruderschaft – auch keine Überraschungen zu erwarten. Die Frage, die derzeit alle bewegt, ist vielmehr die der Nachfolge des 82-jährigen, schwer kranken Hosni Mubarak, der das Land seit 29 Jahren mit straffer Hand führt. Mursi Saad el Din, für viele so etwas wie das intellektuelle Gewissen Ägyptens, lässt keinen Zweifel daran, dass er in Gamal Mubarak, dem Sohn des derzeitigen Präsidenten, „einen Garanten für eine wünschenswerte Kontinuität“ sieht. Auf keinen Fall hält er, der als junger Diplomat ein Anhänger der bis 1952 regierenden Wafd-Partei war, den Zeitpunkt für eine Demokratisierung gekommen. Mursi Saad el Din spricht aus, was mancher im Estoril kaum zu denken wagt: „Wir wollen Demokratie, und gleichzeitig wollen wir die Moslembrüder nicht. So bevorzugen wir Intellektuellen bis zu einem gewissen Maß die Diktatur, um zu verhindern, dass die Fundamentalisten in die Regierung kommen.“ Mit dieser Haltung hat er viele seiner liberalen Freunde tief enttäuscht. Einer von ihnen ist der Bestsellerautor Alla al Aswani. „Die Rolle und die Bedeutung der Moslembrüder werden überschätzt“, erklärt er, „allerdings brauchen wir, um den Fanatismus los zu werden, dringend Demokratie. Ich bin davon überzeugt, dass die Fanatiker in einer Diktatur immer sehr viel stärkeren Zulauf haben.“
Abdel-Halim Qandil, impulsiver Chefredakteur der Oppositionszeitung Saut al Umma und Sprecher der überparteilichen Protestbewegung Kifaya („Es ist genug!“), sieht die aktuellen Probleme Ägyptens offenbar weniger in einer wachsenden Islamisierung. „Wir erleben die schlimmste Ära Ägyptens seit der Zeit der Pharaonen“, schimpft Qandil und stellt der Präsidentschaft Mubaraks ein verheerendes Zeugnis aus: Mehr als die Hälfte der Ägypter müsse mittlerweile von weniger als zwei Dollar am Tag leben, und das bei steigenden Preisen; das staatliche Bildungssystem sei längst ebenso kollabiert wie das Verkehrswesen, und nur eine Armee von zwei Millionen Sicherheitskräften könne die öffentliche Ordnung noch aufrechterhalten. Eine „Kontinuität dieser Verhältnisse“, sagt Qandil, „wäre für das Land eine Katastrophe. Das Volk will Gamal Mubarak nicht.“
Wer aber steht hinter dem Präsidentensohn, der seit Jahren immer wieder als Nachfolger seines Vaters genannt wird? Es sind vor allem die Befürworter eines schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus – also viele der in den vergangenen Jahren zu großem Reichtum gekommenen Wirtschaftsmagnaten, die am Nil längst eine eigene Kaste bilden. Seither spricht man in Ägypten den Begriff „Parallelgesellschaft“ nur im Plural aus.
War in der Vergangenheit damit ausschließlich das Nebeneinander von islamischer und säkularer Gesellschaft gemeint, so benennt der Begriff mittlerweile auch die Existenz einer kleinen superreichen Oberschicht. Diese ägyptische Upperclass baut sich in die Wüste eigene Stadtviertel mit Villen, die eher an amerikanische Westküstenstädte erinnern und auch so heißen – etwa Beverly Hills. Deren Bewohner schicken ihre Kinder auf exklusive Privatschulen und eigens eingerichtete Universitäten oder zum Studieren ins Ausland. Die meisten der neureichen Multimillionäre lassen jegliche soziale Verantwortung vermissen. Nur unzureichend kommen sie der Sadaqa nach, jener freiwillig zu leistenden Armensteuer, die jedem Moslem als eine der fünf Säulen seines Glaubens auferlegt ist. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die koptisch-christliche Familie Sawiris, die es als Bauunternehmer und Mobilfunkanbieter zu einem Vermögen gebracht hat, das 40 Prozent der Marktkapitalisierung der ägyptischen Börse ausmacht. Im Kairoer Stadtbezirk Haram City baute Samih Sawiris 50000 Wohnungen für einkommensschwache Familien. Dessen Bruder Nagib, der mit einem geschätzten Vermögen von rund 13 Milliarden Dollar als reichster Mann Afrikas gilt, ist soeben demonstrativ der oppositionellen Wafd-Partei beigetreten, ohne jedoch Ambitionen als aktiver Politiker zu haben.
An der Spitze derer aber, die das Ziel verfolgen, Gamal Mubarak zum Staatsoberhaupt zu machen, steht der Stahl-Tycoon Ahmad Ezz, der als Strippenzieher im Hintergrund agiert. In der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) ist er der Leiter der Parteiorganisation, und als solcher hat er gute Kontakte bis in die kleinsten Gliederungen im ganzen Land. Dem kleinen Mann mit dem auffällig großen Kopf waren lange selbst Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt worden. Mit einem letztlich gescheiterten Gesetzesentwurf, der den freien internationalen Handel mit ägyptischen Kulturgütern erlauben sollte, hatte er sich bei den Traditionalisten in den eigenen Reihen in die Nesseln gesetzt. Seither agiert Ahmad Ezz als graue Eminenz und protegiert weniger den Präsidentensohn als vielmehr den langjährigen Investmentbanker Gamal Mubarak.
Unter den Mitgliedern des feudalen Automobilclubs aber gibt es keineswegs nur Befürworter seiner Kandidatur – nicht einmal unter allen einflussreichen Mitgliedern der NDP. Längst ist es parteiintern zu einem teils versteckten, teils offenen Kampf zwischen der wirtschaftsliberalen „neuen Garde“ à la Ahmad Ezz und der staatsorientierten „alten Garde“ gekommen. Letztere wird etwa repräsentiert durch den Stabschef des Präsidialamts Zakaria Azmi, der seinen Parteikollegen vom anderen Flügel im Parlament schon mal Habsucht und mangelnde nationale Verantwortung vorwirft. Seinem Einfluss wird es zugeschrieben, dass auf dem Parteikongress im September 2009 wieder weitaus mehr Vertreter der „alten Garde“ vertreten waren als in den Jahren zuvor.
Glaubt man Ahmed G. (der vollständige Name ist der Redaktion bekannt), einem politischen Analysten, der internationale politische Stiftungen berät, hätte Gamal Mubarak im Parlament derzeit nicht einmal die Hälfte der NDP-Abgeordneten hinter sich. „Seine vermutlich einzige Chance, an die Macht zu kommen“, erklärt er einer Gruppe von Journalisten auf der Terrasse des Griechischen Clubs, „wäre, wenn der Präsident einen Rücktritt mit der Forderung verbindet, dass Gamal seine Nachfolge antritt.“
Danach aber sieht es derzeit nicht aus. Noch im vergangenen Jahr hat Hosni Mubarak vor dem Parlament seine Bereitschaft erklärt, bis zum letzten Atemzug im Amt zu bleiben. Würde er seinen Sohn als Nachfolger favorisieren, hätte er ihn zum Vizepräsidenten ernennen können. Im Falle seines Ablebens würde Gamal Mubarak dann automatisch seinem Vater nachfolgen, wie auch dieser nach dem Sadat-Attentat 1981 auf dem Ticket des Vizepräsidenten ins Amt gelangt war. Seither aber ist dieser Posten in Ägypten vakant. Stattdessen lässt Hosni Mubarak Spekulationen über Ambitionen seines Sohnes auf den Präsidentenstuhl unter Strafe stellen.
Steckt dahinter, wie viele der Analysten am Midan Talaat Harb vermuten, ein sentimentales Verhältnis Mubaraks zur alten Garde, die zu großen Teilen aus ehemaligen Offizieren besteht? Tatsächlich könnte es sich für Mubaraks Sohn als Nachteil erweisen, weder aus der Armee zu kommen noch in ihr vernetzt zu sein. Wenn nämlich der ägyptische Präsident im Amt verstirbt, ohne einen Vizepräsidenten ernannt zu haben, wird die Armee eine stabilisierende Rolle spielen – auch wenn laut Artikel 84 der ägyptischen Verfassung zunächst der Sprecher des Parlaments für maximal sechs Monate das Präsidentenamt interimsmäßig übernimmt. Bis zum Urnengang dürfte sich dann der fast drei Jahrzehnte in Partei und Staat unter dem Deckel gehaltene Dampf entladen und den Mubarak-Filius hinweggespült haben. Und da der Interimspräsident – wie auch der Ministerpräsident – nicht für das Präsidentenamt kandidieren darf, werden für diesen Fall längst andere Namen durchgespielt. Gamal Mubarak jedenfalls, da ist sich die intellektuelle Szene einig, hätte dann keine Chance mehr.
„Wenn Mubarak senior stirbt, wird das Volk auf den Straßen tanzen!“, prognostiziert Abdel-Halim Qandil. Selbst wenn die Freudenfeiern ausbleiben sollten, wäre dies die Stunde der Armee und des mächtigen Geheimdiensts „Mabahith Amn al Dawla“. Damit käme ein Mann ins Spiel, der dieser Behörde seit 1993 vorsteht und der in der jüngeren Vergangenheit immer wieder als möglicher Mubarak-Nachfolger genannt worden ist: Omar Soleiman. Was den ehemaligen Generalleutnant der Luftwaffe für viele der Intellektuellen geeignet erscheinen lässt, ist einerseits seine überparteiliche Unabhängigkeit und andererseits der Umstand, dass mit ihm bislang keine Korruptionsgerüchte in Verbindung gebracht wurden. Ein ägyptisches Novum! Außenpolitisch würde ein Präsident Omar Soleiman den Kurs gegenüber den USA und Israel fortsetzen. Was aber wäre von ihm innenpolitisch zu erwarten? Sicher keine Hinwendung zu mehr Pluralismus und demokratischen Freiheiten. Die „neue Garde“ der NDP betrachtet ihn mit Skepsis, weil man bei dem Geheimdienstler zu wenig Wirtschaftskompetenz vermutet. Die „alte Garde“ hingegen schätzt an Omar Soleiman, dass er Gamal Mubarak endgültig aus dem Feld schlagen könnte. Im Übrigen wäre er nur ein Übergangspräsident, denn auch Omar Soleiman ist bereits 75 Jahre alt. Während einer Amtsperiode von sechs Jahren aber könnte innerhalb der NDP, was bisher augenscheinlich versäumt wurde, ein Vertreter der jungen Generation aufgebaut werden, der eine Vision entwickelt, wie die zerstrittenen Parteiflügel wieder zusammenzubringen sind. „Wenn diese Suche nicht längst im Verborgenen geschieht und uns plötzlich ein völlig Unbekannter präsentiert wird“, unkt Mursi Saad el Din mit verschmitztem Lächeln. „Schließlich kannten wir auch Gamal Abdel Nasser nicht, ehe er die Bildfläche der Geschichte betrat.“
Desillusioniert blicken derzeit jene in die Zukunft, die den Begriff Liberalismus nicht auf unreguliertes kapitalistisches Wirtschaftsgeschehen reduziert sehen wollen. Bei der letzten Präsidentenwahl am 7. September 2005 stand immerhin noch Ayman Nour (damals 41) zur Wahl. Zwar war auch der Chef der kurz zuvor gegründeten liberal-demokratischen Partei El Ghad („Der Tag“) gegen Amtsinhaber Mubarak von Anfang an chancenlos, doch das für ägyptische Verhältnisse überraschend gute Wahlergebnis von 7,57 Prozent ließ Hoffnungen entstehen – die kurz danach in sich zusammenfielen. Wegen angeblich gefälschter Unterlagen im Zusammenhang mit der Parteigründung verlor Ayman Nour seine parlamentarische Immunität und wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach Intervention der Obama-Regierung im vergangenen Jahr vorzeitig aus der Haft entlassen, fand Nour eine in Spaltung begriffene Partei vor und seine durch einen Brandanschlag verwüstete Rechtsanwaltskanzlei. Trotz eines fünfjährigen politischen Betätigungsverbots kündigte Ayman Nour an, er wolle erneut als Präsidentschaftskandidat antreten. Ein Ansinnen, das niemand ernst nimmt, da er sicher gar nicht erst als Kandidat zugelassen würde. Aus dem Hoffnungsträger von einst ist eine tragische Figur geworden.
„Für einen Wimpernschlag der Geschichte war auch Mohammed el Baradei so etwas wie ein Hoffnungsträger“, referiert Ahmed G., „ehe er Fehler machte, die nur jemand begeht, der die ägyptische Innenpolitik jahrelang ausschließlich durch die Lektüre ausländischer Zeitungen verfolgt.“ Der Mann, der der Welt im Vorfeld des Irakkriegs als Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde bekannt geworden war, ist nach Ablauf seiner Amtszeit im November 2009 in seine ägyptische Heimat zurückgekehrt. Dort strebte el Baradei ein möglichst breites Oppositionsbündnis mit dem Ziel einer volksweiten Kampagne für eine repräsentative Demokratie an. Intellektuelle wie Alla al Aswani stellten sich zur Verfügung, oppositionelle Zeitungen druckten seine Forderungen. Dann aber suchte el Baradei Gespräche mit den Moslembrüdern und geriet dabei zwischen die Fronten. Schnell machte ihm der Kopf der islamischen Organisation, Muhammad Mahdi Akif, klar, dass die Moslembruderschaft im Kampf um gesellschaftliche Veränderungen des Landes eine Führungsrolle beansprucht. Andererseits war es Mohammed el Baradeis vorübergehenden Anhängern nicht einsichtig, weshalb er demokratische Reformen ausgerechnet im Schulterschluss mit jenen zu erreichen sucht, deren erklärtes Ziel eine islamische Republik auf der Rechtsgrundlage der Scharia ist. „Selbst wenn die kommende Präsidentenwahl unter wahrhaft demokratischen Verhältnissen ablaufen würde“, ist Ahmed G. sicher, „bekäme el Baradei keine 5 Prozent der Stimmen.“
Und die Moslembruderschaft? Wird es ihr gelingen, trotz offiziellen Verbots der Organisation, einen unabhängigen Kandidaten ins Rennen zu schicken? „Um sich auf einen Präsidentschaftskandidaten zu einigen, bräuchten sie einerseits eine charismatische Lichtgestalt“, erklärt der Politanalyst, „und andererseits tagespolitische Ziele. Beides fehlt ihnen – noch!“
Kurioserweise also hat die einzige nennenswerte politische Kraft, die strategisch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auf ihre Fahne geschrieben hat, derzeit kein taktisches Programm, um dieses Ziel zu erreichen. Denjenigen aber – ob Gamal Mubarak oder Omar Soleiman –, die aktuell Aussichten auf das höchste Staatsamt haben, fehlt jegliche Vision, um die dringenden innenpolitischen Probleme Ägyptens anzugehen. Der Historiker und Verleger Maged Farag bezeichnete sein Land einmal als einen „schlafenden Riesen“, der bald erwachen wird. Doch auf die Frage, wer ihn aus dem Schlaf reißen wird, hat weder er noch irgendein anderer Teilnehmer der illustren Runden am Midan Talaat Harb eine Antwort.
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